Grundrisse, Nummer 50
Mai
2014
Roland Atzmüller:

Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat

Arbeitsmarktpolitik und Ausbildung nach dem Fordismus

Münster: Verlag westfälisches Dampfboot, 2014, 198 Seiten, Euro 24,90

Roland Atzmüller ist ein ausgezeichneter Kenner der Regulationsschule und ihrer Debatten. Aus diesem Blickwinkel thematisiert der Autor die Transformation des so genannten Welfare-Staats in den Workfare-Staat. Schon in der Einleitung stellt Atzmüller klar, dass es kaum einen guten Grund gibt, rückschauend den klassischen Sozialstaat – Ziel von neoliberalen Attacken – zu idealisieren. „Durch die erzwungenen defensiven Kampfformen entsteht die Gefahr, dass die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz des Wohlfahrtstaates in kapitalistischen Gesellschaften ausgeblendet wird, die Bewahrung des Erreichten dieses in ein allzu positives Licht taucht.“ (10) [1] Auch im Wohlfahrtstaat des Fordismus ging es darum, Menschen strukturell in Arbeitskräfte zu verwanden und sie der „damit verbundenen Lebensweise“ (12) anzupassen. Neu im Workfare-Staat ist nun die systematische Rekommodifizierung der Arbeitskraft und aller damit verbundenen Lebensbereiche steht. Das bedeutet, dass die „Reproduktion der Individuen und Familien in zunehmendem Maße zu einer (fiktiven) Ware werden“ (16); die Sozialsysteme werden finanzialisiert, was zur paradoxen Situation führt, dass die gut verdienenden Arbeitskräfte vermittelt über die „kapitalgedeckten Fonds“ (17) ein Interesse an hohen Profiten insbesondere im Finanzsektor entwickeln. Damit verknüpft kann ein wichtiges Kalkül des Workfare-Staat herausgearbeitet werden, nämlich Verhältnisse zu schaffen, in denen die „Instabilität und Krisenhaftigkeit … der kapitalistischen Produktionsweise von den Individuen bewältigt werden muss.“ (20) Dieses in der Einleitung skizzierte Szenario wird nun in fünf Abschnitten genauer diskutiert.

In ersten Abschnitt knüpft Atzmüller an die Staatstheorie bei Nicos Poulantzas an und diskutiert dessen Bestimmungen wie die relative Autonomie des Staates gegenüber der Gesellschaft und die These, der Staat sei als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen zu dechiffrieren. Der Rückgriff auf Poulantzas scheint deshalb nahezuliegen, als Poulantzas seine „kritische Analyse des Staates“ mit der „Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung“ (25) verbindet. Wenn sich also die Arbeitsteilung innerhalb der Produktion ändert, dann müsste sich auch der Charakter des Staates ändern, so eine von Atzmüller eher indirekt angesprochene Schlussfolgerung. Allerdings bringt der Autor gegen die Staatskonzeption von Poulantzas einige Einwände vor, die unter anderem in folgender Kritik terminiert: „Da für Poulantzas aber der kapitalistische Staat die intellektuelle Arbeit und das Wissen, von dem die Arbeitskräfte ausgeschlossen sind, verkörpert, können meines Erachtens wichtige Dimensionen der Regulation der Widersprüche der kapitalistischen Arbeitsteilung und der Erzeugung und Reproduktion des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft nicht ausreichend erfasst werden.“ (40) [2]

