MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Revolutionen und wirtschaftliche Folgen

Bankrott

Im Osten ist ein System zusammengebrochen, dessen ökonomische und politische Prämissen gänzlich falsch waren. Was ist da eigentlich schiefgelaufen?

Wie nun wurde dies in die Praxis umgesetzt? Bekanntlich erreichte in der sozialistischen Bewegung nach langandauernden Diskussionen im 19. Jahrhundert eine Position die große Mehrheit, die besagte, daß es, um die Umgestaltung der Welt in die Wege leiten zu können, vorerst einmal notwendig war, die Staatsmacht zu erringen; wobei die Frage der Methode (mit parlamentarischen Mitteln oder durch gewaltsame Machtergreifung) logischerweise als sekundär angesehen wurde. Der vemeintliche Zweck der Machtergreifung war eine Sozialisierung der Produktionsentscheidungen durch Verstaatlichung der Produktionsmittel. Es sollte dann mittels zentraler „Planung“ festgelegt werden, was zu produzieren war. Dabei glaubte man, daß durch die Abschaffung des Privatbesitzes sozial unvernünftige Erwägungen bei den Produktionsentscheidungen eliminiert würden und daß die zentrale Planung zu Produktionsentscheidungen führen würde, die den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen.

Diese Annäherungsweise stützte sich auf drei Voraussetzungen: erstens ging man davon aus, daß, da die Staaten ja ‚souverän‘ waren, Regierungen in der Lage sein müßten, einen von der kapitalistischen Weltwirtschaft ausgehenden Druck auf die Produktionsentscheidungen auszuschalten.

Zweitens nahm man an, daß die einzige Quelle ‚unvernünftiger‘ Produktionsentscheidungen die Interessen des Privateigentums wären.

Drittens hielt man eine zentrale Planungsbürokratie für den besten Weg, um zu sozial angemessenen Entscheidungen zu gelangen. In der geschichtlichen Praxis hat sich herausgestellt, daß jede dieser drei Prämissen falsch war.

Die Prämissen waren falsch

Die erste hielt einen ideologischen Mythos — die Souveränität von Staaten im zwischenstaatlichen System — für empirische Realität. Die zweite übersah die Tatsache, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln für Individuen und Gruppen bei der Verfolgung ihrer ‚privaten‘ ökonomischen Interessen nicht den einzigen Weg darstellt. Und die dritte Annahme schließlich ignorierte die Tatsache, daß es sich bei Staatsbürokratien um Strukturen handelt, für die eine „Produktion für den Gebrauch“ im Grunde keineswegs eine vorrangige Priorität darstellt, selbst wenn solche Systeme über die Kenntnis und die Fähigkeit verfügten, Entscheidungen auf einer derartigen Grundlage zu treffen.

In der historischen Praxis kamen „revolutionäre“ und/oder sozialistische Parteien in wirtschaftlich schwachen Staaten zur Macht, die sich außerhalb der Kernzone der kapitalistischen Weltwirtschaft befanden. Die machthabenden Parteien und die von ihnen eingesetzten Regierungen machten nicht sozial relevante, vernünftige Produktionsentscheidungen („Produktion für den Gebrauch“) zum Hauptziel ihrer Politik, sondern die Forcierung der Entwicklung des Staates, in der Absicht, mit den reicheren Staaten der Kernzone der kapitalistischen Weltwirtschaft gleichziehen zu können. Diese Strategie hat sich als konterproduktiv erwiesen. Die betroffenen Staaten wurden, anstatt aus dem Weltsystem abgezogen zu werden, noch mehr in dieses integriert. Das Ziel, die reicheren Staaten einzuholen, erwies sich auf Grund der Art und Weise des Funktionierens der kapitalistischen Weltwirtschaft für die meisten von ihnen als weitgehend unrealisierbar. Die Interessen der Staats- bzw. Parteibürokratie waren nicht identisch mit dem „allgemeinen Willen“ der Staatsbürger. Diese Bürokratien hatten weder das Know-how noch die Macht, ein Programm der „Produktion für den Gebrauch“ in die Praxis umzusetzen, auch wenn sie den Willen dazu gehabt hätten.

