FORVM, No. 205/206
Januar
1971

Abschied von der Blödheit

Eine Selbstdarstellung

Die nachfolgende Selbstdarstellung einer linken Gruppe in Wien scheint mir ein faszinierendes Zeichen der Zeit, ein Dokument, das kompletten Abdruck verdient. Es stammt aus der Zeitschrift „Nachrichten für Unzufriedene“, produziert von dieser Gruppe. Bestellungen an: Jakob Myttheis, Wien VI, Theobaldgasse 15/5, Tel. 57 59 342.

ACH, IST DAS EIN KLEINES, SÜSSES DICKERCHEN. Was, fünf Kilo, nicht zu glauben. Na du, kille, kille, kille, kille. Die ersten Lebensjahre verbrachte ich im Paradies. Wiesen, Blumen, Schmetterlinge, Omas, die, wie Feen über duftende Wälder schwebend, Märchen erzählen — was für eine romantische, paradiesische, ausgeglichene, freundliche Welt. Im Gras auf dem Rücken liegend, die weißen Wolken am blauen Himmel. „Das arme Bienchen hat sich das Füßchen verknackst.“ Geburtstagstorte, strahlender Christbaum.

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Alle sind Kommunisten. Sie halten untereinander fest zusammen. Ein Igel, der seine Stacheln gegen die feindliche Umwelt gekehrt hat.

Und auf dem rosigen Bauch dieses Igels sitze ich, lutsche Daumen und fühle mich wohl. Ich habe mir eine Phantasiewelt aufgebaut. Die Wirklichkeit kenne ich nicht, man hält sie von mir ab.

Kennt ihr die herrlichen Jugendbücher? Freibeuter auf tintenschwarzen Meeren, Heldenkampf der Indianer in den weiten Prärien gegen den weißen Eroberer. Alle Menschen sind gleich, heißt es da, von Heldenmut ist da die Rede, von sternenklaren Nächten im Norden Alaskas, von Großherzigkeit, von Mut und Liebe, vom Kampf für die Armen und Schwachen.

Habt ihr nie Robin Hood gespielt, in den Parks oder in den verwilderten Gärten in eurer Nachbarschaft?

„MUTTI, WAS HEISST DAS, PUDERN?“ habe ich mit sechs Jahren gefragt. Und meine Mutter hat mir das erklärt; wenn sich zwei Menschen gern haben, dann schlafen sie miteinander, das ist ein sehr schönes Gefühl. Ich hatte Glück, ich durfte sogar ungestört wixen. Man stellte mich nicht unter die kalte Dusche, und man plapperte mir nichts vor von Rückenmarkschädigungen vom zuviel Onanieren. Meine Eltern waren fortschrittlich.

Alles war Wonne, seliges Schaukeln in harmonischen Träumen.

In der Mittelschule erwachte ich. Ich lernte ein Stück Wirklichkeit kennen. Staubig, eng, finster, häßliche Lehrer mit verbeulten Gesichtern, die sich aufspielten. Wo waren die Helden aus den Jugendbüchern, wo war die Weitherzigkeit? Man wurde bestraft, hundertmal schreiben: „In der Mittelschule muß man brav und artig sein.“ Ich habe mir die Professoren immer nackt vorgestellt. Mathematik, Latein, Geschichte, ich hatte andere Probleme. Ich schrieb Spottgedichte über sie und ließ sie von Klassenkameraden ans schwarze Brett hängen. In der Vierten gab es einen Skandal, weil man mich beim Verteilen von Pornophotos erwischte. Ausgerechnet der Direktor. „Gefällt Ihnen das nicht?“ fragte ich. Die Hefte lagen noch ein halbes Jahr in seiner Schreibtischlade, und die Herren Professoren verschwanden sehr oft in seinem Büro.

MIT FÜNFZEHN GING ICH VON DER SCHULE WEG. Das war eine komische Zeit. Am Nachmittag heulte ich wie ein Schoßhund, nur wegen einer kleinen alten Schaffnerin mit bandagierten Füßen, die ich jeden Tag bei der Heimfahrt zu Gesicht bekam. Ich stellte mir vor, die alte, dumme, kleine Schaffnerin, wie ein Hündchen, ein Leben lang Fahrkahrten zwicken. Ich konnte mir gut ihren Mann vorstellen, das kurze Knarren im Bett einmal in 14 Tagen, der Sauerkrautgeruch in der engen Gemeindewohnung — es war zum Heulen und Kotzen.