Im zweiten Abschnitt, den ich für den besten im vorliegenden Buch halte, beschäftigt sich Atzmüller insbesondere mit den Thesen von Schumpeter und der an Schumpeter anknüpfenden neo-schumpeterianischen Diskussion. Ich halte diesen Abschnitt schon deshalb für bedeutend, weil darin klar wird, wie sehr die gesellschaftliche Realität (auch) das Ergebnis systematischer und bewusster Interventionen und Eingriffe darstellt. Aus dem bloßen Wirken des Wertgesetzes allein können die Umbrüche vom Welfare-Staat zum Workfare-Staat keineswegs verstanden werden. Atzmüller reformuliert erstmals den Begriff der schöpferischen Zerstörung Schumpeters. Atzmüller zitiert einen diesbezüglichen Schlüsselsatz: „Gewöhnlich wird nur das Problem betrachtet, wie der Kapitalismus mit bestehenden Strukturen umgeht, während das relevante Problem darin besteht, wie er sie schafft und zerstört. (Schumpeter 1975; 139)“ (53) Schumpeters Sichtweise ist der Auffassung Keynes, der stets von ökonomischen Gleichgewichtsbedingungen ausgeht und Maßnahmen vorschlägt, diese zu schaffen bzw. zu stabilisieren, diametral entgegengesetzt. Schumpeter hingegen favorisiert ein systematisches Eingreifen um adäquate kapitalistische Strukturen zu schaffen, hinderliche und nichtkapitalistische hingegen zu zerstören, wobei die Ausdrücke Schaffung und Zerstörung keineswegs bloß metaphorisch gemeint sind. Träger dieser schöpferischen Zerstörung ist nach Schumpeter der Unternehmer, der nicht unbedingt der Kapitaleigentümer sein muss. Sehr interessant sind die Bezüge zum „Dezisionismus eines Carl Schmitt“ (57), die Atzmüller herstellt. Ebenso wie die Entscheidung bei Schmitt frei von moralischen oder gar demokratischen Legitimationen ist, sind es auch die Entscheidungen über die Schaffung und Zerstörung bei Schumpeter. „Das bedeutet, dass im schumpeterschen Ansatz der Unternehmer bzw. seine Aktivitäten jeglicher Kritik entzogen sind.“ (57) Während Schumpeter diese Fähigkeit zur Entscheidung „ontologisiert und zur besonderen individuellen Fähigkeit besonderer Menschen“ (58) werden lässt, vollzieht sich in der Nachfolge eine bedeutsame Wendung. „Vielmehr wird“ - in sich auf Schumpeter positiv beziehenden Theoriekontexten – „das Verständnis innovatorischer Aktivitäten ausgedehnt, sodass ein umfassender, sowohl die gesamte unternehmerische Organisation betreffender und fordernder als auch die gesellschaftliche Einbettung ökonomischer Entwicklung problematisierender praktischer Prozess“ (62) angestrebt wird. Dass wir alle zu UnternehmerInnen werden sollen, das können wir in vielen Analysen lesen. Atzmüller gelingt es aber gestützt auf die Lektüre neo-schumpeterianischer TheoretikerInnen den eigentlichen Gehalt dieser Forderung aufzuzeigen, eben die Bereitschaft jenseits moralischer, ethischer oder sozial verantwortlicher Überlegungen das Werk der schöpferischen Zerstörung permanent am Laufen zu halten. In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung des Autors relevant, dass „ein wesentlicher Teil des dominanten Regierungsdenken“ (72) den Keynesianismus zugunsten der Kalküle Schumpeters aufgegeben hat. Der Neoliberalismus hat also nicht bloß die Theorie der Neoklassik auf seiner Seite, die jegliche Intervention in die Ökonomie verwirft, sondern die weitaus expansivere Theorie Schumpeters.

