FORVM, No. 428/429
August
1989

Christlichsoziale Marktwirtschaft

Oder: Kirche, bleib bei Deinem Beichtstuhl

Die ÖVP, im Vollbesitz ihrer Erbseligkeit, veranstaltete ein Hearing gegen den geplanten „Sozialhirtenbrief“ der Österreichischen Bischöfe, am 16. Juni im Wiener Luxushotel „Marriott“ — ein Beweis für die Stilsicherheit der Veranstalter, findet unser Redakteur Klaus Nüchtern, und konstatiert auch sonst eine Armut im Geiste.

Professor Doktor Doktor Robert Prantner, Theologe und ÖVPler (oder umgekehrt) und seit seinem Auftritt mit/gegen Karlheinz Deschner im Club 2 (Prantner: „Wer besitzt Sie?“ Deschner: „Der Teufel, wer sonst?!“) Geheimtip der heimischen Unterhaltungsbranche, lehnt es ab, von „Diskussion“, respektive „diskutieren“ zu sprechen. Bekanntlich leiten sich diese Wörter nämlich vom lateinischen „diskutere“ her, was soviel wie „zerschneiden“ bedeute. Um derartige Konnotationen (bei einer humanistisch gebildeten Zuhörerschaft) zu vermeiden, spricht Prof. DDr. Robert Prantner lieber von „Dialog“ — „in jemanden hineinreden“, wie er es dem Publikum ausdeutscht. Fast hätt’ er’s getroffen. „Es jemandem hineinsagen“ (wienerisch: „einisog’n“) hätte präzise jene Formulierung gelautet, die dem ÖVP-Hearing zur Diskussion des Grundtexts zur Diskussion zur Vorbereitung des Sozialhirtenbriefes adäquat gewesen wäre. Verschiedene Repräsentanten der Volkspartei hatten Gelegenheit, Vertretern des Klerus (Bischof Aichern und Prälat Zimmel) mitzuteilen, was in dem Grundtext (Titel: „Sinnvoll arbeiten. Solidarisch leben“) hätte drinstehen sollen, und nützten sie weidlich. Resumée: nicht das!

Ins Rollen gekommen war der Konflikt zwischen christlich-katholischer Kirche und deren Trägerpartei durch einen Artikel „aus der Feder des engagierten Katholiken Dr. Herbert Kohlmaier“ (Vorspann) mit dem Titel „Karl Marx läßt grüßen“ in der „Industrie“ vom 16. November vorigen Jahres. Kohlmaiers dort gedruckte Analyse, derzufolge die Lösungsvorschläge des Grundtextes „unverkennbar marxistische Wurzeln“ (S. 8) hätten, wurden beim ÖVP-Hearing von Prof. DDr. Prantner noch präzisiert: „Spätmarxismus nach Michael Gorbatschow“, lautete das Verdikt.

Abgeordneter und gerade-erst-Ex-Sozialsprecher Dr. Walter Schwimmer enthielt sich explizit des Marxismus-Vorwurfs und versuchte stattdessen, gleich seinen Parteikollegen, den Nachweis zu erbringen, daß der Grundtext an den wesentlichen Problemen vorbeigehe, einige andere dafür selektiv überbewerte. Wie die Landtagsabgeordnete, Universitätsdozentin Dr. Irene Dyk, die die „Wertigkeit von Arbeit“ im Grundtext angesichts einer „Freizeitgesellschaft“ als „überschätzt“ ansieht und die Ausrichtung des Solidaritätsbegriffes auf die Arbeit beklagt, wie Prof. Prantner, der die Verabsolutierung der Arbeit als Lebensproblem kritisiert, ist auch Schwimmer der Meinung, daß die entscheidenden sozialen Probleme nur sekundär mit der Arbeit zu tun hätten.

Während der Grundtext feststellt, daß „Einkommens- und Lebenschancen ausschließlich über Erwerbsarbeit verteilt“ (S. 6) werden und Überlegungen anstellt, ob nicht, einerseits, etwa durch „eine Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Sozialleistungen“ „die sozialstaatlichen Einrichtungen den geänderten Bedingungen angepaßt werden“ (S. 13) müßten, anderseits, „neben Erwerbsarbeit sinnvolle, nicht entlohnte Tätigkeiten aufgewertet werden“ (S. 7) könnten, sieht Schwimmer das ganz anders:

Das Problem liege, erklärt er, weder darin, daß es an Geld und Arbeit mangle, noch darin, daß nicht alle wertvolle Arbeit anerkannt und bezahlt werden würde, vielmehr nehme gerade die Bereitschaft zu unbezahltem solidarischem Handeln bei zunehmenden Löhnen und steigender Freizeit ab. Früher, ja früher, als es noch einen 12- bis 14-Stundentag gab, da hätten die Gewerkschafter in ihrer spärlichen Freizeit sich noch für die Kollegen eingesetzt, heute gehe ohne Dienstfreistellung gar nichts mehr. Werte, die schlecht bezahlten Menschen noch bewußt gewesen seien, habe heute die Überbetonung des Geldwertes verdrängt. Die logische Folgerung für die Re-Solidarisierung, die zu ziehen Schwimmer allerdings dem Publikum überläßt: Lohnkürzungen und Arbeitszeiterhöhung.

Die Dame neben mir schüttelt den Kopf: „Kein Wunder, daß die Partei ständig verliert.“ Ich habe nicht den Eindruck, daß sie sich darüber unbedingt freut. Und ein Herr, der sofort nach dem Referat Schwimmers aufgeregt zu ihr kommt, meint dasselbe, wenngleich seine Wortwahl etwas deftiger ausfällt.

