Grundrisse, Nummer 41
März
2012

Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus marxistischer Sicht

Vorweg möchte ich festhalten, dass ich es nicht für möglich erachte, beide Philosophien in eine weitere Großtheorie zu synthetisieren. Trotz Berührungen und Überschneidungen haben wir es mit letztlich inkompatiblen Ansätzen zu tun. Marx analysiert die Dynamik der gesellschaftlich dominierenden Arbeitsverhältnisse und die darin schlummernden Möglichkeiten der emanzipatorischen Umwälzung. Spinoza hingegen kann präziser als Marx das unzerstörbare und vorgängige Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung zeigen. Vielleicht sollte ich es auch so ausdrücken: Marx zeigt, in welcher sozialen Existenzsituation das Kapitalverhältnis die überwiegende Mehrheit zu fixieren versucht. Spinoza auf sehr allgemeiner Ebene das vorgängige Streben nach Freiheit, Erkenntnis und Selbstbestimmung. Indem Spinoza die dynamischen Resultate des Kapitalverhältnisses, nämlich die Produktion dieses sozialen Verhältnisses selbst nicht thematisieren kann, ist die Spinozistische Philosophie keine umfassende und den geltenden gesellschaftlichen Formen der Arbeit angemessene Theorie der Befreiung.

Was berechtigt uns, bezogen auf Marx wie auf Spinoza überhaupt von einer Theorie der Befreiung zu sprechen, wie ich es soeben getan habe? Es ist das Zusammenspiel von zwei Dimensionen oder Achsen, wie ich es nenne. Mit dem Begriff Achsen möchte ich ausdrücken, dass wir stets von einem sich verändernden Mehr oder Weniger auszugehen haben. Die erste Dimension ist bei Marx die Produktivkraft der Arbeit, bei Spinoza das Tätigkeitsvermögen. Der Begriff des Tätigkeitsvermögens ist umfassender als der Begriff der Produktivkraft der Arbeit und umschließt diesen. Beide Begriffe thematisieren unser materielles, geistiges, kognitives und affektives Einwirken auf Natur und Menschen. Die zweite Dimension ist der Gegensatz von Gezwungenheit und Freiheit. Auf diese Dimension komme ich in Kürze zu sprechen.

Ich betrachte zuerst die Dimension der Produktivkraft bzw. des Tätigkeitsvermögens.

Die Faktoren für die Mächtigkeit der Produktivkraft der Arbeit aber ebenso für das Tätigkeitsvermögen sind weder taxativ aufzuzählen noch abzugrenzen. Marx nennt den Stand der Wissenschaft, die Kommunikations- und Informationsstrukturen, die Naturverhältnisse – kurzum so gut wie alle zivilisatorischen und natürlichen Faktoren. Bei Spinoza verändert jeder Kontakt mit der Welt unser Tätigkeitsvermögen, sei es, dass es dadurch gesteigert, sei es, dass es dadurch vermindert wird. Alle diese Faktoren, von den gesellschaftlichen Verhältnissen bis zu Naturverhältnissen, wirken auf alle Individuen ein, sind jedoch stets individuell gebrochen. Ich gebe ein Beispiel: Die Erfindung und Entwicklung der Schrift, zweifellos ein wesentlicher Faktor für das Tätigkeitsvermögen, garantiert nicht, dass ein bestimmter Mensch auch tatsächlich lesen und schreiben kann. Dies hebt jedoch den wesentlichen Unterschied zwischen schriftlosen Gesellschaften und jenen, die auf der Schrift beruhen, nicht auf.

Welche Ursachen nennen nun Marx beziehungsweise Spinoza, um diese Faktoren, so sie veränderbar sind, zu optimieren, um dadurch die Produktivkraft der Arbeit beziehungsweise das Tätigkeitsvermögen zu erhöhen? Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob die Ursachen derart unterschiedlich bestimmt werden, so dass meine These, der Begriff des Tätigkeitsvermögens – agendi potentiam – schließe den Begriff der Produktivkraft ein, problematisch erscheinen könnte.

