Streifzüge, Heft 3/2001
Oktober
2001

Alles auf Kursk

Der islamistische Terror und die Selbstversenkung der radikalen Linken

Die Selbstmordattentate vom 11. September haben nicht nur die Twin-Towers gesprengt, sie sprengen auch das politische Bezugssystem. Nicht dass der Politik eine Scheu vor Leichenbergen anzudichten wäre, aber sie pflegt zu Gewalt und Massenmord eine instrumentelle Beziehung. Weniger die schiere Opferzahl macht die besondere Monstrosität der New Yorker Ereignisse aus, als vielmehr der Bruch mit der Logik politischer Gewaltanwendung, das Selbstzweckhafte der Untat. Wer an den 70er-Jahre-Terrorismus zurückdenkt, erinnert sich an Freipressaktionen, langatmige Erklärungen, konkrete Forderungen und das ständige Streben nach Anerkennung als militärisch-politisches Subjekt und Verhandlungspartner. Dem neuen Amok-Terror ist all das wesensfremd. Weg und Ziel, (Selbst)vernichtungstat und Botschaft fallen ihm unmittelbar in eins.

Von einem Gegner herausgefordert, der das politische Universum verlassen hat, reagiert die offizielle Politik, wie sie immer reagiert, wenn ihre historischen Schranke sichtbar wird, nämlich leugnungsstrategisch. Sie spult ihr Programm ab und versucht mit politisch militärischen Maßnahmen zu antworten, wo es politisch- militärische Lösungen nicht geben kann. Gerade damit folgt die offizielle Politik aber ihrem erklärten Feind und kommt selber zu einem durch und durch irrationalen Verhältnis zur Gewaltanwendung. Der poststrategische Afghanistanfeldzug eröffnet ein völlig neues Kapitel der langen Geschichte des Krieges, der Krieg als Ersatzhandlung. Bei den Militäroperationen gegen die Taliban stand von vornherein fest, dass sie das genaue Gegenteil des erklärten Ziels erreichen. Sie sorgen für eine Klima, in dem genau das wächst und gedeiht, was angeblich bekämpft wird, der Amokterrorismus.

Wenigsten aufseiten der politisch Verantwortungslosen scheinen 300 Jahre Aufklärung einen gewissen Restverstand übriggelassen zu haben. Die sinnloseste Strafaktion, seitdem Xerxes aus Rache für die sturmverzögerte Überfahrt seines Invasionsheeres die Wogen der Ägäis peitschen ließ, stößt keineswegs auf einhellige Zustimmung; in die Angst vor dem Verlust der warengesellschaftlichen Normalität scheint sich durchaus so etwas wie eine Ahnung von der neuen Qualität der Konfrontation hineinzumischen.

Ein kleines Öffentlichkeitssegment freilich zeigt sich gegen jeden Anflug von kritischen Bewusstsein immun, die radikale Linke. Nimmt man die einschlägigen Jungle-World-Veröffentlichungen der letzten Wochen zum Maßstab, dann machen am Ende des politischen Zeitalters nicht nur große Politik und Macht irre; szeneorientierte Identitätspolitik hat die gleiche Wirkung.

Dass der antiimperialistische Flügel sich angesichts der New Yorker Ereignisse kaum mit theoretischen Ruhm bekleckern würden, war zu erwarten. Einer Kapitalismuskritik, die nur das zynisch-rationale Interessenkalkül der kapitalistischen Mächte und die ebenso rationalen, aber legitimen Interessen der Geknechteten kennt, fällt das islamistische Selbstmordattentat einfach durchs Raster. Solange ihre Vertreter die eigenen Voraussetzungen nicht hinterfragen, können sie eigentlich nur in Autismus verfallen und die jüngsten Ereignisse unter den ältesten Kalauern eines verkürzten Antikapitalismus begraben. Wie das praktisch aussieht, hat Rainer Trampert mit seinem Beitrag „die Tragödie als günstige Gelegenheit“ in der Jungle World 41 mustergültig demonstriert. Man schere sich nicht um das Geschehen in New York und Washington und salbadere stattdessen von dem, von dem man schon immer salbadert, der Geopolitik.

