FORVM, No. 366
Juni
1984

Auch das war Torberg

Zu Friedrich Torbergs nachgelassenem Roman — Rede, gehalten bei der Buchpräsentation am 2. Mai 1984

Meine Damen und Herren,

es mag vorlaut erscheinen oder sogar sein, wenn einer, der sowieso mit seinem Nachwort das letzte Wort hatte, es schon wieder ergreift bei der Vorstellung des im Nachlaß überraschend aufgefundenen Romans Auch das war Wien von Friedrich Torberg.
Aber Marietta Torberg und David Axmann, die den Nachlaß herausgeben, wollten sich nicht herausnehmen, selber das Wort zu ergreifen. Daher blieb ich auf der Strecke, auf die Gefahr hin, publizistisch niedergestreckt zu werden — als blutiger Anfänger. Denn hier steht tatsächlich mein erstes Nachwort zu Buche, nach mehr als 6000 Rezensionen, schwarz auf weiß oder elektronisch publiziert. Welch eine einmalige Gelegenheit, einem uralten Profi-Leser kritisch die Leviten lesen zu können.

So ein Unterfangen — das Leviten lesen — war zeitlebens Hauptmotiv unseres Autors — in Glossen, parodistischen Versen, essayistisch und eben auch im Roman: Der Schüler Gerber hat absolviert rechnet mit Lehrern und Mitschülern ab, Auch das war Wien mit der wunderlichen Labilität der Landsleute — dieses absolut stabilen und unentwegten Österreichers. Er traute ihnen nicht mehr, weil er ihnen nun alles zutraute, hielt aber nach wie vor Alt-Aussee für den schönsten und das Wiener Kaffeehaus für den geselligsten Ort der Welt. Hier war er zu Hause, auch während er exiliert bei Hollywood leben mußte. In Österreich lebte und starb er, hier nahm er wenige Wochen vor seinem Tod glückstrahlend den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur in Empfang, Patriot vom Scheitel bis zur Sohle, sicherheitshalber mit einem amerikanischen Paß in der Tasche.

Der Versband Lebenslied ist zwar hauptsächlich in den USA entstanden, aber in Ö-Dur und Ö-Moll komponiert; seine transatlantische Korrespondenz wurde zum Gutteil ein fortgeführtes Stammgast-Gespräch von Tisch zu Tisch, wobei nun freilich der eine Gesprächspartner hunderte oder tausende Kilometer vom anderen entfernt saß. Nie hat Torberg die Heimat verleugnet, seine Rückkehr war eine Heimkehr, und er hatte schließlich sogar einen zweifachen Wohnsitz in Österreich, blieb jedoch reisefertig wie eh und je. Im März 1938 hatte er sich ja, zum Begräbnis des Vaters, nur für einen Kurzbesuch in Prag aufgehalten, auf wenige Tage berechnet; von dort aus erlebte er die Unberechenbarkeit seiner Ortsgenossen, die sich plötzlich als Volksgenossen entpuppten.

Von diesem geschichtlichen Werdegang handelt die nun gedruckt vorliegende alte Geschichte, beendet vor 45 Jahren. Sie heißt nicht etwa feindselig Das war Wien, sie heißt, mit elegischem Staunen, Auch das war Wien: Das „auch“ bedeutet eine neue, schmerzliche Erfahrung, welche die alten Grunderfahrungen nicht annullieren konnte. Aber scheinbar Unstimmiges zwischen einst und jetzt mußte in Übereinstimmung gebracht werden. Das Anekdotische des nicht nur politischen, sondern gesellschaftlichen Umbruchs war historisch vorgegeben; es ging dann, bei der Beschreibung des schier Unbeschreiblichen, um den argumentierenden Nachweis. Der war die stilistische Stärke dieses Schriftstellers. Er vermochte sich die kaum vorstellbare Veränderung aller Lebensverhältnisse von einem Tag zum anderen genau vorzustellen, sich bereits jenseits der Grenze befand, innerhalb welcher sich die grenzenlos wütende Begeisterung mit begeisterter Wut abspielte. Jawohl, abspielte. Es war wie beim altbekannten Spiel der Katze mit der Maus. Aber nicht das Hörensagen und Zeitungslesen, also sogenanntes Recherchieren, wurde entscheidend für die psychologisch authentische Wiedergabe; der Ur-Wiener Friedrich Torberg hatte bloß nicht gewußt, was er eigentlich immer schon geahnt haben muß: Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Ich habe das alles damals gehört und gesehen, ich kann es bezeugen. An jenem ungeheuer festlichen Nachmittag (vier Tage zuvor hatte sich dieses Land hingerissen vom Dritten Reich vereinnahmen lassen) erlebte ich, wie eine riesige Menschenmenge in Hochstimmung am Heldenplatz zurückströmte, wo der Führer gesprochen hatte. Ich ging gerade die Mariahilferstaße ringwärts, sehr blond und ohne Hut, aber auch ohne Abzeichen im Knopfloch. Da begegnete mir ein fröhliches Quartett in brauner Uniform, stramm im Gleichschritt, und grüßte lachend: „Grüß Gott, Herr Jud!“