Die Ursache des Strebens nach Erhöhung des Tätigkeitsvermögens erklärt Spinoza mittels des Begriffs des conatus. Conatus meint Streben oder den Versuch, im Sein dauerhaft zu verharren. Der conatus ist die aktuale, wirkliche Essenz des sich in der Dauer befindlichen Menschen. Dieses Streben ist uns nach Spinoza stets bewusst. Es umfasst sowohl den Körper wie auch den Geist. Ich zitiere: Es folge, dass „Geist und Körper dasselbe Ding sind, das bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem der Ausdehnung begriffen wird.“ (3p2s) Der conatus drängt nach der Steigerung des Tätigkeitsvermögens. Da uns dieses Streben bewusst ist, schließt Spinoza: „Der Geist strebt, soviel er vermag, sich das vorzustellen, was das Tätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt oder fördert.“ (3p12) Diese Vorstellungen versuchen wir, so uns nichts daran hindert, auch zu realisieren. Ebenso gilt: Alles, was das Tätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt, dessen Idee vermehrt das Denkvermögen des Geistes. Erhöhung und Verminderung des Tätigkeitsvermögens sind unmittelbar affektiv, jede Erhöhung bewirkt Lust oder Freude, jede Verminderung Unlust oder Trauer. Erst mit der Lehre vom conatus, welche Spinoza im dritten Teil der Ethik entfaltet, wird der Mensch tatsächlich Subjekt. Dieses Streben ist unzerstörbar und durch keinerlei äußere Faktoren bewirkt. Das menschliche Subjekt ist bei Spinoza ohne innere Widersprüche, Spaltungen oder Entgegensetzung.

Wie stellt sich die Sachlage bei Marx dar? Der Anstoß zur Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit scheint ausschließlich der Akkumulationslogik des Kapitals selbst innezuwohnen. Kapitale, denen es gelingt, die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhen, lukrieren einen Extramehrwert, bis sich die neuen Produktionsverfahren allgemein durchgesetzt haben. Haben wir es somit mit der Denkfigur der List der Vernunft zu tun? Der Zweck der Erhöhung der Produktivkraft ist der Profit, aber diese Erhöhung impliziert die Steigerung der Gesellschaftskräfte und damit auch in unterschiedlichem und uneinheitlichem Maße die individuellen Fähigkeiten der Menschen. Müssen wir somit folgenden Gegensatz konstatieren: Während für Spinoza der Antrieb zur Steigerung des Tätigkeitsvermögens unmittelbar aus der Essenz des Menschen folgt, bürdet Marx diesen Mechanismus der Logik der Kapitalakkumulation auf? Steigerung der Produktivkraft würde somit bei Marx durch einen dem Subjekt fremden und äußerlichen Mechanismus erzwungen werden.

Gegen diese schroffe Entgegensetzung spricht der Arbeitsbegriff bei Marx selbst und dieselbe schwindet in dem Maße, in dem wir die Unterscheidung zwischen entfremdeter und nicht entfremdeter Arbeit bei Marx berücksichtigen. Wir finden bei Marx, beginnend mit den Frühschriften über das Kapital bis hin zur Kritik des Gothaer Programms die Denkfigur, dass durch die Entäußerung und Vergegenständlichung des Menschen im Arbeitsprozess seine Wesenskräfte erstmals geschaffen werden. Ich zitiere aus dem Kapital: „Indem er“ – der arbeitende Mensch – „durch diese Bewegung“ – die Arbeit – „auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.“ (MEW 23; 192) Allerdings erst unter den Bedingungen der nicht entfremdeten Arbeit kann Arbeit „selbst das erste Lebensbedürfnis“ (MEW 19; 22) werden. Die strukturelle Fremdbestimmung im kapitalistischen Produktionsprozess trennt den Menschen von seinem ersten Lebensbedürfnis. Wohl lässt das Kapitalverhältnis für bestimmte Schichten einen positiven Bezug zur Erwerbsarbeit durchaus zu und fordert bestimmte Kompetenzen. Was das Kapital jedoch niemals ermöglichen kann, ist die tatsächliche und umfassende Selbstbestimmung, ist Autonomie im Arbeitsvollzug.