Das Resultat antiimperialistischer Identitätssicherung ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Peinlicherweise steht die Absetzbewegung aber über weite Strecken selber unter identitätspolitischem Vorzeichen. Der Angriff auf das Krude an den antiimperialistischen Verlautbarungen wird zur Rechtfertigung einer mindestens ebenso kruden Gegenposition.

Seit Jahr und Tag ist das antideutschen Spektrums damit beschäftigt, der linken Szene die Leviten zu lesen und deren eklatante Defizite in Sachen Antisemitismus offen zu legen. Dieses an sich verdienstvolle Unterfangen scheint sich bei Teilen der Antideutschen allmählich zu einer identitären Mehrwert stiftenden Obsession verselbständigt zu haben. Inhaltlich dient die Auseinandersetzung mit Shoa und deutscher Ideologie zusehends als omniparate Welterklärung. Damit gewinnt die Kritik am antisemitischen Wahn Züge einer inversen Ausformung des Kritisierten. Szenepolitisch läuft das Ganze auf eine Instrumentalisierung der Nazivergangenheit hinaus. In deren Schatten ist es dem ultradeutschen Flügel der Antideutschen gelungen, gerade gegenüber dem intellektuell etwas arrivierterem linken Spektrum zur moralischen Instanz aufzusteigen. Die Sicherung dieser Position ist freilich an die Durchsetzung folgender Vorgaben gebunden: Die globalisierungskapitalistische Wirklichkeit ist immer und überall unter dem Erkenntnis leitenden Gesichtspunkt Fortleben der deutschen Ideologie und des eliminatorischen Antisemitismus zu betrachten. Wer die Gelegenheit versäumt, bei irgendeinem Ereignis das antisemitische Potential und die besonderen Bosheiten der deutschen Ideologie in den Mittelpunkt der eigenen Überlegungen zu stellen, macht sich mindestens der Verharmlosung schuldig. Was selbst auf die antideutsche Wahrnehmungsraster geeichte Spezialisten nicht in dieses Schema komplimentieren können, ist bestenfalls von sekundärer Relevanz.

Die islamistischen Selbstmordattentate markieren den Punkt, an dem diese untergründig schon geraume Zeit wirksame Tendenz in offenen Sektenirrsinn umschlägt. Die beiden Kommandoerklärungen der Bahamas-Redaktion zum 11. September dokumentieren den Übergang von einem antideutschen zu einem ultradeutschen Standpunkt. Das Schrille am orginären Überschnappen der bombengeilen Hardcore-Fraktion dürfte außerhalb der unmittelbaren Bekenntnis-Gemeinde zwar kaum jemanden verborgen geblieben sein; das bedeutet freilich noch lange nicht das Ende der seltsamen geistigen Geiselhaft. Die Jungle-World- Redaktion zumindest hält sich bei ihrer Positionsbestimmung zum Konflikt zwischen „westlicher Zivilisation“ und „islamistischen Terror“ an die obige Direktive und ist drauf und dran, das geistige Selbstmordattentat der Szene- Zuchtmeister zu wiederholen.

Die inhaltlich-argumentative Substanz der antiislamistischen Zivilisationsverteidigung kann nicht sonderlich beeindrucken. Den Antiimperialisten hat das Anti-Deutschtum à la Jungle- World-Redaktion ziemlich genau zwei Einsichten voraus. Es weiß um den irrationalen Selbstzweckcharakter der Selbstmordattentate. Ihm ist fernerhin klar, dass dieses Merkmal auch die Shoa auszeichnete und aus den üblichen Begleitgräueln in der Durchsetzungsgeschichte der Warengesellschaft heraushob. Wieso sollen diesen beiden Erkenntnisse aber dazu zwingen, die Kapitalismuskritik hintanzustellen um als Huntington-Linke fortzuexistieren? Ganz einfach, weil man nach dem Bahamas-Vorbild eins und eins zu drei zusammenzuaddieren versteht. Die Anti-Antisemiten unterstellen, das Irrationale habe in dem aus der deutschen Geschichte bekannten eliminatorischen Antisemitismus seine einzige und wesentliche Gestalt gefunden und flugs wissen sie über den islamistischen Terror Bescheid und natürlich ebenso über dessen Bekämpfung. Die westliche Zivilisation muss gegen die islamistisch-deutsche Kultur antreten und sie mit den gleichen Mitteln in die Schranken weisen wie weiland die nationalsozialistischen Mörder. Die Linke dürfe sich dieser Notwendigkeit nicht sperren.