Aber das Lachen verging bald, den einen wie erst recht den anderen. Eine Woche später überquerte ich gegen Mitternacht den Michaelerplatz und erblickte, in die Gasse schauend, eine auffallende Ansammlung vor dem Café Herrenhof. Mit einigem Argwohn ging ich die 100 Meter bis hin: lauter gierig gaffende Zuschauer. Im gästeleeren Lokal waren die Tische beiseite geschoben, und in dem so geschaffenen Freiraum turnte eine Riege jüdischer Männer und Frauen (es dürfte der Inhaber mit seinen Angehörigen gewesen sein) unter dem Kommando eines elegant ausstaffierten SS-Offiziers: Sie mußten tiefe Kniebeugen machen, und jeder hielt einen Stuhl in den vorgestreckten Händen. Auch das war Wien, auf einmal.

Auf einmal? Oder vielleicht „wie eh und je“, — so die erschütterte und erschütternde Redewendung, mit der das Buch endet. Sie geht dem jüdischen Dramatiker in dem Moment durch den Sinn, als er mitten auf der Schwedenbrücke von „schwarz Uniformierten“ festgenommen wird und „die dunkle Kuppel des Kahlenberges vom abendlichen Himmel abgehoben“ sieht. Genau dort, Ecke Tabor- und Praterstraße, habe ich in jenen Tagen beobachtet, wie ein ziemlich alter Jude unter Bewachung auf dem Gehsteig kniete und mit einer Zahnbürste den dort hingemalten Wahlaufruf des gestürzten Schuschnigg-Regimes wegputzen sollte. Niemand lachte über die Groteske, die Stehengebliebenen trugen erschrockene Mienen zur Schau, wie Tatzeugen eines Attentats. Dem SA-Mann gefiel das gar nicht, mißlaunig hob er den gefüllten Kübel auf, stülpte ihn dem Juden über den Kopf und ließ den alten Mann fliehen, quer über die Schwedenbrücke stadtauswärts. Der braun Uniformierte wurde nicht eben freundlich gemustert, und von Anschluß-Begeisterung war nichts zu spüren. Auch das war Wien, noch immer und „seit eh und je“.

Alldem trägt der Roman Rechnung; der gewiegte Polemiker hütet sich, anstatt zu erzählen zu polemisieren. Er war physisch nicht mehr anwesend und muß die unglaublichen Vorfälle innerlich vehement mitgemacht haben, mit jener Wucht, die Karl Kraus verspürt hatte, als er im Frühjahr 1933 die Folgen der Machtergreifung von Wien aus erlebte und die Dritte Walpurgisnacht schrieb: „Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen,“ bekannte er und machte den „Versuch einer geistesgemäßen Verarbeitung der Eindrücke, die das Schauspiel unerschöpflich und erschöpfend bietet.“

Jener „Versuch einer geistesgemäßen Verarbeitung“ wird bei dem Romançier Friedrich Torberg nicht bloß zu einem Essay in Romanform, sondern zu einem echten Roman, der im musikantischen Festspielsommer 1937 beinahe melodramatisch anhebt, wie eben jene politische Endzeit sich gebärdete, um dann hochdramatisch, gesteigert von Kapitel zu Kapitel, sich zu essayistiischem Rang erhebend, darzustellen, wie die Komödie hierzulande unversehens in eine Tragödie überging: die Mehrheit der eilfertig Diensteifrigen und eine unerschrockene Minderheit von Standfesten. Denn da gab es nicht nur triumphierende Illegale, die plötzlich ihre Maske fallen ließen, sondern zum Beispiel auch — gegen Buchende — den ruhig soliden Taxifahrer, der bestimmt weiß, was er riskiert und dem Verfolgten einfach anbietet, ihn über die Grenze zu bringen. Bis an die Grenze des Möglichen geht die Schilderung, läßt die Möglichkeit offen, ob es uralter Ungeist war, der jäh zum Zeitgeist aufwachte, und für uns die makabre Frage, ob er seinen Geist seither aufgegeben hat oder in manchen Zeitgenossen — also sagen wir, besorgt aber friedlich — vielleicht noch immer schlummert.

F. Torberg: „Auch das war Wien“, Langen-Müller, öS 264,—

Edwin Hartl ist FORVM-Autor der ersten Stunde; 1955 schrieb er bei uns über den 1. Geburtstag des Österreichischen Rundfunks, seither immer wieder. Der bedeutende Kulturkritiker und Publizist tritt in sein 78. Lebensjahr. Er ist Mitbegründer der Karl-Kraus-Gesellschaft (1946).

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