Warum hat es dann aber so lange gebraucht, bis das evident geworden ist? Natürlich war dieser Sachverhalt für sehr viele schon eine lange Zeit augenfällig; dennoch funktionierte das System des „real existierenden Sozialismus“ ohne Änderungen an der Grundsubstanz mehr oder weniger bis 1989. Dann begann es plötzlich zusammenzubrechen. Eine Erklärung dafür scheint jedoch nicht besonders schwierig zu sein. Der erste Staat mit einem solchen System, die UdSSR, führte jedes wirtschaftliche Nichtfunktionieren in der Zwischenkriegszeit jeweils auf die Auswirkungen der (politischen und wirtschaftlichen) „Einkreisung“ zurück. In den Jahren nach 1945, als die anderen „sozialistischen Staaten“ entstanden, erlebte die kapitalistische Weltwirtschaft eine lange Periode einer unglaublichen Expansion. Jeder einzelne Staat konnte im Grunde ein gutes wirtschaftliches Ergebnis — das heißt hohe Wachstumsraten — vorweisen. In diesem Kontext hatten die „Staaten des real existierenden Sozialismus“ besonders hohe Wachstumsraten (das galt zum Beispiel aber auch für Japan). Gründe dafür waren das Zusammentreffen von friedlichen Rahmenbedingungen, ein zentral gesteuertes und forçiertes extensives Wachstum (,„sozialistische ursprüngliche Akkumulation“) und Produktionsentscheidungen, die nicht nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtet waren (wenn man sie zum Beispiel am ökologischen Langzeitschaden mißt).

Es folgte die Stagnation der kapitalistischen Weltwirtschaft. Die globale Produktion verlangsamte sich nach 1967 mehr oder weniger überall, besonders aber in den peripheren und semiperipheren Zonen der Weltwirtschaft. Dies betraf auch die „sozialistischen Staaten“. Die Regierungen Osteuropas waren im großen und ganzen mit denselben Problemen konfrontiert wie die Regierungen der Staaten der „Dritten Welt“: eine Schmälerung des staatlichen Realeinkommens und innerhalb des Staates eine Veschlechterung der realen ökonomischen Bedingungen für die Arbeiterklasse. Im Prinzip versuchten sie, ihre Probleme auf dieselbe Weise zu lösen wie die Staaten der „Dritten Welt“: die Budgetdefizite wurden durch Auslandsdarlehen finanziert und der ‚Gewinn‘ durch eine Kürzung der Reallöhne erhöht. Das funktionierte auf kurze Sicht (in den 70er Jahren), mittelfristig (in den 80er Jahren) hatte es politische Explosionen zur Folge. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Solidarnosc-Bewegung des Jahres 1980 durch die Bemühungen der von Schulden geplagten Regierung Gierek, die Reallöhne der polnischen Arbeiter durch die Erhöhung der Preise von Massengütern herabzusetzen, ausgelöst wurde.

In dieser schwierigen Situation, für die sie nicht verantwortlich waren, wurden die osteuropäischen Regierungen wie jene der „Dritten Welt“ dazu gezwungen, den Preis für das Überleben von Tag zu Tag neu zu bezahlen, wobei ihnen die Bedingungen vom Weltwährungsfonds vorgeschrieben wurden. Nun ist der ‚Markt‘ in allen Ehren wieder eingerichtet worden. Ich möchte da keine Mißverständnisse aufkommen lassen. Der ‚Markt‘ war natürlich nie gänzlich abwesend. Aber der Charakter der lokalen Entscheidungsinstanzen im Weltmarkt änderte sich wirklich. Tatsächlich wird dies jedoch die ökonomische Realität weit weniger verändern als allgemein behauptet wird. Die Macht der hauptsächlichen Entscheidungsträger auf dem Weltmarkt hat sich nicht verändert. Sicherlich werden die Rentenbezieher andere sein, aber das Leben der Arbeiterschaft wird in wirtschaftlicher Hinsicht nur geringfügig davon betroffen. Was macht es letztendlich für einen Unterschied, ob man Ananas nicht kaufen kann, weil diese für die gesellschaftlich einflußreichen Personen reserviert sind, oder weil man es sich nicht leisten kann, Ananas zu kaufen?

Mehr Ananas für Osteuropa?

