Internationale Situationniste, Numéro 1
 
1976

Beitrag zu einer situationistischen Definition des Spiels

Nur dadurch kann man der Wortkonfusion und der praktischen Verwirrung entgehen, die den Begriff des Spiels umnebeln, dass man ihn in seiner Bewegung betrachtet. Nach zwei Jahrhunderten der Negation durch eine ständige Idealisierung der Produktion stellen sich die primitiven sozialen Funktionen des Spiels nur noch als entartete Überbleibsel dar, die mit unteren, direkt aus den Notwendigkeiten der jetzigen Organisation dieser Produktion herrührenden Formen vermengt sind. Zu gleicher Zeit treten fortschrittliche Tendenzen des Spiels selbst in Verbindung mit der Entwicklung der Produktivkräfte hervor.

Anscheinend sollte die neue Anerkennungsphase des Spiels durch den Wegfall jedes Konkurrenzgedankens gekennzeichnet werden. Die Frage des Gewinnens bzw. Verlierens, die von der Spieltätigkeit bisher fast nicht zu trennen war, erweist sich als verbunden mit allen anderen Konflikten zwischen den Individuen bei der Aneignung von Gütern. Das Gefühl, dass es wichtig ist, im Spiel zu gewinnen — ob es sich dabei um konkrete oder öfters trügerische Befriedigungen handelt —, ist das schlechte Produkt einer schlechten Gesellschaft. Es wird natürlich durch alle konservativen Kräfte ausgenutzt, die sich dessen bedienen, um die von ihnen aufgezwungene Eintönigkeit und Scheusslichkeit der Lebensbedingungen zu verschleiern. Es genügt, sich an all die Forderungen zu erinnern, von denen der Wettkampfsport ablenkt, der sich in seiner modernen Form in England gerade gleichzeitig mit der Industrialisierung durchsetzte. Die Menge identifiziert sich nicht nur mit Profis oder Klubs, die die gleiche mythische Rolle wie die an ihrer Stelle lebenden Filmstars und entscheidenden Staatsmänner übernehmen, sondern die endlose Resultatenfolge dieser Wettkämpfe begeistert sogar immer wieder die Beobachter. Die direkte Teilnahme an einem Spiel — und sogar an einem von denen, die eine gewisse geistige Übung verlangen — ist genauso wenig interessant, sobald es darauf ankommt, einen Wettkampf für sich selbst im Rahmen feststehender Regeln zu akzeptieren. Nichts zeigt die zeitgenössische Verachtung gegenüber dem Spielbegriff so sehr wie die überhebliche Feststellung am Anfang von Tartakowers „Handbuch des Schachspiels“: „Das Schachspiel wird als König der Spiele allgemein anerkannt“.

Das Wettkampfselement muss einer wirklich kollektiveren Auffassung des Spiels — der gemeinsamen Schaffung der gewählten Spielbedingungen — weichen. Der zu überwindende Hauptunterschied liegt zwischen Spiel und gewöhnlichem Leben, wobei das Spiel für eine isolierte und vorübergehende Ausnahme gehalten wird. „Es verwirklicht“ — so Johan Huizinga — „eine zeitweilige und begrenzte Vollkommenheit in der Unvollkommenheit der Welt und der Verwirrung des Lebens“. Das gewöhnliche Leben, das bisher durch das Problem der Unterhaltsbeschaffung bedingt war, kann rationell beherrscht werden — diese Möglichkeit steht im Mittelpunkt aller Konflikte unserer Zeit — und das Spiel muss in das gesamte Leben eindringen, indem es mit seinem bornierten Raum und seiner bornierten Zeit radikal bricht. Die Vollkommenheit kann nicht sein Ziel sein, wenigstens nicht in dem Maße, wie sie eine statische, dem Leben entgegengesetzte Konstruktion bedeutet. Man kann sich aber vornehmen, die schöne Verwirrung des Lebens bis zur Vollkommenheit zu treiben. Der Barock, den Eugénio d’Ors die „Vakanz der Geschichte“ nannte, um ihn endgültig zu begrenzen, sowie das organisierte Gebiet jenseits des Barocks sollen in der nahen Herrschaft der Freizeit viel Raum erhalten. In dieser historischen Hinsicht erscheint das Spiel — das permanente Experimentieren mit Spielneuheiten — keinesfalls ausserhalb der Ethik, der Frage nach dem Sinn des Lebens zu stehen. Der einzige beim Spiel erdenkliche Erfolg ist der unmittelbare Erfolg seiner Umgebung und die ständige Verstärkung seiner Macht. Genau zu der Zeit, wo das Spiel sich bei seiner jetzigen Koexistenz mit den Überbleibseln der Verfallsphase nicht ganz vom Aspekt der Konkurrenz freimachen kann, muss es mindestens darauf hinzielen, günstige Bedingungen für das wirkliche Leben zu schaffen. In diesem Sinne ist es immer noch Kampf und Darstellung — Kampf für ein der Begierde angemessenes Leben und konkrete Darstellung eines solchen Lebens.

Das Spiel wird wegen seiner Randexistenz gegenüber der erdrückenden Wirklichkeit der Arbeit als unwirklich empfunden, die Arbeit der Situationisten besteht aber gerade darin, die zukünftigen Möglichkeiten des Spiels vorzubereiten. Man kann sich also dazu versucht fühlen, die situationistische Internationale in dem Maße zu vernachlässigen, wie man einige Aspekte eines grossen Spiels leicht bei ihr erkennt. „Dennoch“, sagt Huizinga, „wir haben schon bemerkt, dass dieser Begriff des ‚Nur-Spielens‘ die Möglichkeit keineswegs ausschliesst, dieses ‚Nur-Spielen‘ mit äußerstem Ernst durchzuführen …“

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