Wir sehen also: Auch Marx verknüpft das Arbeitsvermögen mit dem Wesen des Menschen. Indem der Mensch durch Arbeit seine eigene Natur verändert, verändert er wiederum sein Tätigkeitsvermögen. Dieser positive Zirkel wird nun durch die Fremdbestimmung in der Lohnarbeit gebrochen.

Ich komme nun auf die zweite Dimension, auf den Gegensatz von Freiheit und Gezwungenheit, zu sprechen. Wobei ich durchaus im Sinne von Marx und Spinoza Freiheit mit Selbstbestimmung und Autonomie, Gezwungenheit mit Fremdbestimmung und Heteronomie synonym setze.

Der Unterschied der Freiheitsdimension zum Tätigkeitsvermögen ist schlagend. Es ist eine Sache, ob ein Kollektiv oder ein Individuum etwas kann und vermag, eine andere, welche Macht bestimmt, ob und in welcher Weise dieses Vermögen eingesetzt wird. Ich kann mehr oder weniger fähig sein, Texte gut und präzise von einer Sprache in die andere zu übersetzen – die Fähigkeit zum Übersetzen ist Teil meines Tätigkeitsvermögens. Diese Tätigkeit kann meinen Interessen und Bedürfnissen entsprechen – ich übersetze Texte, die mir wichtig und wertvoll erscheinen. Andererseits kann ich kann aber auch Texte übersetzen müssen, die ich in jeder Hinsicht ablehne und als nutzlos und schädlich erachte. Die Unterscheidung zwischen den Faktoren der Produktivkraft der Arbeit und ihrem heteronomen bzw. autonomen Einsatz ist für Marx ganz wesentlich. Im Grunde beruht die von ihm reklamierte Wissenschaftlichkeit seiner Analyse auf dieser Unterscheidung. „Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er [der Kapitalist, das personifizierte Kapital] rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.“ (MEW 23; 618) Um diese höhere Gesellschaftsform zu erreichen, ist es jedoch unabdingbar, dass das Kapitalverhältnis und die damit verbundene Fremdbestimmung überwunden werden. Die im Kapitalverhältnis entwickelte Produktivkraft der Arbeit kann sich nur dann mit dem ersten Lebensbedürfnis verbinden, wenn sie selbstbestimmt ausgeübt wird.

Auch für Spinoza ist die Unterscheidung zwischen Tätigkeitsvermögen einerseits und der Freiheit/Unfreiheit andererseits grundlegend. Ich zitiere aus seiner Definition der Freiheit: „Frei heißt ein Ding, das nur aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus existiert und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird;“ (1def7) In der Formel „nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird“ haben wir das Motiv der Selbstbestimmung. Was nun den Ausdruck „aus der eigenen Natur heraus“ betrifft, so ist sein Sinn erneut mittels der Lehre vom conatus zu dechiffrieren. Wie bereits erwähnt, ist der conatus der Versuch oder das Streben jedes tatsächlich in der Dauer sich befindlichen Dinges, in seinem Sein zu verharren. Spinoza nennt den conatus daher auch die aktuale Essenz des Menschen. Wenn es somit gelingt, tatsächlich aus der Notwendigkeit des eigenen conatus heraus zu handeln, dann handeln und sind wir frei. Wie definiert nun Spinoza umgekehrt die Unfreiheit? „[N]otwendig oder vielmehr gezwungen heißt ein Ding, das von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.“ Unfreiheit beruht somit auf Fremdbestimmung, darauf, von einem anderen, also nicht aus sich selbst, zum Sein und Handeln bestimmt zu werden. Es war für mich ein intellektuelles Aha-Erlebnis als ich erkannte, wie sehr diese Definition mit dem Marxschen Denken harmoniert. Identifizieren wir die Notwendigkeit der eigenen Natur mit dem Weltbezug durch Arbeit, so finden wir in der Bestimmung von Freiheit und Unfreiheit durch Spinoza die gesellschaftliche Seinsweise des Proletariats. Es kann sein Tätigkeitsvermögen nicht autonom und selbstbestimmt ausüben, sondern wird von einem anderen – dem Kapital – gezwungen, auf bestimmte Weise zu wirken. Ebenso versucht das Kapital, die gesellschaftliche Seinsweise des Proletariates zu fixieren, nämlich als allgemeines Arbeitsvermögen, welches dem Kapital nach Tunlichkeit zur Verfügung steht. Ich zitiere aus der elaborierten Bestimmung des Proletariats bei Marx: „Im Verhältnis von Kapital und Arbeit sind Tauschwert und Gebrauchswert in Verhältnis zueinander gesetzt […]“ (MEW 42; 193) „Träger der Arbeit als solche, d.h. […] Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht seinen ökonomischen Charakter aus;“ (MEW 42; 218) Die Definition von Unfreiheit bei Spinoza trifft präzise auf das gesellschaftliche Sein des Proletariats zu und charakterisiert trefflich einen wesentlichen Aspekt der Lohnarbeit. Mit Spinoza können wir somit die gesellschaftliche Lage und ebenso die Fremdbestimmtheit seiner Tätigkeit verstehen. Wir können jedoch nicht die dynamischen Prozesse erhellen, die das Proletariat daran hindern, zu Selbstbestimmung voranzuschreiten. Es fehlt die Analyse des Prozesses der Entfremdung. Ich zitiere eine Darstellung bei Marx: „Da der Produktionsprozeß zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23; 596) Diese Analyse ist mit den Denkmitteln Spinozas nicht zu reformulieren.

