Grundrisse, Nummer 48
Dezember
2013

Arbeit im Übergang*

Gesellschaftliche Produktivkraft zwischen Entfaltung und Zerstörung

Der Titel meines Vortrags verweist erst mal auf einige begriffliche Klärungen: Übergang, Produktivkraft und die Dialektik von Entfaltung und Zerstörung. Darauf will ich zunächst eingehen und mich dabei auch in der linken Kapitalismuskritik verorten. Danach werde ich was zur Entwicklung von Arbeit in historischen Umbruchprozessen sagen: zum Formwandel von Herrschaft, zur neuen Autonomie in der Arbeit, zur Rolle des Individuums.

Was heißt hier Übergang?

Die These von der Arbeit im Übergang verortet den Formwandel von Arbeit in gesellschaftlichen Umbruchprozessen, die als historische Übergänge zwischen gesellschaftlichen Formationen gefasst werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik, wie auch die anderen kapitalistischen Metropolen, seit Mitte der 1970er Jahre in eine neue Entwicklungsphase getreten sind. Seit dem ist – nicht nur in der Arbeitssoziologie — von einer Krise des Fordismus die Rede. Mit dem Fordismusbegriff wird der Begriff der gesellschaftlichen Formation eingeführt, der bestimmte historische Phasen im Verlauf kapitalistischer Entwicklung bezeichnet, in denen jeweils stabile Entsprechungen zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, zwischen der Makroebene der gesellschaftlichen Regulierung und der Mikroebene der Arbeitsorganisation bestehen. Wir gehen von der These aus, dass es gegenwärtig keine historische Zäsur zwischen dem fordistischen und einem dessen Krise überwindenden neuen (postfordistischen) Entwicklungsmodell gibt. Es handelt sich immer noch um eine Anpassung an die Krise des Fordismus, nicht um deren Überwindung. In diesem Zusammenhang sprechen wir von einer Phase des Übergangs. Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, dass wir es mit einem Prozess gesellschaftlicher Entwicklung zu tun haben, der durch erhöhte Instabilität und neuartige Spannungsverhältnisse gekennzeichnet ist. Deren Folge ist eine reflexive, auf Dauer gestellte Restrukturierung.

Ein kapitalismustheoretischer Versuch, die Übergangsphase begrifflich zu fassen, könnte an der abstrakten, allgemeinen Widerspruchstruktur der kapitalistischer Gesellschaft ansetzen, am Verhältnis schrankenloser Kapitalverwertung und ihren produktiven stofflichen Grundlagen als ihrer Grenze, die es beständig zu überwinden gilt. Dahinter steht die Marxsche Figur einer „Schrankenlosigkeit in Grenzen“. Übergang ist dann als historische Phase zu bestimmen, in der historisch geronnene gesellschaftliche Lösungsformen dieses Widerspruchs, wie sie auch der Fordismus darstellt, in Bewegung geraten, die Widersprüche manifest werden und sich „entwickeln“.

Betrachtet man die historischen Veränderungen von Unternehmensorganisation und Arbeit so geht es offensichtlich um die Überwindung der in der fordistischen Produktionsökonomie gesetzten Grenzen der Verwertung: Vermarktlichung sprengt verkrustete institutionelle Herrschaftsstrukturen in den Unternehmen auf, Arbeitskraft wird aus ihren institutionellen und motivationalen Grenzen gelöst. Die technischen und organisatorischen Grundlagen werden revolutioniert (Stichwort Informatisierung), neue indirekte Steuerungsformen von Arbeit nutzen die Selbständigkeit und die subjektiven Potentiale der individuellen Beschäftigten (Stichwort Subjektivierung). Triebkraft dieser Freisetzung und Entfaltung von produktiven Potentialen ist eine radikalisierte Marktökonomie, die im gleichen Prozess diese neu geschaffenen Verwertungsbedingungen immer wieder in Frage stellt. Verschärfte Konkurrenzbedingungen und von der Produktionseffizienz abgelöste Renditeerwartungen der Finanzinvestoren gefährden die langfristigen innovativen Grundlagen von Unternehmen. Dies wird gegenwärtig auch in den Auseinandersetzungen im Management und dessen Fraktionierung deutlich.

