Café Critique, Jahr 1997
Dezember
1997

Beten zu Dionysos

Antonio Negris und Michael Hardts Staatskritik

Antonio Negri zählte neben Mario Tronti und den Autoren der Zeitschrift Quaderni Rossi in den 60er und 70er Jahren zu den wichtigsten Theoretikern der operaistisch orientierten italienischen Neuen Linken. Im deutschsprachigen Raum hatte er vor allem bei Spontis und Autonomen seine Fans. In der Mehrzahl werden diese sich für die neuen und neu aufgelegten Arbeiten Negris jedoch kaum mehr interessieren. Während der Großteil seiner ehemaligen Bewunderer heute den Anschluß an Marktwirtschaft, bürgerliche Demokratie und Vaterland gefunden hat, ist die Intention von Negris theoretischen und praktischen Anstrengungen die gleiche geblieben. Es geht ihm nach eigenem Bekunden nach wie vor um nichts weniger als die Errichtung des Kommunismus.

Die Edition ID-Archiv hat in einem ihrer bisher umfangreichsten Übersetzungsprojekte einen vor einigen Jahren von Negri gemeinsam mit dem Philosophen und Literaturwissenschaftler Michael Hardt auf englisch veröffentlichten Text und einen Aufsatz Negris, der aus den 70er Jahren stammt, zusammengefaßt. Beginnt man die ersten Seiten des so entstandenen Buches zu lesen, bleibt man zunächst skeptisch. Da ist von den „wilden Energien der lebendigen Arbeit“ (S. 5), auf die die Autoren ihre Hoffnungen setzen und den „schöpferischen, dionysischen Gewalten der Unterwelt“ (S. 6), denen sie ihr Buch widmen, die Rede. Ist man sich darüber bewußt, daß im Kapitalismusdas Kapital mitunter zwar als Verhältnis zu sich selbst erscheint, diese Gesellschaftsformation ihrem Wesen nach aber von Kapital und Arbeit geprägt ist, Arbeit daher zunächst einmal immer eines der beiden konstituierenden Elemente des Kapitalverhältnisses und daher konstruktiv ist, muß einem Negris und Hardts Festhalten an der prinzipiell destruktiven Kraft der Arbeit stutzig machen. Man ist jedoch für die nächsten Kapitel gespannt, wo die beiden Autoren das widerständige Subjekt, das mittels dieser destruktiven Kraft zur Revolution voranschreiten soll, inmitten der finsteren Zeiten ausmachen werden.

Bevor Negri und Hardt zu ihrer eigentlichen Kritik des postmodernen Staates und seiner ideologischen Begleitmusik kommen, bietet Negris Aufsatz zu den „Grenzen der Staatstheorie“ einen Überblick über die Auseinandersetzungen in der Staatskritik der 70er Jahre. Die STAMOKAP-Theorien werden von ihm kritisiert und ihre Entstehung zu Recht aus der reformistischen Orientierung der westeuropäischen kommunistischen Parteien erklärt. Bei der Darstellung und Kritik weiterer Richtungen vermeidet Negri die inzwischen üblich gewordene, nicht nur den kruden Ökonomismus des dogmatischen Marxismus verwerfende, sondern jegliche materialistische Staatskritik diskreditierende prinzipielle Diffamierung der sogenannten „Staatsableitung“. Er stellt sowohl die anfänglich hauptsächlich im englisch- und französischsprachigen Raum rezipierten Theorien Poulantzas und Millibands als auch die für den deutschsprachigen Raum bedeutsamen Arbeiten von Müller/Neusüß, Altvater, Offe und anderen dar.

Rawls und Co

Wie Marx Ricardo und Smith gelesen und als objektive Denker des Kapitals kritisiert hat, nehmen sich Negri und Hardt die heutigen objektiven Denker der Form Staat vor, um einerseits deren Unzulänglichkeiten zu kritisieren, andererseits aber gleichzeitig die Notwendigkeit dieser Unzulänglichkeiten herauszustreichen. Die Gründe für die Mängel und Verkehrungen in den neueren bürgerlichen Ansätzen zur Staatstheorie und auch in der politischen Theorie im allgemeinen entdecken sie in den strukturellen Transformationen der gegenwärtigen Gesellschaft. So können sie erklären, wie beispielsweise John Rawls’ Theorien zur Gerechtigkeit trotz ihrer fundamentalen Mängel — Negri und Hardt führen vor allem die Fixierung auf die Zirkulation bei gleichzeitiger Ausblendung der Produktion an — „nicht nur anerkannt, sondern sogar hegemonial werden“ ( S. 77) konnten.

Von der eingehenden Auseinandersetzung mit Rawls gelangen sie über Richard Rorty zu Niklas Luhmann und deren jeweilige Kritikerinnen und Kritiker. Den scheinbar emanzipativen Gehalt sowohl liberaler als auch kommunitaristischer Theorien negieren sie zu Recht, indem sie die Konstruktionen der neuen Ikonen der Politikwissenschaft und der Soziologie zuEnde denken, deren repressiven Kern freilegen und so in ihnen eine „Verfeinerung und Erweiterung der deutschen Tradition der Polizeiwissenschaft“ (S. 93) erkennen. Immer wieder beziehen Negri und Hardt ihre Kritik dabei auf praktische Beispiele. Der in derTheorie verbreiteten Ansicht, der neoliberale Staat bediene sich einer schlanken Form von Herrschaft, halten sie die neoliberale Praxis, in der der Staat „als starkes und autonomes Subjekt befestigt und erweitert“ (S. 100 f.) wird, entgegen.