Ich möchte nun dieses wesentliche Defizit der Spinozistischen Ethik anhand des Begriffs des Handelns bei Spinoza explizieren. Der Begriff des Handelns bietet sich deshalb an, weil er ummittelbar mit dem Begriff der Freiheit und der Selbstbestimmung verknüpft ist. Ich gehe somit von folgender These aus: Da Spinoza keine Analyse der entfremdeten Arbeit kennt, kann er nicht zureichend die Ursachen nennen, die uns am wahrhaften Handeln hindern.

Auch den Begriff des Handelns stellen wir in den Kontext der conatus-Lehre von Spinoza. Wenn ich rekapitulieren darf: Unser Tätigkeitsvermögen wird durch mannigfache Umstände erhöht oder vermindert. Wir streben danach, es zu erhöhen. Wir verändern und wir werden verändert. Diese Veränderungen sind unmittelbar affektiv, sie sind die Ursache für Lust und Unlust. Doch Lust und Unlust zeigen noch mehr an als die bloße Steigerung und Verminderung unseres Tätigkeitsvermögens. Auch die zweite Dimension, der Gegensatz von Freiheit und Gezwungenheit, kommt ins Spiel. Aus der Begierde folgt das Handeln, aus Lust das Streben nach Vollkommenheit. „Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat“ postuliert Spinoza, „desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es, und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es.“ (5p40) Wenn wir aus der Notwendigkeit der eigenen Natur heraus tätig sind, dann handeln wir und streben nach Vollkommenheit, wenn nicht, dann nicht.

Spinoza verwendet nun für das bloße Tätigsein, welches nicht aus unserer Natur folgt, den Begriff Erleiden. Orientieren wir uns am üblichen Wortsinn, so sind Missverständnisse unvermeidbar. Der Gegensatz von Handeln und Erleiden ist keineswegs mit dem Gegensatz von Aktivität und Passivität identisch. Wohl schließt der Begriff des Handelns stets Aktivität ein, doch auch die Affekte des Leidens führen zu Aktivitäten. Diese Aktivitäten des Erleidens sind jedoch von wirklichen Handlungen klar zu unterscheiden. Wir handeln deshalb nicht, weil wir zwar glauben, dass wir unser Sein erhalten, tatsächlich gefährden wir es stattdessen. Wir handeln nur dann, wenn unsere Aktivitäten einzig und allein aus dem Streben folgen, unser Sein zu erhalten, wenn ausschließlich wir die Ursache unserer Aktivitäten sind. „Ich sage, dass wir dann handeln, wenn etwas in uns geschieht oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind.“ (3def2) Adäquate Ursache zu sein bedeutet die einzige und daher klar erkennbare Ursache zu sein.