Die Tendenz der Schrankenlosigkeit gefährdet auch Arbeitskraft und deren Reproduktion: Existenzielle Unsicherheit und Prekarität von Arbeit und zunehmende Überforderung durch maßlose Ausdehnung der Arbeitszeit und zunehmende Intensivierung in der Arbeit sind auf der einen Seite die sichtbaren Konsequenzen. Auf der anderen Seite sind angesichts flacherer Hierarchien und höherer Eigenverantwortung die Freiheitsgrade in der Arbeit gestiegen. Die Beschäftigten sind nicht nur aufgefordert, sondern auch eingeladen, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Sie sollen sich beruflich weiterentwickeln und entfalten. Die Rede ist von einer gewachsenen Wertschätzung, die der lebendigen Arbeit entgegengebracht wird.

Die Veränderungen haben offensichtlich positive und negative Effekte für die betroffenen Menschen, die sich allerdings nicht so einfach auseinandersortieren lassen. Wir stehen vor dem Problem, dass in der gegenwärtigen Übergangsphase Momente des Progressiven und Momente des Destruktiven so zusammen kommen, dass sie sich wechselseitig auszuschließen scheinen. Dialektisch gefasst, folgt daraus die Unhaltbarkeit, also die Unmöglichkeit, dass es sich dabei um bleibende, stabile Zustände handeln könnte. Die Widersprüchlichkeit ist dann nur ein anderer Ausdruck für die in der Situation liegende Dynamik, die über den gegenwärtigen Zustand hinaustreibt.

Zum Verhältnis von progressiven und destruktiven Tendenzen in der kapitalistischen Entwicklung

In der gegenwärtigen linken Kapitalismuskritik spielen das widersprüchliche Verhältnis von progressiven und destruktiven Tendenzen und damit der Kapitalismus als widersprüchliche Einheit, von Zerstörung und Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte keine wesentliche Rolle. Soweit sich die Kritik auf die Marxsche Theorie bezieht greift sie meist nur eine Seite des Marxschen Kapitalbegriffs auf, die die „gegensätzliche Existenzform des Reichtums“ die Spaltung in Arm und Reich erklärt, und als solche eine Kritik der Verteilungsverhältnisse fundieren kann. Der im Begriff des Kapitals darüber hinaus angelegte Zusammenhang von Ausbeutung und Entfremdung, die Verkehrung von „toter“ und „lebendiger“ Arbeit, von Subjekt und Objekt, in der die Naturwüchsigkeit des Gesamtprozesses der Produktion begründet liegt, bleibt meist außen vor.

Hinzu kommt ein verkürzter oder präziser verkehrter Begriff von Produktivkraft: ein Verständnis von „Produktivkraftentwicklung“ als „Technischer Fortschritt“. Technischer Fortschritt ist zunächst die Weiterentwicklung von Produktionsmitteln zum Zweck der Steigerung der Produktivkräfte menschlicher Arbeit. Sobald aber der Arbeitsprozess als Verwertungsprozess betrachtet wird, wird dieses Verhältnis von „Mitteln“ und „Kräften“ auf den Kopf gestellt. Die dinglichen Produktionsmittel stellen sich in dieser Perspektive mithin als Kräfte, die produktiven Kräfte der Individuen hingegen als Mittel oder Sachen dar. Diese Verkehrungsstruktur verstellt ein angemessenes Verständnis der Produktivkraftproblematik. Wenn Marx von Kräften spricht, so meint er tatsächlich Kräfte und nicht Dinge. Und mit den Kräften von Individuen meint er Bestimmungen ihrer Individualität.

Arbeit gilt bei ihm zunächst allgemein als bewusste Auseinandersetzung mit der Natur und zwar der äußeren wie der inneren Natur des Menschen. Die Bestimmung des Menschen ist nicht die, sich in schicksalhafte und naturhafte gegebene Bedingungen einzufügen, sondern diese zu überwinden und sich selbst zu verwirklichen, „seinen Sinn aus sich selbst heraus zu finden“.