Entsprechenddem von ihnen mit Bezug auf Marx konstatierten Schritt von der formellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital zur realen, betrachten Negri und Hardt die reale Subsumtion der Gesellschaft unter den Staat als zentrales Element dessen, was sie mit Postmoderne bezeichnen. In der Phase der realen Subsumtion erscheint die Produktion mehr noch als früher als „kapitalistischer Automat“. Sie erhält eine „objektive Qualität“. (S. 79) Das heißt, in der Postmoderne — mit Negri und Hardt verstanden als Phase der realen Subsumtion — kommt es zu weitergehenden Mystifikationen und Fetischisierungen des Kapitals. Ist das Kapital endgültig zum scheinbar wie zugleich realen automatischen Subjekt mutiert, brauchen Theoretiker wie Rawls die zentrale Stellung der Arbeit in der Produktionssphäre nicht mehr zu berücksichtigen.

Cyborgs und Kommunismus

Gegen diese Ausblendung der Produktion aus der Theorie setzen Negri und Hardt ihre Untersuchung der neuen Qualität des „gesellschaftlichen Arbeiters“. Und siehe da, sie entdecken ihr revolutionäres Subjekt: den Cyborg. „Organlose Körper, Menschen ohne Eigenschaften“, das seien „die neuen Erscheinungsweisen von Subjektivität“ und zugleich die „subjektiven Formen der Voraussetzungen des Kommunismus in der Gegenwart.“ (S. 19) Der heutige „gesellschaftliche Arbeiter“, der Cyborg, sei die „hybride Verbindung von Maschine und Organismus“ (S. 143) Die lebendige Arbeit verkörpere heute eine derartige Massenintellektualität, daß sich ihre Organisation bereits „unabhängig von der kapitalistischen Arbeitsorganisation“ (S. 142) vollziehe. Die Subjekte seien heute dermaßen autonom geworden, daß es keinen Grund für eine „übergreifende, souveräne Macht außerhalb ihrer eigenen Macht“ (S. 177) mehr gebe. Der postmoderne Staat ist also noch viel überflüssiger als alle vorangegangenen.

Auch wenn man dem zustimmt, bleibt unklar, warum die Autoren daraus folgern, daß nun der „Antagonismus der lebendigen Arbeit gegen diese Produktionsverhältnisse sichtbar (wird) und damit die Möglichkeit des Kommunismus aufbisher nicht gekanntem Niveau“ (S.22) erscheint. Welchen Sinn macht es, einen Antagonismus theoretisch zu konstatieren, der real, im Bewußtsein der Subjekte, so nicht existiert? Warum glauben sich Negri und Hardt trotz aller Einschränkungen dem „Triumph gleichwohl nahe“ (S. 149)? Sie mögen ja recht haben, mit ihrer trotzigen Voraussage, daß es, solange es Kapital und Staat gibt, immer auch antagonistische Kräfte geben wird. Aber ein Triumph wäre wohl doch etwas mehr als die Gewißheit über fortgesetzten Widerstand. Es fragt sich auch, wo die beiden Autoren antagonistische Kräfte zu Staat und Kapital ausmachen. Sie schreiben: „Es gibt keinen Arbeiterkampf, der nicht unmittelbar ein Kampf auf dem Terrain der Überwindung, ein Kampf für den Kommunismus, ein Kampf für die Auslöschung des Staats wäre.“ (S. 64) Wohlwollend könnte man Negri und Hardt unterstellen, für sie wären eben nur Kämpfe solchen Inhalts wirkliche Arbeiter- und Arbeiterinnenkämpfe. Nur müßte man sich dann fragen, wie all die anderen von Arbeitern und Arbeiterinnen geführten Kämpfe, die keineswegs auf diesem Terrain der Überwindung stattfinden, zu nennen wären. Es liegt also nahe, den Satz dahingehend zu interpretieren, daß für Negri und Hardt einfach immer, wenn die Personifikationen des variablen Kapitals um irgendetwas kämpfen, der Antagonismus zu Staat und Kapital gegenwärtig ist. Und kommt er nicht so ganz klar heraus, weil die Arbeiter und Arbeiterinnen ihre Interessen in der Regel als wertfetischistische nationalistische Staatsbürger und -bürgerinnen, als das Kapitalverhältnis mitkonstituierende bürgerliche Subjekte in der Form von Rechten einfordern, gibt es ja die Intellektuellen, die zu Dionysos beten, bis die lebendige Arbeit doch wieder so wild und antagonistisch ist, wie sie es zu sein hat.

Zu empfehlen ist das Buch hingegen wegen seiner klaren Absage an jede Form des Reformismus, die es von anderen Veröffentlichungen zur Staatstheorie aus der letzten Zeit angenehm unterscheidet. Zumal Negri und Hardt für diese Absage nett zu lesende Formulierungen finden: „Es ist nicht mehr unser Problem, die Unmöglichkeit des Reformismus zu demonstrieren — er ist nicht nur unmöglich, sondern auch langweilig, verkehrt, wiederholend und grausam. Der Staat ist nicht mehr zu rechtfertigen, nicht einmal mit Ironie.“ (S. 174)

zuerst erschienen in Jungle World 6/1997 und Volksstimme 50/1997)


Antonio Negri/ Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne. Aus dem Italienischen und Englischen von Thomas Atzert und Sabine Grimm. Edition ID-Archiv: Berlin 1997, 192 Seiten, 32,— DM