Und am Abend. Ich sprach nicht mehr mit meinen Eltern, ich konnte sie nicht mehr ausstehen in ihrer Normalheit, ihrer Unterwürfigkeit, ihren kleinen, dummen Gesprächen. Ein Leben ohne Ausweg, das es sich nicht zu leben lohnt. NEIN, ICH WILL NICHT SO WERDEN WIE MEIN VATER.

Magengeschwüre und Fernseher, Spondylarthrose und Einbauküche.

„Wenn du noch einmal über Nacht wegbleibst, stecke ich dich in ein Erziehungsheim.“

„Du kannst gleich jetzt die Polizei anrufen. Ich bin nicht euer Eigentum, so wie euer Fernseher oder euer Fiat 1100, ich bin ein freier Mensch, der selbst über sein Leben bestimmen kann. Wenn ich in ein Erziehungsheim komme, dann breche ich aus, das weißt du. Und dann werde ich zum Verbrecher. Und du, nur du, wirst dann schuld sein.“

Er schlägt mich mit der Faust ins Gesicht. Zum erstenmal. Ich kann einstecken, ich lache ihn an. Er geht im Schnee spazieren und weint.

ICH GEHE IN „GUTEM“ EINVERNEHMEN VON MEINEN ELTERN WEG und ziehe zu einem neunzehnjährigen Mädchen. Das klappte ein halbes Jahr. Sie ist Ungarin.

... — Ich liebe dich.

Mein Leben hat einen Sinn, ich habe ein Ziel, hurrah, ich habe gefunden, was ich suche. Ich halte es in der Hand, es ist weich und zart, mit langen Beinen. Man hat es jeden Abend, und es wird immer besser. Zitternde Schenkel auf weißem Leinen, meine Schenkelchen, mein Mädchen. Die Zähne mit Odol geputzt, nur ja kein Mundgeruch. Geh weg, du „Garstiger“, du schaust ihr viel zu lange in die schwarzbraunen Augen. Das darfst du nicht, das sind meine Augen.

WIR WOLLEN UNS VERLOBEN, JA? Wenn du ein Kind bekommst, ich bin bereit. Ich werde eine Familie gründen, wir werden auf eine Wohnung sparen. Wie süß meine, eh, deine kleinen Brüste sind. Schatz.

In dieser Zeit kam ich an die Akademie, studierte Operngesang, lernte einflußreiche Persönlichkeiten kennen, hole meine guten Manieren wieder hervor. Geld verdienen für mein Mädel. Verlobungsringe kaufen. Auch die Beziehung mit meinen Eltern bessert sich. ABER DIE LUFT, ICH KRIEGE KEINE LUFT, HILFE, ICH ERSTICKE. Nehmt mir doch das Ding vom Hals weg, ich halt das nicht mehr aus.

Katja, merkst du nicht, daß du mich lähmst? Zwei Stürzende können keinen Halt aneinander finden. Zwei Blinde können sich nicht den richtigen Weg zeigen.

Ich mache Schluß, Schluß mit den homosexuellen Lehrern und den Intrigen an der Akademie, Schluß mit dem armen, lieben Ungarmädel, Schluß mit allem, was mich mit der allgemeinen Scheiße versöhnen könnte.

ICH BRECHE MIT ALLEM.

Warum kann man in dieser Scheißgesellschaft nicht glücklich sein?

Pfhh, das war knapp, gerade noch einmal davongekommen.

1. Mai 1968. Ringstraße. Die Kommunisten marschieren. Das Spalier ist dünn, die Sprechchöre brüchig. Die meisten Kommunisten alt. Sie hatschen. Man hat das Gefühl, sie schämen sich, Kommunisten zu sein. Jeder zehnte ist unter 40 Jahre. Ich habe mit meinen Eltern gestritten, ich wollte nicht mitgehen. Immer dasselbe Theater. Ich geh lieber ins Kino.

Auf halbem Weg drückt mir jemand ein Flugblatt in die Hand. Demonstration der Neuen Linken gegen die Entlassung der Elin-Arbeiter. Treffpunkt Maria-Theresia-Denkmal.