Wenn Marx die Arbeit im Kapitalismus charakterisiert, dann hat er dabei vor allem ihre Entfremdungsform vor Augen, das „Außer-sich-sein“ in der Arbeit, die Fremdheit des Arbeitenden gegenüber seiner eigenen Lebensäußerung. Dialektiker, der er war, hat Marx allerdings auch die Widersprüchlichkeit der Entwicklung festgehalten. So hat er die Einsicht formuliert, dass es der Entwicklungsgang der „großen Industrie“ zu einer Frage von „Leben und Tod“ macht, (Zitat) „das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum [zu ersetzen], für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.“ (MEW 23: 511 f.). Hier hat Marx jenseits jeder konkreter Anschauung in der Industrie des 19. Jahrhunderts die gegenwärtigen Flexibilisierungs- und Subjektivierungstendenzen visionär vorweggenommen. Aber er hat dabei immer darauf verwiesen, dass diese (Zitat) „Entwicklung aller menschlichen Kräfte […] die Entfaltung des ‚totalen‘ beziehungsreichen gesellschaftlichen Individuums […] diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern [im Kapitalismus nur] als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung“ (Marx, Grundrisse, S. 387f) erscheinen kann. Folgt man diesem Grundgedanken von Marx in den Grundrissen dann ist es nicht erstaunlich, dass sich die gegenwärtige, tendenzielle Aufhebung bestimmter Seiten oder Erscheinungen der Entfremdung in Form einer Subjektivierung der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen wiederum in verkehrter oder entfremdeter Form vollzieht. So verkehrt sich z.B. die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit – eigentlich eine positive Tendenz – unter den Bedingungen der neuen Unternehmenssteuerung in den Zugriff des Kapitals auf die gesamte Lebenszeit der Individuen. Die Identifikation mit der Arbeit, die durch die neue Unternehmensorganisation möglich wird, kehrt sich gegen die Individuen, die aus Hochgefühlen in tiefe und dauerhafte Erschöpfungszustände stürzen.

Es stellt sich die Frage, ob die entwickelten Potenzen der Individuen dauerhaft dem Verwertungszweck unterworfen bleiben und sich damit in Kräfte verwandeln, die sich auf zerstörerische Weise gegen die Individuen selbst wenden. Oder ob sie im Gegenteil als die Befähigung zum Tragen kommen sich von der Mittlerrolle für den Verwertungszweck überhaupt zu emanzipieren. Mit Marx gesprochen: es geht darum, ob und wie die Entwicklung der Produktivkräfte, als die individuellen Kräfte der Individuen, zum ‚Sprengsatz‘ für ihre „bornierte Grundlage“ im Kapitalismus werden können (vgl. Stadlinger/ Sauer 2010).

Organisatorische Revolution – der Formwandel von Herrschaft

Um diese Frage überhaupt diskutieren zu können, müssen wir uns den angesprochenen gesellschaftlichen Umbruchprozess, die Veränderungen in der Unternehmensorganisation und in der Entwicklung von Arbeit etwas genauer ansehen. Damit bin bei meinem dritten Punkt, dem Formwandel von Herrschaft: Ich will mich auf den aus meiner Sicht zentralen Punkt konzentrieren: auf den tiefgehenden Bruch in der Organisation von Unternehmen, mit dem sich nicht nur die Form, sondern das Prinzip von Unternehmensorganisation selbst ändert. Das hierarchisch-bürokratische System der Steuerung von Unternehmen hat sich als Schranke für die Produktivitätsentwicklung erwiesen. Der Kapitalismus fand sich vor die Wahl gestellt, entweder an den Schranken des hierarchisch-bürokratischen Systems, das das Individuum auf eine Teilfunktion reduziert zu ersticken oder es zu überwinden und die Produktivität der Unternehmen auf ein neues Organisationsprinzip zu gründen, in dem das totale Individuum produktiv werden soll. Wie geht das, ohne den Kapitalismus aufzuheben?