Der offiziellen Sprachregelung der Jungle- World-Redaktion nach handelt es sich bei der Kamikazeaktion gegen das World-Trade Center fraglos „um einen antisemitischen Anschlag“. Es ist schon erstaunlich, wie sich durch das Fehlen einer kleinen Konjunktion eine richtige Feststellung in baren Unfug verwandelt. Natürlich spielt der Hass auf den Staat Israel eine wichtige und antisemitische Motive eine gewisse Rolle in der ideologischen Gemengelage, die den Islamismus ausmachen. Dass sie für die Wahl des World Trade Centers und des Pentagon als Angriffsziels entscheidend waren und mit dem Selbstmordattentat in erster Linie „die Juden in Israel endlich ins Meer getrieben werden sollten“ (Jungle World 40), ist aber an den Haaren herbeigezogen.

Die Bellizisten schlagen einen alarmistischen Ton an. Der Sache nach läuft ihre Position allerdings auf eine doppelte Verharmlosung hinaus. Den islamistischen Terror auf eine Ebene mit der Vernichtung der europäischen Juden zu heben, heißt die Shoa relativieren. Umgekehrt dimensioniert die Gleichsetzung auch den barbarisch- irrationale Auflösungsprozess, dem die Weltwarengesellschaft heute unterliegt, grotesk herab. Das Irrationale speist sich heute aus vielfältigen Quellen, nicht nur antisemitischen. Das gilt selbstverständlich auch für den islamistischen Terror.

Man muss kein Islamexperte sein, um ganz zentrale Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm und dem islamistischen Selbstmordterror zu erkennen. Bei der Shoa handelte es sich um die dunkle Rückseite volksgemeinschaftlich-nationaler Formierung und Durchstaatlichung. Der vernichtungsbürokratischer Charakter war ihr Wesensmerkmal und nichts Äußerliches. Der Islamismus dagegen ist insgesamt das Folgeprodukt gescheiterter laizistisch-nationalstaatlicher Modernisierung, und die Karriere von Al Quaida und Co. innerhalb der islamistischen Strömung wiederum setzte genau mit dem Scheitern des Islamismus als politischer Bewegung ein. Anfang der 90er Jahre schien dieser in diversen islamischen Länder (man denke nur an Algerien) unmittelbar vor der Regierungsübernahme zu stehen. Mittlerweile ist der Islamismus längst zur Deckideologie von Warlords degeneriert und zum Selbstbehauptungsprogramm desorientierter Greencardbesitzer. Der Antisemitismus der Nazis richtete sich gegen ein „anationales“ quer zur volksgemeinschaftlichen Formierung stehendes „volksfremdes Element“. Er konnte mit dieser Sichtweise an eine tief in der abendländischen Ideologie- und Mentalitätsgeschichte verwurzelten Tradition anknüpfen; im islamischen Raum fehlt ein entsprechender Vorlauf. Antisemitische Gedanken tauchen hier überhaupt erst im Laufe des 20. Jahrhunderts auf und sie hatten überdies von vornherein einen anderen Charakter. Wo die Feinderklärung an das „Judentum“ einem jüdischen Nationalstaat gilt, kann sie nicht eins zu eins die Vorstellungen des europäischen Antisemitismus übernehmen, der in den Juden gerade eine antionale, quer zu jeder nationalstaatlichen Identitätsbildungen stehende und deswegen als allgegenwärtig imaginierte Bedrohung sah. Bei der Gleichsetzung der Feinderklärung an den Staat Israel mit dem Antisemitismus der Nazis handelt es sich um eine projektive Setzung der antideutschen Götter.