Der allgemeine Tenor der ÖVP-Riege hinsichtlich des Grundtextes: düster und pessimistisch, „negativistische Grundhaltung“ (Mag. Christian Zeitz vom „Akademikerbund“), selektive, verzerrende Realitätswahrnehmung, „Verallgemeinerung einer Pathologie gesellschaftlicher Randerscheinungen“ (derselbe), ahistorisch, staatsinterventionistisch statt auf die Mechanismen des Marktes vertrauend, wirtschaftspolitisch unhaltbar und auch theologisch zweifelhaft.

Was man von der Kirche erwarte, was sie zu tun, was zu lassen sie habe, formuliert unmißverständlich Herbert Kohlmaier, der, eigenen Worten zufolge, „der letzte“ sei, „der die Kirche in die vielzitierte Sakristei verweisen möchte“. Aber aus der Politik soll sie sich gefälligst raushalten, befindet Kohlmaier, für den eine grundsätzliche Entscheidung seitens der Bischöfe zu fällen sei:

Ob sie nämlich mit ihrem Hirtenbrief die Gläubigen zu sozialem Engagement im Geist des Evangeliums ermuntern und anleiten wollen, oder ob sie einen politischen Akt setzen wollen.

Entweder, oder! Wenn nämlich

die Laien angeleitet werden, im Namen des Glaubens über die Richtigkeit von internationaler Wirtschaftsverflechtung, der Volkspension, der Arbeitszeitverkürzung oder der Einführung von Fixbeträgen bei Lohnerhöhungen zu diskutieren,

hält Kohlmaier

das Nebeneinander- (und nicht Gegeneinander-)wirken von Politik und Religion für ernsthaft gefährdet.

Sollte die Kirche das Vorschlagen konkreter wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen nicht den „Profis“ überlassen, so könnten diese

ihrerseits angeregt werden, in Sachen Theologie zu dilettieren.

Die Drohung hat den Bereich des Konjunktivischen schon längst verlassen. Denn freilich sind die Polit-Profis bei weitem nicht so zimperlich, den Berufschristen ins Handwerk zu pfuschen, und während der Klerus gefälligst davon Abstand nehmen soll, die Laien zur Diskussion bestimmter politischer Fragen anzuleiten, stellen die Politiker apodiktisch fest, mit welchen sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen das Christentum kompatibel ist. Irene Dyk entdeckt im Grundtext einen

für die christliche Soziallehre untypischen Subjektivismus (fast Egoismus) und Staatsinterventionismus,

und Christian Zeitz weiß, daß der Grundtext mit seiner Exkulpierung des Individuums durch die Überbetonung des Umwelteinflusses „gegen christliche Anthropologie“ verstößt.

Anstatt dem Wirtschaftssystem — diesmal wieder Dr. Kohlmaier — die Schuld zu geben, solle sich die Kirche doch lieber fragen, ob nicht menschliches Versagen dafür verantwortlich sei — das eigene, das der anderen, und dann führt Kohlmaier, ohne daß der Saal einstürzt, Tomaten fliegen oder auch nur Gemurmel sich erhebt, noch die Erbschuld an. Am radikalsten und letztlich ehrlichsten formuliert Christian Zeitz, was allen Statements, gegenteiligen Beteuerungen (Kohlmaier: „Verwirklichung der Nächstenliebe soll Sozialpolitik sein“) zum Trotz, implizit ist, daß nämlich christliche Moral und Nächstenliebe ein Ding, Wirtschaftspolitik aber ein gänzlich anderes ist:

Der Kernfehler von allen Texten dieser Art besteht im Versuch, die ‚alte‘ Moral der Kleingruppe, das Konzept der ‚Nächstenliebe‘ auf die Belange der abstrakten und ausgedehnten Industriekultur anwenden zu wollen. Dieser Versuch ist durch die Entkopplung von Handlungen und Handlungsfolgen, die das dominante Merkmal unserer Gesellschaft ist, und die sich daraus ergebende gesellschaftliche Komplexität zum Scheitern verurteilt.

Der Ruf nach Solidarität und sozialer Gerechtigkeit ergibt in unserer Art von Zivilisation auf die vom Sozialhirtenbrief-Entwurf statuierte Weise keinen Sinn.

Außerdem regelt „die Moral und das Recht der Marktwirtschaft“, gegen die sich „Linkskatholiken und orthodoxe Fundamentalisten“ verschworen haben, ohnehin alles zum Besten. Die Beachtung dieses Umstandes vorausgesetzt, bekommt so auch der Begriff der Solidarität wieder Sinn:

Ein Wachstum ernsthafter Solidarität bedingt die Pflege und Stärkung der Fundamente der Marktwirtschaft.

(derselbe)

Den Rechristianisierungsbestrebungen in der ÖVP tut das keinerlei Abbruch. Forderte Parteiobmann Riegler bei seiner Wahl zum Parteiobmann den Mut, zu bekennen,

daß unser Menschenleben und die gesamte Welt in Gott geborgen sind,

(Standard, 16.6., S. 6)

so beteuert Generalsekretär Kukacka in seinem Schlußwort zum Hearing, daß die Volkspartei

Heimatstätte des christlichen Weltbildes in Österreich bleiben

werde, so wie der Kern ebendieses Weltbildes, unabhängig von der Anzahl der Christen, der sozialen Entwicklung und derjenigen der Partei, richtig bleibe.

Die Vertreter der Kirche hörten zu, bedankten sich für die Kritik, betonten wiederholt den provisorischen und unvollständigen Charakter des Grundtextes, und Bischof Aichern meinte entschuldigend: „Auch die Bischöfe haben ein Gewissen, genauso wie Sie.“

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