Die Veränderung finden also gerade dort statt, wo sie der traditionelle wissenschaftliche Blick nicht vermutet: in der als unhinterfragbar geltenden betrieblichen Herrschaftsform und in der individuellen Produktivkraft lebendiger Arbeit, was bis dahin wissenschaftlich wie politisch wenig Beachtung fand. Vor diesem Hintergrund erhalten die Veränderungen im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich den Charakter einer revolutionären Veränderung — wir sprechen von einer organisatorischen Revolution — und zwar nicht in einem emphatischen, sondern in einem theoretischen Sinn. Während Karl Marx im Kommunistischen Manifest und danach immer wieder den revolutionären Charakter des Kapitals hervorgehoben, begrifflich bestimmt und in einem gewissen Sinn sogar zum Ausgangspunkt seiner Theorie gemacht hat, ist dieser Aspekt in der traditionellen linken Kritik inzwischen eigentümlich unterbelichtet. Die herkömmlichen Versuche, die Entwicklung des Kapitalismus zu beschreiben, zu kategorisieren und zu periodisieren, haben zwar die Brüche in dessen Entwicklung im Auge, fragen aber nicht nach deren revolutionärer Qualität.

Es geht um neue Steuerungsformen in den Unternehmen, in denen eine neue Qualität kapitalistischer Herrschaft zwischen Markt und Hierarchie sichtbar wird. Im Gegensatz zum hierarchisch-bürokratischen System der Steuerung von Unternehmen erreicht dieses neue Prinzip organisiertes Handeln nicht mehr durch Unterordnung des eigenen Willens, sondern durch dessen Funktionalisierung für den Organisationszweck. Dieser Formwandel von Herrschaft bleibt zwar eine Form der Fremdbestimmung von Handeln, die sich jetzt jedoch vermittelt über ihr eigenes Gegenteil, nämlich die Selbstbestimmung oder Autonomie der Individuen umsetzt, und zwar so, dass sie dabei nicht nur auf explizite, sondern auch auf implizite Anweisungen, sowie auf die Androhung von Sanktionen verzichten kann. Das Neue an diesen Steuerungsformen be­steht darin, dass sich das Management darauf „beschränkt“, den weiteren Rahmen (die technische Ausstattung, strategische Prioritäten etc.) festzulegen und spezifi­sche Ziele vor­zugeben (Umsatz, Erträge, Kosten, Termine u.ä.). Die konkrete Bearbeitung wird weit­gehend dezentralen Einheiten und in letzter Konsequenz den Beschäftigten selbst überlassen. „Macht was ihr wollt, aber seid profitabel“, so lautet die zugespitzte Parole.

Diese Form indirekter Steuerung kann als dialektischer Grenzfall von Herrschaft gefasst werden. Der Grundgedanke liegt darin, die Form der Abhängigkeit, in der sich der „freie Unternehmer“ gegenüber seinen Rahmenbedingungen befindet, zur Steuerung unselbstständig Beschäftigter zu verwenden. Der springende Punkt besteht darin, dass zusammen mit der unternehmerischen Autonomie auch die Form der unternehmerischen Unfreiheit – das Beherrscht-Werden durch verselbständigte Prozesse – in abhängige Beschäftigungsverhältnisse übertragen werden. Und genau diese Form von Heteronomie wird nun für die Funktionalisierung des eigenen Willens der Beschäftigten genutzt. Die „sachliche Abhängigkeit“, der sie als Verkäufer ihrer Arbeitskraft unterworfen sind, charakterisiert nun auch ihre Situation im unmittelbaren Produktionsprozess. Vereinfacht gesagt: Die Individuen sollen nicht mehr tun, was ihnen gesagt wird. Sie sollen vielmehr selbständig auf Rahmenbedingungen reagieren, die sich einerseits aus den unkontrollierbaren, ständig wechselnden Überlebensbedingungen des Unternehmens am Markt und andererseits aus der unternehmensinternen Definition von Erfolgsmaßstäben und Strukturen (Benchmarks, Kennziffern, Segmentierung von Unternehmen) durch das Management ergeben. Durch die Konfrontation mit unternehmerischen Problemstellungen befinden sich die Individuen in einer Lage, in der sich bei ihnen „von selbst“ – spontan – unternehmerische Handlungsmotive herausbilden (vgl. Peters/Sauer 2005).