Ich bin dort. Lauter Jugendliche. So viele Jugendliche auf einem Platz habe ich noch nie gesehen. Sie sitzen lässig auf dem Denkmal, klasse Mädchen, rote Fahnen. Jemand spricht durch ein Megaphon, man versteht ihn schlecht. Er hat rote Haare und heißt Genner, sagt mir ein Mädchen. Dann setzen wir uns in Trab, zirka tausend Meter, formieren uns, hängen uns ein, laufen mitten auf dem Ring. Ich bin in der zweiten Reihe. „Klassenkampf, Klassenkampf.“ Mein Körper beginnt zu fiebern. Tausend dampfende Körper, tausend Kehlen.

Vor der Stephanskirche löst sich die Demonstration auf.

In einer halben Stunde am Rathausplatz.

Am Rathausplatz spricht Bürgermeister Marek, Trachtenkapellen spielen.

Wir stellen uns vor die Ehrentribüne. Wollen diskutieren. Warum entläßt man Hunderte Arbeiter? fragen wir. Sie fordern uns auf, den Platz zu verlassen, sonst kommt die Polizei. Wir tanzen. Dann kommen sie. Polizeischüler unterm Stahlhelm. Wir hängen uns ein, Ketten, angespannte Muskeln. Wir singen die Internationale, etwas feierlich. Vor der Schlacht, dann sind sie da, die Ketten reißen wie die Brezeln. Die Polizisten treten, schlagen, vor allem Mädchen, einige Demonstranten werden verhaftet. Ein Mädchen kriegt einen Schreikrampf. Auch Polizisten sind verletzt. Ich hab damit natürlich nichts zu tun, Herr Staatsanwalt.

Das war meine erste Begegnung mit der Linken.

ICH WOLLTE IMMER SCHON MIT EINEM LINKEN MÄDCHEN VÖGELN. Bis jetzt war ich immer nur mit kleinbürgerlichen Mädchen im Bett. Was für eine Auswahl, Lederröckchen, Strumpfhosen in allen Farben. Wenn sie sich beim Sprechen vorbeugt, ja, so. Ah ... Man weiß nicht, soll man zuhören oder hinschauen?

Spielt ja keine Rolle, daß ich ihre Sprache nicht verstehe, nur ja keine Blößen geben, lieber fünfzig Schilling schnorren, ein Fremdwörterbuch kaufen und auswendig lernen. Es braucht alles seine Zeit, bis man eine Fremdsprache beherrscht.

Die Arbeiter sind integriert, mit denen kann man nichts anfangen.

Moment, integriert. I, g, h, i, i, i, i, integriert, ja das ist es: sich in etwas eingliedern, einfügen.

Ich kaufe mir Bücher. In denen steht, daß die Arbeiter ausgebeutet werden, daß es Klassen gibt, die Arbeiter und die Unternehmer, und daß die Arbeiter für die Unternehmer arbeiten. Polizei, Gerichte, Bundesheer, Schuldirektoren, heißt es da, sind dazu da, die Herrschenden an der Macht zu halten und zu schützen. Das ist einleuchtend.

Aber warum sagen dann die Studenten, daß man die Arbeiter nicht braucht? Werden sie nicht später einmal selbst Arbeiter sein?

Sie reden zuviel, und entfalten sie nach einem Kilometer Theorie endlich einmal einen kleinen Zentimeter Praxis, dann werden sie regelmäßig von den faschistischen Studenten verhaut.

Warum schlagt ihr nicht zurück?

Weil wir zeigen wollen, wie gefährlich und brutal der Faschismus ist.

Heilige Mutter Gottes, hilf den armen Kranken und Schwachen.

Aber es gibt keine heilige Mutter Gottes, und so werden sie immer wieder verprügelt.

Wenn er dich auf die linke Backe schlägt, so biete ihm die rechte.

Und sonst? Ich bin schon ein halbes Jahr bei der Gruppe, und es werden immer weniger. Nur die allergrößten „Redner und Theoretiker“ sind geblieben. Sie spielen Privatleben wie die Mummelgreise. Endlose Zweierbeziehungen. Man ist ja schon zufrieden, wenn man regelmäßig einen Fick hat. Eine Clique, vor der du stehst, wie die Kuh vorm Tor.

Eine feste Burg ist unsere Clique. Wozu sollen wir nach außen arbeiten? Nur keine Kontakte, nur nichts riskieren. Überall gibt es Fallgruben, man kann stolpern, hineinfallen und sich weh tun. Lieber zu Hause sitzen, gescheit reden und Degenhartplatten hören, vom Kampf und von Che Guevara.

Heute redet man über die sexuellen Probleme, morgen übers Rheuma.