Ich komme nun zur entscheidenden Frage: Was hindert uns nach Spinoza am Handeln? Diese Frage ist identisch mit der Frage: Was hindert uns an der Freiheit, was hindert uns an der Selbstbestimmung, was an der Tugend?

Erstens: unser Eingebettetsein in die Welt selbst. „Es ist unmöglich, dass der Mensch nicht Teil der Natur ist und dass er nur Veränderungen erleiden kann, die aus seiner Natur allein begriffen werden können und deren adäquate Ursache er ist.“ (4p4) Damit ist nicht gesagt, dass Leiden immer schlecht ist. Das, was auf uns einströmt, kann unser Tätigkeitsvermögen vermindern, aber auch erhöhen. Es kann unsere Fähigkeit zum Handeln erhöhen oder vermindern, ist aber vom Handeln stets zu unterscheiden. Da wir stets Teil der Natur sind, leiden wir immer, es kommt gewissermaßen auf die Quantität des Leidens an, was Spinoza in der Definition des Affekts auch klarstellt. Absolut aus der Notwendigkeit der eigenen Natur zu handeln ist somit eine Grenzbestimmung, der wir uns nur mehr oder minder annähern können. Ich wüsste gegen diesen Aspekt nun keinen Einwand, der sich aus der Marxschen Perspektive ergeben könnte. Auch in einer freien Gesellschaft, so Marx, bleibt das Reich der Gezwungenheit bestehen, wenn auch qualitativ reduziert.

Zweitens: Der Mangel an adäquaten Ideen hindert uns ebenso am Handeln. Spinoza stellt diese Bestimmung an den Beginn des dritten Teiles seiner Ethik, ich zitiere: „Hieraus folgt, dass der Geist um so mehr dem Leiden unterworfen ist, je mehr inadäquate Ideen er hat, dass er dagegen um so mehr handelt, je mehr adäquate Ideen er hat.“ (3p2c) Das führt uns zum diffizilen und komplexen Problem, wie der Geist seine inadäquaten Ideen minimieren und in adäquate Ideen weiterführen kann. Die Frage, was uns am Handeln hindert, ist somit auch mit der Frage verknüpft, was uns daran hindert, adäquate Iden zu bilden? Auch beim Geist ist zwischen Tätigkeitsvermögen und Freiheit zu unterscheiden. Das Tätigkeitsvermögen des Geistes entspricht der Quantität seines Auffassungs- oder Erfassungsvermögens. Wenn Spinoza postuliert: „Der menschliche Geist ist befähigt, vieles zu erfassen und umso befähigter, auf je mehr Weisen sein Körper disponiert werden kann“ (2p14), so meint „vieles erfassen“ keineswegs vieles auch adäquat zu erfassen. Das Tätigkeitsvermögen des Körpers korrespondiert mit dem Tätigkeitsvermögen des Geistes. „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes.“ (3p11) Spinoza spricht hier explizit nicht von adäquaten Ideen, sondern eben vom Denkvermögen, cogitandi potentiam, unseres Intellekts.

Einen Faktor, der das quantitative Verhältnis zwischen den inadäquaten zugunsten der adäquaten Ideen verschieben könnte, meine ich in Spinozas Lehrsätzen über die Allseitigkeit des Affizieren und Affiziertwerden gefunden zu haben. „Das, was den menschlichen Körper so disponiert, dass er auf viele Weisen affiziert werden kann, oder was ihn fähig macht, äußere Körper auf viele Weisen zu affizieren, ist dem Menschen nützlich und um so nützlicher, je fähiger der Körper dadurch gemacht wird, auf viele Weisen affiziert zu werden und andere Körper zu affizieren.“ (4p38) Und Spinoza setzt hinzu: „Je mehr der Körper hierzu fähig gemacht wird, desto fähiger wird der Geist zum Erkennen gemacht.“ (4p38dem) Einseitigkeit, auch wenn sie Lust zur Folge hat, wird von Spinoza als einschränkend und daher negativ bezeichnet. Wenn die Begierde, so Spinoza, keine Rücksicht auf den ganzen Menschen nimmt, dann kann auch Lust ein Übermaß haben.