Die neuen Formen einer indirekten Steuerung nutzen dabei die Eigendynamik unwillkürlich bzw. von selbst ablaufender sozialer Prozesse – z.B. den externen Markt oder auch marktförmige Beziehungen im Inneren des Unternehmens – für die Steuerung von Prozessen. Während es in der Perspektive fordistischer Unternehmen darum ging, die konkreten Produktionsabläufe gegenüber den Unwägbarkeiten des Marktes abzuschotten, setzen neue Konzepte darauf, den Markt zum Motor der permanenten Reorganisation der Binnenstrukturen zu machen. Mit seiner Internalisierung wird der Markt in seiner Kontingenz und Dynamik zum Strukturierungsmoment der betrieblichen Organisation. Die individuelle Arbeitskraft wird nun unmittelbar mit der wachsenden Dynamik von externen und internen Anforderungen konfrontiert. Selbstorganisation, Ergebnisorientierung, flexible Arbeitszeiten u.a. bauen die bisherigen institutionellen Puffer zwischen Individuum und Markt ab.

Organisatorische Revolution — Die neue Autonomie in der Arbeit

Die Rolle von Arbeitskraft im Unternehmen verändert sich radikal: Vermittelt über eine Arbeitsorganisation, die zunehmend auf die Selbstorganisation der Beschäftigten setzt, werden die Beschäftigten in ganz anderer Weise als früher mit der Unbestimmtheit von Marktanforderungen konfrontiert. Zwar war Arbeitskraft schon immer mit der Bewältigung von Unbestimmtheiten im Arbeitsprozess befasst. Aber diese Funktion war zu Zeiten der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ bestenfalls eine inoffizielle, oft sogar illegale Lückenbüßeraufgabe. Neu ist, dass über das qualifikatorische und physische Arbeitsvermögen hinaus jetzt das Subjekt oder präziser die Person als Träger der Ware Arbeitskraft „In-Betrieb genommen wird“. Das erfolgt in doppelter Weise:

  • Zum einen enthält das arbeitsorganisatorische Konzept der Selbstorganisation die Aufforderung zu unternehmerischem Handeln, d.h. die Beschäftigten sollen ihren zeitlichen Einsatz, ihre Leistungsverausgabung und auch die Rationalisierung des Arbeitsprozesses selbst steuern. Sie sind nicht mehr nur Objekte, sondern auch Subjekte der Steuerung. Die Lösung des sog. Transformationsproblems d.h. die Verwandlung des lebendigen Arbeitsvermögens in Leistung – früher zentrale Aufgabe des Unternehmers – muss jetzt von den Arbeitenden selbst geleistet werden.
  • Zum anderen erhalten die subjektiven Potenziale und Ressourcen der Beschäftigten, d.h. ihre kreativen, problemlösenden, kommunikativen Fähigkeiten, ihre Motivation, ihr Engagement und Gefühl eine höhere Bedeutung. Bei der Bewältigung von unbestimmten Anforderungen erweisen sich diese Fähigkeiten und Eigenschaften gegenüber den rein formalen beruflichen Kompetenzen als besonders wichtig. Damit werden Poten­ziale und Ressourcen ins Visier genommen, die traditionellerweise gerade außerhalb des betrieblichen Gestaltungsbereichs liegen und die jetzt einer intensiveren und expliziten ökonomischen Nutzung unterworfen werden sollen. Es kommt mit der Person als ganzer auch das eigene Leben ins betriebliche Spiel.

Die angestrebten Produktivitätsfortschritte und Profitsteigerungen können nur dadurch erreicht werden, dass die Unternehmen klassische Forderungen nach mehr Autonomie und Selbständigkeit tatsächlich erfüllen. Das Unternehmen ist real auf die subjektiven Fähigkeiten und intrinsische Motivation der Arbeitenden angewiesen. An diese motivationale Potenziale kommt das Unternehmen nur heran, in dem es auch reale Selbstständigkeit ermöglicht. Durch eine bloße Scheinselbständigkeit oder durch Implantation von neoliberalem Gedankengut in Arbeitnehmerhirne sind diese Effekte nicht zu erreichen. Bürokratische Anweisungsstrukturen müssen realiter demontiert werden. Dabei ist es wichtig, die neue Autonomie in der Arbeit zu unterscheiden von alten Formen der Autonomie in der Arbeit: Ging es früher um die Gewährung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, so geht es heute um die unmittelbare Konfrontation mit den Rahmenbedingungen des eigenen Handelns.