Lieber ein warmes Bett als kalte Solidarität. Arme, kleine Linke, euer Engagement kann ja nur verhutzelt, eure Solidarität nur kalt sein. Besser ihr seid so, wie ihr seid. Das ist viel aufrichtiger.

DANN WAR ES MIR ZU BUNT. Ich habe die alten Ehepaare aus dem langweiligen Beischlaf aufgeschreckt. Dreier- und Zweierbeziehungen durchbrochen, und der Skandal war fertig. Ich wollte immer mit linken Mädchen schlafen, aber verdammt, man merkte keinen Unterschied. Nur die Freunde, sie waren vielleicht noch eifersüchtiger.

Ich hatte endgültig genug. Was mich vielleicht am meisten ärgerte, war die Unfähigkeit dieser Leute, etwas an dieser Scheiße zu ändern. Alles, was sich änderte, waren sie selbst. Sie wurden zu Silhouetten, die Hasch rauchten oder Opium spritzten, sich einlullten, die im Saft ihrer eigenen Probleme schmorten. Ihr wart unfähig, ungefährlich, ihr habt ihnen nicht weh getan, unseren Feinden. Und ich hatte doch so viele Hoffnungen in euch gesetzt.

Einmal wollte ich es noch probieren. Ich gründete mit einem anderen den Arbeitskreis „Proletariat“. Als bei der ersten Versammlung nur „Dattergreise“ erschienen, stand mein Entschluß fest.

WEG VON DIESEM SCHEISSLAND.

Ich wollte nach New York, zu einem Straßentheater, das in den Slums für die Neger spielte.

Bei der zweiten Versammlung waren zwei Neue. Ich spreche mit ihnen. Was ich gespürt habe, stellt sich als richtig heraus. Sie sind genauso angefressen wie ich, aber sie sehen einen Weg.

Zwei Freunde — nein, ich meine, das gibt’s doch nicht. Zwei, die mir vor einer Stunde noch fremd waren. Ich kenne mich in ihnen wieder. Es ist eine tausendjährige Freundschaft. Eine Freundschaft, die nur besteht, weil sie sich auflehnt, eine Freundschaft, die zu einem Schwert wird oder zu einer Kugel, die selbst unverwundbar ist. In wieviel Tausenden vor uns hat sie gelebt und in wieviel Tausenden nach uns wird sie weiterleben? Und doch ist sie so selten und so schwer zu finden, daß viele ein Leben lang nach ihr suchten und starben, ohne gelebt zu haben.

Wenn jemand den Freund angreift, greift er dich an.

Es ist das Ende und der Anfang. Das Ende einer taumelnden, verzweifelten Suche und der Anfang eines gemeinsamen Kampfes. Drei wilde Tiere, die sich in derselben Situation befinden. Es gibt nichts, was der eine nicht für den anderen zu geben bereit wäre.

Wir haben zwei Tage und zwei Nächte gesprochen. Wir haben dann den Beschluß gefaßt, nicht zu flüchten, nach New York oder sonstwohin, sondern die Scheiße, in der wir gemeinsam steckten, wegzuschaffen, etwas aufzubauen, hier, gemeinsam, wir haben beschlossen zu leben.

WOHIN? ICH WEISS ES NICHT.
WIE — DAS WIRD SICH ZEIGEN.

ALSO LOS.

Jetzt, zwei Jahre später, weiß ich es, wohin. Wir haben uns hineingestürzt, wir sind Amok gelaufen, wir haben uns den Schädel angerannt, wir haben unsere Erfahrungen gesammelt. Wir haben den Misthaufen in Österreich umgerührt. Überall, wo Schweinereien passiert sind, überall, wo Leute wie du und ich in Bedrängnis waren, sich nicht mehr helfen konnten, haben wir versucht, ihnen weiterzuhelfen. Denn wir haben erkannt, daß jedes Problem auch unser Problem ist. Und jeder Sieg war ein Sieg für uns alle, auch für dich.