Auch bei diesem Thema finden wir Berührungspunkte mit Marx. Reduktion, Einschränkung, Fixierung auf bestimmte Lebensvollzüge ist für Marx stets negativ. Umgekehrt hält Marx Allseitigkeit und wahren Reichtum für Bedingungen wie für Resultat von Freiheit: So lesen wir in den Grundrissen, einer Vorarbeit zum Kapital: „In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?“ (MEW 42; 395f) Eine Gesellschaft des wahren Reichtums könnte also bewirken, was Spinoza für Befreiung als grundlegend erachtet: „Der letzte Zweck des von der Vernunft geleiteten Menschen oder seine höchste Begierde, durch die er alle übrigen zu lenken trachtet, ist daher diejenige [Begierde], durch die er dahin gebracht wird, sich und alle Dinge, die in den Bereich seines Erkenntnisvermögens fallen können, adäquat zu begreifen.“ (Hauptsatz 4)

Wir finden somit drei Hemmnisse für unser Handeln bei Spinoza. Zwei wurden bereits genannt: Erstens die unaufhebbare Verwobenheit in die Natur, zweitens der Mangel an wahrer und adäquater Erkenntnis und drittens der Status der anderen. Aus der Marxschen Perspektive ist der dritte Grund doch sehr mangelhaft und unzureichend. Warum?

Wenn wir die Verhältnisse betrachten, die Spinoza in seiner Ethik thematisiert, finden wir zwar vergesellschaftete Menschen, die des Gemeinwesens unbedingt bedürfen, aber sie wirken seltsam nebeneinander gestellt. Kein gemeinsames Tun, kein Arbeitsprozess verbindet sie. Die von Spinoza analysierten Mechanismen der affektiven Beziehungen gelten bereits dann, wenn sich Menschen an einem Ort aufhalten, als Nachbarn nebeneinander wohnen oder gemeinsam bestimmte Orte frequentieren. Spinoza unterstellt einfach vergesellschaftete Menschen ohne bestimmte und spezielle Beziehungen. Dies lässt sich aus auch aus den Formulierungen entnehmen, mit denen er positive Verhältnisse beschreibt. Als Nachbarn sollen wir „in Eintracht leben“ (4p40dem), uns mit anderen in „Freundschaft“ (Hauptsatz 12) verbinden.

Gemeinsame Aufgaben oder Problemlösungen untersucht Spinoza nur auf der Ebene des politisch konstituierten Gemeinwesens, etwa in der Frage der Abwehr von Feinden oder hinsichtlich einer wirkungsvollen Bündnispolitik. Der durch die Konstitution geschaffene Gesellschaftszustand hebt nun die Gesetze der menschlichen Natur keineswegs auf, sondern beruht auf diesen. Wenn wir die Analyse der sozialen Verhältnisse bei Spinoza verstehen wollen, so dürfen wir nic, aumgekehrt den Gesellschaftszustand ausgehend von der Dynamik des conatus begreifen. Da der Naturzustand bei Spinoza nie aufgegeben werden kann, sondern den Gesellschaftszustand gewissermaßen trägt, müssen wir die Modi der sozialen Verhältnisse aus dem Naturzustand selbst verstehen. Und dort finden wir kein gemeinsames Tun, keine verbindenden Prozesse.

Die vergesellschafteten Menschen in der Ethik Spinozas leben wohl in einem Gemeinwesen, sind jedoch nicht durch einen gemeinsamen Arbeitsprozess miteinander verbunden. Durch Mangel an Sein und an Erkenntnis geraten sie in Konflikt, sie glauben fälschlich, durch bestimmte Aktionen ihr Sein erhalten zu können, etwa indem sie den gehassten Gegenstand zu zerstören suchen – doch diese Affekte beruhen auf inadäquaten Ideen. Spinoza unterstellt jedoch kein soziales Verhältnis, welches mit Notwendigkeit Herrschaft und Knechtschaft impliziert. Dass es soziale Verhältnisse gibt, die das Handeln für Subalterne systematisch und strukturell ausschließt, diesen Ansatz finden wir bei Spinoza nicht. Und ebenso wenig den Gedanken, dass in diesem Verhältnis erneut die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen für dieses Verhältnis selbst produziert werden.