Werden die Menschen in Osteuropa jetzt mehr Ananas kaufen können? Alles in allem bezweifle ich das. Die Operationen des Marktes werden nach der teilweisen Eliminierung der kollektiven öffentlichen Handlungsträger den meisten Menschen keine besseren Ergebnisse liefern. Das Problem des real existierenden Sozialismus war nicht ein Übermaß an Planung, sondern ein bedeutendes Planungsdefizit. Auch wenn ich mich wiederhole. Diese Staatsinstanzen verfügten weder über das Wissen noch über die Macht, Produktionsentscheidungen auf der Basis des Gebrauchswertes zu treffen, auch wenn sie dazu den Willen gehabt hätten.

Was gibt es also zu tun? Es stehen uns zwei enorme Probleme ins Haus. Wie können wir erstens die kapitalistische Weltwirtschaft in etwas Besseres verwandeln? Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Strategie, dies mittels Erringung der Staatsmacht zu bewerkstelligen, hat zu einem Bankrott geführt. Viktor Tirado setzte sein Interview fort: „Aus diesem Grunde glaube ich, daß es heute für uns das ratsamste ist, eine Koexistenz mit dem Imperialismus anzustreben, wenn es auch schmerzt so etwas sagen zu müssen.“ Und abschließend: „Wir können eine Etappe nicht einfach überspringen, das zeigen uns die Wahlen in Nicaragua, dies ist eine Lektion, die wir lernen müssen.“ Wenn dem so ist, dann handelt es sich um eine besonders nüchterne Lektion, die alles offen läßt. Wenn wir Schritt für Schritt vorgehen müssen, worin bestehen dann diese Schritte? Und insbesondere: wo gibt es eine Alternative (zur bankrotten Strategie der Staatsmacht), von der man hoffen kann, daß sie sich effizient gegen die mächtige und reiche Schicht, die weiterhin dieses Weltsystem beherrscht, in Szene setzen kann?

Es gibt aber auch noch eine zweite Frage, deren Lösung man nicht länger einer zukünftigen „postrevolutionären“ Epoche überlassen kann: Was ist „Produktion für den Gebrauch“ eigentlich? Wie entscheidet man (und wer macht das?) über die Nützlichkeit, und über welchen Zeitraum wird die Nützlichkeit beurteilt? Welche Art von Institutionen könnte das nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich machen? Wenn es nicht möglich ist, bei der Festlegung der Gebrauchswerte den ‚Markt‘ als irrelevanten Mechanismus beiseite zu lassen, dann kommt dafür eindeutig nur eine Spielart des Marktes in Frage, wie es sie im historischen Kapitalismus noch nie gegeben hat. Es müßte ein Markt sein, in dem niemand mehr eine Kontrolle über die Information oder die Verfügbarkeit der Waren hat, d.h. einer, der frei ist von jeglichen monopolisierenden Praktiken. Wir sollen aber nicht vergessen, daß es keineswegs der Weltwährungsfonds ist, der beabsichtigt, einen solchen Markt zu errichten.

In einem anderen Interview schnitt kürzlich eine von Viktor Tirado sehr verschiedene Persönlichkeit das Thema ‚Markt‘ an. Es handelte sich dabei um Henry Kaufman, einen der einflußreichsten Finanzberater in den USA, dessen Rat den führenden Kapitalfirmen teuer ist. Anläßlich eines Besitzwechsels bei einem der größten Wall-Street-Unternehmen, Drexel Burnham Lambert (diesen Besitzwechsel führte Kaufman auf einen „Mißbrauch des Kreditsystems“ zurück) warnte er vor einer „Schönrednerei“ bezüglich der Tugenden des Marktes und seiner „Disziplin“: „Wenn man das Finanzsystem tatsächlich der Marktdisziplin unterstellt, könnte das eine Insolvenzlawine auslösen.“ Und das wäre wirtschaftlich und politisch ein Desaster.

Nach Kaufman können sich Produzenten in Uganda und Ungarn auf den Markt und seine Disziplin verlassen, nicht jedoch Wall-Street-Makler. Wir sollten in unserer gegenwärtigen Begeisterung für den Markt diese Tatsache nicht aus den Augen verlieren.

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