ÜBERALL AUF DER WELT HABEN LEUTE WIE WIR DEN KAMPF AUFGENOMMEN! Sie sind offiziell Ärzte, Lehrer, Arbeiter, Studenten, aber sie haben mit allem gebrochen. Sie sind es, die in den ausgebeuteten Kolonien wie Schlangen ihre Giftzähne in die Krampfadern ihrer Kolonialherren schlagen. Sie sind es, die auf den Barrikaden von Paris ihren Haß in Pflastersteine und Molotowcocktails verwandeln. Wie viele von ihnen stehen auf den Vermißtenlisten. Giftgas, Offensivgranaten. Ja, diese Leute rechnen mit allem; ihre Feinde sind überall die gleichen: die Reichen, die Fabriksbesitzer, die Crème der Gesellschaft. Was sind hundert Guerilleros gegen das Brillantenkollier von Lady Ford. Die Greise, die Mumien in aller Welt, die sich auf ihre Krücken, die Armee, die Polizei, ihre Gesetze, ihre Richter stützen: das sind ihre Feinde. Die Mittel des Kampfes sind verschieden. Der Klassenkampf ist offen oder verschleiert, aber er ist da.

Und die Genossen in aller Welt — in den Dschungeln Angolas, in den Städten Uruguays, in den Gefängnissen in Brasilien, in Frankreich und Italien, sie sind selbst schon Teil einer neuen zu erkämpfenden, noch aufzubauenden freien Gesellschaft. Mit neuen Menschen, mit neuen Gedanken, ohne Chefs — unsere Gesellschaft. DIE KRÜCKEN DER GREISE WACKELN.

WIR WISSEN JETZT, WOHIN.
UND AUCH WIE, WISSEN WIR.

In diesen zwei Jahren haben wir einige Probleme in Österreich kennengelernt.

Lest im Leitartikel von unserem Kampf für die Selbstverwaltung in den Erziehungsheimen, von den Jugendkonzentrationslagern, von den Schlägern in Kaiserebersdorf, von den Lehrlingsschindern, von der Staatspolizei, unseren speziellen Freunden, vom NDP-Würmchen und von den Nazis im Staatsapparat.

Und wie schaut es aus mit der Grundlage unserer Gesellschaft, mit der Wirtschaft? Die verstaatlichte Industrie, die die Arbeiter aufgebaut haben? Die ÖVP hat ein Gesetz gemacht, das ÖIG-Gesetz. Aus der Kontrolle des Staates fallen die Betriebe in die dicken Schweißhände unserer kleinen, unfähigen Unternehmer. Sie haben sich den fetten Brocken geholt, jetzt können sie ungestört unsere besten Betriebe ans Ausland verkaufen. Wir haben vorigen Oktober dagegen eine Kampagne geführt. Wir haben den Siemens-Pavillon auf der Wiener Messe und das Dach vom Raxwerk besetzt.

WIR WAREN ALLEIN. Wir waren damals noch nicht so stark, wir haben gewußt, gerade in dieser Frage mußten wir mit allem rechnen.

ABER DU KANNST KEINE ANGST HABEN, wenn du auf dem Rücken auf dem rostigen Dach liegst, umringt von hohen Polizeioffizieren, und an ihren dicken, grünen, biederen Familienvaterbäuchen vorbei siehst du das Land, 30 Meter unter dir. Du siehst die Fabrikschlote, das Wasserreservoir vor Wiener Neustadt, die Arbeitersiedlung, die Gärten und die vollgestopften Straßen, auf denen die Arbeiter heimgehen zu ihren Familien. Was scheren mich diese kleinen, braunen, unnötigen Mistkäfer rings um mich? Sie wollen uns unsere Betriebe wegnehmen, sie können mit uns machen, was sie wollen, sie können uns loben, ein Zuckerl mehr, und sie können uns entlassen wie die 4000 Arbeiter des Raxwerks, sie können unsere Genossen verhaften, foltern, hinrichten wie in Griechenland, in Spanien, in den amerikanischen Kolonien. Aber sie können unseren Haß nicht aufhalten. Sie haben nie gelebt. Es wird Zeit für uns, den Gruftdeckel über ihnen endlich zu schließen. Das denke ich mir, oben auf dem Dach, und ich lache ihnen ins Gesicht.

„Ich gehe nicht freiwillig. Ihr müßt mich schon abseilen.“

100.000 ARBEITER, WELCHE KRAFT, EIN ORKAN, WENN SIE ORGANISIERT SIND UND BEGRIFFEN HABEN.

Wir waren am Anfang drei. Wir sind mehr geworden, und man fürchtet uns.