Im vierten Abschnitt greift Atzmüller erneut auf die Thesen von Harry Braverman zurück, der in seinem inzwischen klassischen Werk Die Arbeit im modernen Produktionsprozess (1974) eine systematische Dequalifizierung der Massenarbeit behauptete. Schon damals regte sich viel Kritik, noch weniger als damals können heute seine Ansichten als geltend behauptet werden. Atzmüller betont zurecht, dass „Selbstdarstellungsformen, Techniken der Gesprächsführung, Kleidung, Aussehen und Umgangformen, ein adäquates Beziehungsmanagement, ja Lebensstile insgesamt zentrale Elemente der Qualifikation der Arbeitskräfte im postfordistischen Kapitalismus“ (97) geworden sind. Atzmüller erwähnt auch den Begriff des „wissensbasierten Kapitalismus“ (93), leider fallen die diesbezüglichen Aussagen hinter bereits Erreichtes etwas zurück und münden in einem bloßen Arbeitsprogramm. [3] „Für die grundlegende Kritik der Arbeits- und Produktionsprozesse im finanzgetriebenen Akkumulationsregime ist es aus meiner Sicht unerlässlich, eine kritische Theorie der qualifizierten Arbeit zu entwickeln.“ (100)

Der letzte Anschnitt stellt den Brückenschlag zum ersten her. Erneut wird der in Ablöse begriffene Welfare-Staat analysiert, diesmal auf die These von Karl Polanyi bezogen. Nach Polanyi wehrt sich die Gesellschaft und versucht Schranken gegen die destruktiven Wirkungen des Kapitalismus zu errichten. Atzmüller zitiert Claus Offe, der „in Anlehnung an Polanyi auf die Notwendigkeit der nicht-kapitalistischen Sicherung von Komplementärfunktionen zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft des Kapitalismus“ (113) spricht. Atzmüller zeigt im Anschluss, dass das Workfare-Konzept neue Anforderungen an die Arbeitskraft impliziert, die sich unter anderem folgendermaßen zusammen fassen lassen: „Im Zentrum der postfordistischen Regulationsweise steht … die Anpassung der Gesellschaft bzw. der Individuen und ihrer Familien an die Erfordernisse der Verwertungsprozesse und ihrer Reproduktion durch Veränderung.“ (138) „Die Beschäftigten müssen demnach fähig und bereit sein, als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft die Dynamik der Akkumulationsprozesse zu sichern. … Das heißt, die Hegemonie des Kapitals über den Produktions- und Verwertungsprozess wird zu Medium und Inhalt der Lernfähigkeit der Ware Arbeitskraft.“ (168f)

[1Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten des hier besprochenen Buches.

[2Ich habe die Konzeption von Poulantzas, der Staat verkörpere sozusagen die Kopfarbeit, die Handarbeit falle in die Gesellschaft ausführlich in meiner Arbeit Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens diskutiert. Tatsächlich findet sich bei Poulantzas die sehr schematische Zuordnung: Staat – Kopfarbeit, Gesellschaft – Handarbeit. Poulantzas schreibt: „Erst im kapitalistischen Staat erhält das organische Verhältnis von geistiger Arbeit und politischer Herrschaft, von Wissen und Macht seine vollendete Form. Dieser von den Produktionsverhältnissen getrennte Staat befindet sich auf der Seite der geistigen Arbeit, die ihrerseits von der materiellen Arbeit getrennt ist.“ (Poulantzas 2002; 83) Wie soll nun angesichts der Rückgabe von Kompetenzen an die Arbeitenden im Postfordismus an Poulantzas angeknüpft werden können, um die aktuellen Charakterzüge des Staates zu begreifen?

[3Ich denke an Paolo Virno, Antonio Negri, Luc Boltanski, Ève Chiapello, André Gorz, Heinz Steinert und Dieter Sauer. Nicht, dass ich deren Auffassungen stets zustimme – im Gegenteil, an manchen habe ich viel Kritik vorzubringen. Aber die Thematik des Wissens und der Qualifikation erscheint mir dort doch differenzierter diskutiert als im vorliegenden Buch von Atzmüller. Und da ein wenig Eitelkeit auch sein darf, verweise ich auf mein soeben erschienenes Buch Von der 68er Bewegung zum Pyrrhussieg des Neoliberalismus. Sozialphilosophische Aufsätze zu 1968, Fordismus, Postfordismus und zum bedingungslosen Grundeinkommen, in dem ich ebenfalls diese Fragen behandle

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