Betrachten wir den Mangel bei Spinoza aus der Perspektive der Maximierung der Freiheit. Also, nicht was hindert uns am Handeln, sondern umgekehrt, was ermöglicht uns das Handeln? Diese Frage ist mit der Frage verknüpft: Auf welchen Bedingungen beruht ein freies Gemeinwesen, welches mehr oder weniger für die Freiheit der Einzelnen Voraussetzung ist? Spinoza thematisiert diese Problematik mittels der Begriffe der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung. Wenn die Menschen tatsächlich und nicht bloß in ihrer Einbildung versuchen, ihr Sein zu erhalten, sondern geleitet von wahren Ideen, dann stimmen sie immer notwendig überein. Wenn nicht, dann können sie in Gegensatz geraten, müssen es aber nicht mit Notwendigkeit. Wir finden ein zirkuläres Verhältnis bei Spinoza: Je mehr Menschen der Vernunft folgen, desto mehr stimmen sie überein, desto mehr wirken sie positiv auf andere. Umgekehrt: Je mehr die Menschen von Leiden bestürmt werden, also anstatt zu handeln fremdbestimmte Aktivitäten setzen, desto problematischer wirken sie auf andere. Die Übereinstimmung besitzt einen pragmatischen Aspekt. „Es gibt in der Natur nichts Einzelnes, was den Menschen nützlicher wäre als der Mensch, der nach der Leitung der Vernunft lebt.“ (4p35c1) Es wäre jedoch irreführend, die Übereinstimmung bei Spinoza bloß als Optimierung von Mächtigkeit zu interpretieren, nach der Logik, zwei vermögen mehr als einer, drei mehr als zwei. Eine bloße Koppelung an sich verschiedener Interessen ist zu schwach, um Übereinstimmung zu stiften.

Die Übereinstimmung muss sich auf den Gegenstand des Erkennens erstrecken. Spinoza sagt uns auch sehr klar, was der Geist erkennen muss, wenn er tatsächlich erkennt, wenn er tatsächlich handelt. Es ist das nicht knappe Gut Gott. „Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste Tugend des Geistes ist es, Gott zu erkennen.“ (4p28) Nur zur Klarstellung: Der Gott Spinozas hat mit dem theologischen Gott der Religionen nichts gemein. Wer Gott erkennt, erkennt die Welt. Oder, wie es Spinoza im 5. Teil ausspricht: „Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, umso mehr erkennen wir Gott.“ (5p24) Wenn Spinoza nun davon spricht, dass allen, die den Weg der Tugend gehen und somit wahrhaft handeln, das höchste Gut gemeinsam ist und es als nicht knappes Gut keine Besitzansprüche, keinen Neid und keine Eifersucht bewirken kann, so ist diese Aussage mit Marx kompatibel. Auch bei Marx muss eine freie Gesellschaft auf nicht knappen Gütern beruhen, und dieses nicht knappe Gut ist die Vergesellschaftung selbst.

Die freie Gesellschaft, die auf freien Individuen beruht, ist eine Gesellschaft von Menschen, die begreifen, dass das Wichtigste für ihre Freiheit die Freiheit der anderen ist, die versuchen, sich in Liebe zu verbinden, wobei die Liebe zum Sein, welches, identifiziert mit dem eigentümlichen Gottesbegriff bei Spinoza durch inneres Leuchen erstrahlt, ihre gegenseitige Liebe und Freundschaft stabilisiert. Es fehlt jedoch völlig die Einbeziehung der materiellen wie geistigen Produktion und Reproduktion der Gesellschaft, und zwar sowohl hinsichtlich der geltenden gesellschaftlichen Formen als auch hinsichtlich möglicher zu antizipierender Momente einer freien Gesellschaft. Inwiefern uns das Kapitalverhältnis am tatsächlichen Handeln hindert und welche Formen der gesellschaftlichen Arbeit überwunden werden müssen, um Handeln zu ermöglichen, kann Spinoza nicht thematisieren. Dass die gesamte Dimension des Kapitalverhältnisses bei Spinoza fehlt, dafür ist er nicht zu rügen. Nach meiner Auffassung konnte selbst von Frühkapitalismus in den Vereinigten Provinzen zu Lebenszeit Spinozas keine Rede sein. Er konnte die Bedeutung des Klassenverhältnisses nicht erkennen, weil es nichts zu erkennen gab. Aber wir können es.