Na, Normalöwy, wie geht’s den Fünflingen? sage ich und lege ihr meine Hand auf den Bauch. Jakob sitzt vis-à-vis, ich sehe ihn an, wir verstehen uns. Habt ihr schon einmal einen Pinguin im Schnee gesehen, schwarz auf weiß, die hängenden Schultern, den watschelnden Gang — „Au, war ja nicht so gmeinet, Koberl“, also den graziösen Gang, die klugen, staunenden Augen. Das ist typisch Jakob — Koberl, sagen wir. Wir sind seit zwei Jahren zusammen, wir kennen uns in- und auswendig. Die komischsten Situationen haben wir beide schon erlebt. Wir brauchen nicht viel zu reden, wir verstehen uns. Im Büro arbeitet unser Pferd, Christian, stets korrekt mit weißem Hemd und Krawatte Er ist unser Bürohengst. Aber Vorsicht, nicht reizen, sonst geht es „zack“, und du hast einen Hufabdruck auf der Nase. Genner, der Gemeine Genner, wie er bei uns heißt, besucht gerade mit dem Auto seiner Mutter die Gruppe in Krieglach. Armes Auto, arme Mutter, arme Bäume auf dem Weg nach Krieglach. Wer Michael kennt, weiß, daß er eine wandelnde Naturkatastrophe ist. Aber er hat sich schon gebessert, er baut nur noch zwei Unfälle alle 14 Tage.

Ich müßte noch mindestens 20 Seiten schreiben, wenn ich euch alle von uns vorstellen wollte. Da ist Kathi, unser proletarisches Katzerl, Roland, wegen seines roten Bartes Barbarossa genannt. „Claudine, borg mir deinen Pullover“ — das ist Hans Breuer. Am besten stellt man sich ihn vor, irgendwo am Schwanz hängend, sich unter der Achsel kraulend — unser Hausäffchen.

Ich sehe Jakob an. Ja, es wird nicht leicht werden. Eine Lehrlingsbewegung aufbauen, das sagt sich so leicht. Die Zeitung muß in 14 Tagen heraußen sein. Und Norma bekommt bald das Kind.

Verdammt, wir haben’s nie leicht gehabt, es war oft ziemlich hart. Wir haben das gewußt, vor zwei Jahren. Wir bereuen nichts, wir waren nie so glücklich wie in den letzten zwei Jahren. Man kann in dieser Scheißgesellschaft eben nur glücklich sein, wenn man gegen sie kämpft, und je erfolgreicher der Kampf ist, desto glücklicher ist man selbst.

Django, ein Lehrling, der seit einem halben Jahr bei uns ist, hat mir einmal gesagt: „Weißt du, Willi, zu Haus gibt’s immer nur meckern, lange Haar‘, spät heimkommen, alles, was einem die Familie net geben kann, findet man in der Gruppe.“ Und das stimmt. Was sind denn die wichtigsten Dinge in unserem Leben? Liebe, Zuneigung, Sicherheit, sich ausbreiten können, jemand sein. GLAUBST DU, DASS IRGENDEIN VATER ODER EINE MUTTER DIR DAS BIETEN KANN?

Natürlich habe ich auch manchmal sexuelle Schwierigeiten, aber die kann man lösen, gemeinsam. Für mich ist die Gruppe alles: Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Bruder, Schwester, Geliebte. Man ist nicht einem dummen, dicken Vorgesetzten verantwortlich, sondern seinen Freunden und in erster Linie sich selbst. Man hat einen Weg und ein Ziel, das ist es, was einen ausfüllt.

OFT HABE ICH MIR ÜBERLEGT, OB ICH NICHT IN ERSTER LINIE DEN KAMPF FÜHRE, WEIL ICH GENUG HABE VON DER ALLGEMEINEN BLÖDHEIT, WEIL ICH MICH EINFACH AUSBREITEN WILL, WEIL ICH WILL, DASS MIR ALLES GEHÖRT UND MIT MIR ALLEN ANDEREN. UND DASS MAN ÜBERALL ZU HAUSE SEIN KANN, NICHT EINGEZWÄNGT ZWISCHEN RATEN, FERNSEHER, FRAU, KIND, AUTO UND SCHWIEGERMUTTER. ICH LEHNE ES AB, FÜR EINE ABSTRAKTE IDEOLOGIE ZU KÄMPFEN. ICH KÄMPFE FÜR MICH UND MEINE FREUNDE UND MEIN FREUND BIST DU UND DU UND AUCH DU. ABER, GLAUBE JA NICHT, WIR SIND DIE CARITAS. WENN ICH DAVON SPRECHE, DASS WIR FÜR EUCH KÄMPFEN, DANN MEINE ICH, DASS WIR GEMEINSAM MIT EUCH KÄMPFEN WERDEN, FÜR UNS.

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