Kurz: Ziel der neuen Unternehmenssteuerung ist es, die Individuen dazu zu bringen, dass sie selber ihre entfaltete Individualität für den Verwertungszweck mobilisieren. Dabei geht es zum einen um alle potenziell verwertbaren subjektiven Potenziale und Eigenschaften, die das Vermögen lebendiger Arbeit kennzeichnen, zum anderen um das Potenzial, eben dieses Arbeitsvermögen selbst zu entwickeln und zu entfalten, in Leistung zu transformieren und zu steuern.

Die Entwicklung des Individuums als politischer „Sprengsatz“

Aus bürokratischen Anweisungsstrukturen kommend tritt dem Individuum die unternehmerische Selbständigkeit zunächst als angemessene Form für die Realisierung jener Ansprüche auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung entgegen, die zusammen mit der Entwicklung seiner produktiven Kräfte sich entfalten. Mit der Aufhebung der alten betrieblichen Arbeitsteilung und der entsprechenden individuellen Ausbildung eines vielseitigen Arbeitsvermögens verändert sich zugleich das Verhältnis der Beschäftigten zu ihrer Arbeit: Es zeichnet sich für sie die Möglichkeit ab, in der Arbeit selbst `bei sich’ zu sein, während sie früher in ihr nur `außer sich’ sein konnten. Dem Individuum bietet sich einerseits die Chance, sein Tun als „Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte“, das ihn „mit sich reißt“, genussvoll zu erleben. Andrerseits verkehrt sich unter den Bedingungen der Unbeherrschtheit der eigenen Kraftentfaltung letztere unversehens in eine Form der Selbstverausgabung, das begeisternde `Mitgerissen-Werden’ in die Besinnungslosigkeit der Getriebenen. Eine im Prinzip fortschrittliche Tendenz verkehrt sich in zerstörerischer Weise wiederum in ihr Gegenteil.

Die nun mögliche Identifikation mit der eigenen Tätigkeit — zweifellos die positive Seite der beschriebenen Tendenz — bildet zugleich jedoch die Voraussetzung für das Funktionieren der indirekten Steuerung, die nun auch noch das Gegenteil von Herrschaft für ihre Aufrechterhaltung funktionalisieren will. Die indirekte Steuerung bringt die Individuen in eine Lage, in der sie selber die Perspektive des Kapitals auf sich einnehmen und sich ihre eigenen Kräfte und sozialen Beziehungen in „Ressourcen“ des unternehmerischen Erfolgs verwandeln. In der Unternehmerperspektive, die es nun selber einnimmt, ist es für sich selbst das, was es für das Kapital ist. Das Individuum verhält sich dabei zur Entfaltung seiner eigenen Individualität nicht wie zu einem Selbstzweck, sondern wie zu einem Mittel des ihm äußerlichen Verwertungszweck.

Im unternehmerischen Zugriff auf das Leben der Individuen, liegt jedoch die schwache Stelle und Achillesferse der neuen Herrschaftsform. Subjektivität in direkter Konfrontation mit dem Markt als „neue Naturgewalt“ wird zur umkämpften Produktivkraftressource. Bei diesem Kampf wird entschieden, wie viel Subjektivität zu Verwertungszwecken in welchen sachlich-, zeitlich-, sozialen Formen genutzt wird und wie sich die Besonderheit des Individuums unter diesen Bedingungen behaupten kann (vgl. Bechtle/Sauer 2003: 57). In seiner Rolle als Entrepreneur im ökonomischen Überlebenskampf hat der Beschäftigte den Gegensatz von Kapital und Arbeit in seinem eigenen Kopf auszutragen. Das Kapitalverhältnis verwandelt sich in ein unmittelbares persönliches, alltäglich erfahrenes Problem. Sein Interesse an der Entfaltung seiner Individualität gerät in Konflikt mit seinem unternehmerischen Interesse am betriebswirtschaftlich definierten Erfolg.