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass ausgerechnet die Leute, die Jahr und Tag (und auch völlig zurecht) auf der Singularität des Holcausts herumgeritten sind, angesichts der Trümmerbilder aus Manhatten explizit (Bahamas) oder implizit (Jungle-World) sich von dieser Sicht verabschieden. Möglich wird dieses Selbstdementi überhaupt nur, weil die antideutschen Zivilisationsverteidiger sich wohlweislich erst gar nicht auf das Abenteuer einer Begründung am Gegenstand einlassen. Pseudoplausiblität stellen sie stattdessen via Themenwechsel her. Statt die Anschläge oder die Entwicklung der islamistischen Strömung als solche ins Blickfeld zu nehmen, watscht Jungle- World-Artikel um Jungle-World-Artikel mal zu recht, mal zu unrecht die fragwürdigen, teilweise tatsächlich mit antisemitischen Ressentiments kompatiblen Reaktionen der hiesigen Szene ab. Im besten Fall schaut man über den engsten Szenetellerrand hinaus und unterwirft die kriegsskeptische Strömungen im Land insgesamt der obligaten Rasterfahndung nach antisemitischen und deutschnationalen Untertönen. (Seltsamerweise erscheint dabei die in sämtlichen europäischen Staaten vorhandene Distanz gegenüber der US-Politik durchgängig als deutsches Sonderphänomen. ) Nachdem diese Art von Ideologiekritik die ziemlich bunte Motivlage unter den hiesigen Kriegsskeptikern glücklich auf das deutsch-antisemitische Ressentiment reduziert hat, versteht sich im Umkehrschluss das antideutsche Bekenntnis zur westlichen Zivilisation ganz von alleine.

Mit seinen realanalytischen Ambitionen ist der wertkritische Ansatz für diese Sorte Ideologiekritik ein einziges Ärgernis. Aber sie hat ihre Methoden, mit diesem Querschläger fertig zu werden. Sieht man von purer Denuntiationsmasche (Methode Runge) einmal ab, dann besteht der einfachste Weg darin, auf eine verkürzte personalisierende Kapitalismuskritik einzuprügeln und so zu tun, als wäre die Wertkritik gleich miterledigt (G. Scheit Jungle World 40). Ein klein bisschen raffinierter geht es aber auch (Methode Landgraf/Scheit ebenfalls Jungle World 40). Die Tatsache, dass Analyse nun einmal einen fiktiven Standpunkt außerhalb des Analysierten beziehen muss, wird als das Einnehmen einer Darübersteherhaltung genommen. Damit lässt sich die vom eigenen Proamerikanismus abweichende Parteinahme für alle Opfer irrationaler Gewalt zu einer in der gegebenen Situation unmoralischen Neutralitätserklärung verdrehen.

Schon einmal leitete anti-antisemitische Hysterisierung eine große Absetzbewegung ein, die ehemalige Gegner des Kapitalismus heim in die westliche demokratische Wertegemeinschaft führte. Elf Jahre nach dem zweiten Golfkrieg nimmt eine neue Generation wieder diesen links-deutschen Sonderweg zum Friedensschluss mit der kapitalistischen Normalität. Während die Überläufer damals wenigsten wussten, was sie taten, diesmal ist das nicht unbedingt zu unterstellen. Hinter Anton Landgrafs Forderung, die Linke müsse erst einmal für den Kapitalismus gegen dessen Feinde Partei ergreifen, steht wohl tatsächlich die Annahme, es im Augenblick mit einer Ausnahmesituation zu tun zu haben. Er und andere können sich aber so oft schütteln wie sie wollen; im hereinbrechenden Krisenzeitalter dürfte, solange sich keine emanzipatorische antikapitalistische Perspektive auftut, die Konfrontation zwischen zerfallender Globalisierungsnormalität und ihren barbarischen Verfallsprodukten überhaupt das Geschehen bestimmen. Wer meint, im Zweifelsfall für den Westen Partei ergreifen zu müssen, wird kaum mehr in die luxuriöse Lage geraten, für etwas anderes Partei ergreifen zu können.

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