Wenn Spinoza in seiner Definition der Gezwungenheit und der Freiheit davon spricht, dass ein anders Ding jemanden zwingt „auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren“ (nämlich in der proletarischen Existenzsituation zu verharren) „und zu wirken“, so formuliert unser Philosoph auf höchster Abstraktionsstufe die Bedingungen für Unfreiheit und umgekehrt ebenso die Bedingungen der Freiheit. Dass Spinoza die Dynamik der Unfreiheit, wenn ich nun das Kapitalverhältnis so bezeichnen darf, nicht erkennen konnte, ist ein Mangel, den wir in der Rezeption, so wir dem Denken Spinozas Aktualität verleihen wollen, zu berücksichtigen haben.

Wir können jedoch durchaus im Sinne Spinozas den ersten Lehrsatz des vierten Teils auf ihn selbst anwenden. „Nichts von dem, was eine falsche Idee Positives enthält, wird durch die Gegenwart des Wahren, insofern es wahr ist, aufgehoben.“ (4p1) Setzen wir für die falsche Idee die Ethik Spinozas ein. Sie ist mangelhaft, da sie den Prozess der entfremdeten Arbeit nicht erfassen kann, aber sie enthält Positives. Sie thematisiert auf sehr abstrakter Ebene das Wechselspiel zwischen Tätigkeitsvermögen und Freiheit, somit jene zwei Achsen, die jede Theorie der Befreiung nach meiner Auffassung beinhalten muss. Reduzieren wir alles auf das Tätigkeitsvermögen, so kreieren wir eine eindimensionale Welt des Ja oder Nein zu dieser Produktivität. Lassen wir diese Dimension fallen und fokussieren wir auf geistige Erkenntnis, so entmaterialisiert sich Freiheit und Vernunft. Das Wechselspiel dieser Dimensionen gezeigt zu haben, ist ein wesentlicher Aspekt des Positiven der Ethik Spinozas. Akzeptieren wir die Marxsche Theorie als Gegenwart des Wahren, so hebt nun dieses Wahre, insbesondere die Figur der entfremdeten Arbeit, die Erkenntnisse Spinozas keineswegs auf.

Sigel:

Folgendes Zitierprinzip der Ethik Spinozas wurde angewandt: Die Teile der Ethik werden mit arabischen Ziffer angegeben, der darauf folgende Kleinbuchstabe bestimmt die Satzart (z.B. p = propositio, Lehrsatz), danach die Nummer plus eventuell weitere Spezifikation nach demselben Prinzip. 4p37s2 bedeutet also 4. Buch, 37. Lehrsatz, Anmerkung 2. Folgende Abkürzungen wurden verwendet:

a = axioma, Axiom
app = appendix, Anhang
c = collarium, Zusatz
cap = caput, Hauptsatz
d = definitio, Definition
dem = demonstratio, Beweis
lem = lemma, Hilfssatz
p = propositio, Lehrsatz
post = postulatum, Postulat
praef = praefatio, Vorwort
s = scholium, Anhang
exp = explicatio, Erläuterung

Die Texte von Marx werden nach MEW (Marx Engels Werke, Berlin 1965ff) mit Bandzahl und Seite zitiert.

Zitierte Literatur:

  • Marx, Karl, (MEW 19) „Kritik des Gothaer Programms“, Seite 13-32
  • Marx, Karl, (MEW 23) „Das Kapital, Band 1“
  • Marx, Karl, (MEW 42) „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“
  • Spinoza, Baruch, (1997) „Die Ethik“, lateinisch und deutsch, revidierte Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart
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