In der Verfolgung dessen, was er in der Unternehmerfunktion selber will, tritt es in Gegensatz zu sich selbst, zu seinem Interesse als Individuum bzw. zu dem, was es „wirklich selber will“: die freie Entfaltung der eigenen Individualität als Selbstzweck. Es erlebt die kapitalistische Unternehmerfunktion als eine Fessel für die Entfaltung seiner Individualität. Dieses Gegensatzverhältnis kann nicht nur alltäglich erfahren werden, es kann vom Individuum auch zum Gegenstand einer begreifenden Aneignung gemacht werden. Gegen die „Subjektivierung“ kann es das aufbieten, was für menschliche Subjektivität wesensbestimmend ist: die Fähigkeit zur Selbstreflexion, hier zu verstehen als die Fähigkeit, die Verkehrung von Zweck und Mittel, von toter und lebendiger Arbeit, die das praktische Selbstverhältnis des Individuums im Kapitalismus charakterisiert, selbst noch einmal zum Gegenstand des Denkens machen.

Nachbemerkung 1: Aufhebung des Kapitalismus?

Was hat das Ganze nun mit der Aufhebung des Kapitalismus zu tun?

Geht man von Marx’ Charakterisierung der „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“ in der „Kritik des Gothaer Programms“ (MEW 22) aus, dann darf man vermuten, dass er angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der kapitalistischen Produktion doch einigermaßen erstaunt wäre. Die Aufhebung der „knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“ und des „Gegensatz(es) zwischen geistiger und körperlicher Arbeit“ ist jedenfalls innerhalb des Kapitalismus weiter fortgeschritten, als er sich das wohl hätte träumen lassen. Das betrifft auch die Aufhebung des Gegensatzes von Arbeit und Nicht-Arbeit, den Marx in den „Grundrissen“ ebenfalls als eine Seite der Entfremdung bestimmt. Erstaunlich wäre für ihn wohl, dass die Arbeit bereits in der kapitalistischen Produktionsweise für viele tendenziell „nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis“ wird und dass Unternehmensleitungen ihre Mitarbeiter seit einiger Zeit dazu auffordern, ihren produktiven Prozess doch gefälligst selber zu organisieren – natürlich unter der Maßgabe der Profitabilität.

Aber Marx wäre wohl kaum erstaunt darüber, dass sich die gegenwärtige, tendenzielle Aufhebung bestimmter Seiten oder Erscheinungen der Entfremdung unter kapitalistischen Bedingungen wiederum in verkehrter oder entfremdeter Form vollzieht. Während die Entwicklung der Produktivkräfte auf der einen Seite die Aufhebung des betrieblichen Kommandosystems ermöglicht und erfordert, wird auf der anderen Seite die Unbeherrschtheit sozialer Prozesse und die darin liegende Unfreiheit der Individuen durch die neue Unternehmenssteuerung nunmehr gezielt zur Steigerung der Ausbeutung genutzt. Während die Entwicklung der Produktivkräfte auf ihrem gegenwärtigen Niveau eines solchen „äußern Sporns“ (Marx 1857/58: 31) eigentlich nicht mehr bedarf, steigert sich doch auf der einen Seite der Druck auf die lebendige Arbeit permanent.

Die Entwicklung der produktiven Kräfte der Individuen – also nicht der Produktionsmittel oder der Technologie — wird gegenwärtig durch Merkmale bestimmt, die, folgt man Marx, eigentlich erst in einer nachkapitalistischen Phase der Geschichte zur Entfaltung kommen können. Dazu gehören auch die tendenzielle Veränderung des Charakters der Arbeit und ihrer Bedeutung für die Individuen. Marx hat in seiner Auseinandersetzung mit A. Smith zu Recht gegen die Identifizierung der Arbeit mit jener historischen Erscheinungsform polemisiert, die sie als „Zwangsarbeit“ unter den Bedingungen von Herrschaftsverhältnissen annimmt. In letzteren erscheint die Arbeit tatsächlich als Fluch und Qual und dementsprechend die „Ruhe“ als Zustand der Freiheit und des Glücks. Smith verkenne jedoch, dass die Arbeit als Bewältigung von Hindernissen bei der Verwirklichung selbstgesetzter Zwecke an sich (der Möglichkeit nach) eine „Betätigung der Freiheit“ ist. Nach der Aufhebung ihres historischen Zwangscharakters könne auch die Arbeit in der materiellen Produktion zu einer „travail attractif“, zur „Selbstverwirklichung des Individuums“ werden (Marx 1857/58: 505).

Nachbemerkung 2: Der Untergang des Sozialismus und die Frage der Beherrschbarkeit sozialer Prozesse

Es gibt eine Verbindung zwischen den Reorganisationsprozessen in den kapitalistischen Unternehmen und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten. Die Verbindung liegt im Punkt der Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Prozesse. Sie besteht darin, dass die sozialistischen Staaten (Stichwort ‚Planwirtschaft‘) — erklärtermaßen den Versuch gemacht haben -, bis dahin unbeherrschte gesellschaftliche Prozesse zu beherrschen nach dem Modell, das ein traditionelles kapitalistisches Unternehmen für die Beherrschung von Prozessen geliefert hat.

Gegenwärtig werden wir mit der erstaunlichen Tatsache konfrontiert, dass das Kapital in seiner geschichtlich bewährten revolutionären Rolle dabei ist, an der Lösung des an dieser Stelle aufgeworfenen Problems zu arbeiten, nämlich eine Alternative zu finden — von der Form her natürlich nur — zur kommandoförmigen Beherrschung gesellschaftlicher Prozesse. Wenigstens wird hier Material beigesteuert für eine neue Antwort auf die alte Frage: wie in einer zunehmenden Selbständigkeit und Freiheit der Individuen zugleich die Lösung für das Problem der Beherrschung gesellschaftlicher Entwicklungen liegen können soll.

Was das Kapital jetzt ansteuert, ist natürlich nicht die Antwort auf die Frage nach seiner Überwindung, sondern im Gegenteil der Versuch, die Alternative zu sich selbst unter seine eigene Form zu bringen. Es ist der Versuch, die Aufhebung von Entfremdung selbst noch einmal kapitalförmig zu machen. Es stellt sich die Frage, ob dieser Versuch für das Kapital gut gehen kann und die weitergehende Frage, ob damit nicht zentrale Bedingungen für seine Aufhebung geschaffen werden — und diese Fragen zum Ausgangspunkt zu nehmen für die Gewinnung politischer Orientierungen in der Gegenwart. (Klaus Peters 2000)

*) Bei diesem Text handelt es sich um einen Vortrag auf der MASCH Konferenz „Aufhebung des Kapitalismus. Die Ökonomie einer Übergangsgesellschaft“ der vom 15. bis 17. November in Hamburg stattfand. Wir danken Dieter Sauer und den OrganisatorInnen des Kongresses für die Genehmigung zur Publikation. Copyright: Dieter Sauer

Verwendete eigene Literatur:

  • Sauer, Dieter (2013): Die organisatorische Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt – Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten. Hamburg,VSA.
  • Nies, Sarah; Sauer, Dieter (2012): Arbeit - mehr als Beschäftigung? Zur arbeitssoziologischen Kapitalismuskritik. In: Klaus Dörre; Dieter Sauer; Volker Wittke (Hrsg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik, Campus, Frankfurt a.M., S. 34-62.
  • Sauer, Dieter (2011): Indirekte Steuerung – Zum Formwandel betrieblicher Herrschaft. In: Wolfgang Bonß; Christoph Lau (Hrsg.): Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist, S. 358-378.
  • Stadlinger, Jörg; Sauer, Dieter (2010): Marx & Moderne: Dialektik der Befreiung oder Paradoxien der Individualisierung? In: Prokla: Marx!, Heft 159/Juni 2010.
  • Peters, Klaus; Sauer, Dieter (2006): Epochenbruch und Herrschaft - Indirekte Steuerung und die Dialektik des Übergangs. In: Dieter Scholz; Heiko Glawe; Helmut Martens; Pia Paust-Lassen; Gerd Peter; Jörg Reitzig; Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Turnaround? - Strategien für eine neue Politik der Arbeit, Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 98-125.
  • Sauer, Dieter (2005): Arbeit im Übergang - Zeitdiagnosen, VSA, Hamburg.
  • Bechtle, Günter; Sauer, Dieter (2003): Postfordismus als Inkubationszeit einer neuen Herrschaftsform. In: K. Dörre; B. Röttger (Hrsg.): Das neue Marktregime - Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, VSA, Hamburg, S. 35-54.
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