Internationale Situationniste, Numéro 5
 
1976

Das Abenteuer

Die Bedingungen der S.I.-Arbeit erklären gleichzeitig ihre Disziplin und die Formen der Feindseligkeit, die sie trifft. Die S.I. will sich nicht im aktuellen Kunstgebäude behaupten, sondern sie untergräbt es. Die Situationisten stehen in den Katakomben der bekannten Kultur.

Wer einmal das soziale Milieu erlebt hat, das sich durch das spezialisierte Eigentum an kulturellen Gütern definieren lässt, weiß wohl, dass jeder darin fast alle verachtet und alle langweilt. Das ist aber eine unverhohlene Bedingung für eben dieses Milieu und eine für alle klare Feststellung; es ist sogar die erste Banalität, die von den Leuten schon zu Beginn jeder Unterhaltung mitgeteilt wird. Woher rührt denn ihre Resignation? Offensichtlich daher, dass sie kein gemeinsames Projekt haben. Dann erkennt jeder in den anderen seine eigene Bedeutungslosigkeit und seine Konditionierung — all das, was er selbst aufgeben musste, um an diesem getrennten Milieu und seinen festgesetzten Regeln teilzuhaben.

In diesem Rahmen befangen haben die Leute weder das Bedürfnis noch die objektive Möglichkeit einer Sanktion irgendeiner Art. Sie treffen sich höflich immer wieder am selben Punkt wieder. Die persönlichen bzw. ideologischen Meinungsverschiedenheiten bleiben im Verhältnis zu dieser Gemeinschaft zweitrangig. Für die S.I. und den von ihr beabsichtigten Kampf ist der Ausschluss eine mögliche und notwendige Waffe.

Er ist die einzige Waffe für jede Gruppe, die auf der vollständigen Freiheit der Individuen beruht. Keiner von uns kontrolliert oder beurteilt gern und diese Kontrolle taugt nur durch ihren praktischen Gebrauch und nicht als moralische Strafe. Der „Terrorismus“ des Ausschlusses in der S.I. kann mit derselben Praxis in politischen Bewegungen durch Bürokraten, die Macht ausüben, überhaupt nicht verglichen werden. Die Disziplin wird dagegen von der äußersten Zweideutigkeit der Lage der Künstler erzwungen, die ununterbrochen dazu aufgefordert werden, sich in die kleine, ihnen zugedachte Sphäre der sozialen Macht zu integrieren. Durch diese Disziplin wird deutlich eine unzerstörbare Plattform festgelegt, deren Vernachlässigung nicht wieder gut gemacht werden kann. Sonst würde durch die vielfältigen Zu- und Abgänge rasch eine Art Osmose zwischen dieser Plattform und dem herrschenden kulturellen Milieu bewirkt werden. Unserer Meinung nach kann die Frage der Avantgarde in der Kultur heute nur auf der Ebene der Gesamtheit nicht nur kollektiver Arbeiten, sondern auch einer Kollektivität von einander gegenseitig beeinflussenden Problemen gestellt werden. Es gibt also Leute, die aus der S.I. ausgeschlossen wurden. Einige haben sich in die Welt integriert, die sie bekämpften, anderen gelingt es nur, sich kläglich näher zu kommen, obwohl sie nichts anderes gemeinsam haben als ihren gerade aus gegensätzlichen Gründen entstandenen Bruch mit uns. Andere behalten eine würdevolle Haltung in der Isolierung und wir hatten die besten Gelegenheiten, ihre Talente kennenzulernen. Denken wir, dass sie mit der Avantgarde gebrochen, indem sie die S.I. verlassen haben? Ja, wir denken das. Es gibt zur Zeit keine andere Organisation, die sich eine so umfangreiche Aufgabe gestellt hat.

Die Einwände sentimentaler Art scheinen uns die tiefste Mystifizierung zu bemänteln. Die gesamte ökonomisch-soziale Bildung tendiert dahin, die Vergangenheit überwiegen zu lassen, den lebendigen Menschen festzubinden und ihn als Ware zu verdinglichen. So ist eine sentimentale Welt, in der die Geschmacksrichtungen und die Beziehungen mit den Leuten wieder anfangen, das direkte Produkt der ökonomischen und sozialen Welt, in der die Gesten der Sklaverei und der kapitalistischen Produktion jeden Tag wiederholt werden müssen. Die Neigung zum falschen Neuen drückt ihre unglückliche Sehnsucht aus.

„Es tut mir leid, Wanter, aber ich will mich dieser Art von Politik nicht anschließen. Ich biete euch meinen Rücktritt an.“ — „Sie können sich zurückziehen, Wodran, ebenso wie jene, die Ihre Skrupel teilen.“ Vier Berater verließen den Konferenzraum ... Die Sitzung wurde unterbrochen, aber der Vorsitzende Wanter konnte dadurch nicht überzeugt werden seine Politik zu ändern.

Die gegen die S.I. vorgebrachten Beschimpfungen sind ein Maßstab für die eingebrachte persönliche Leidenschaft — besonders wenn diese Beschimpfungen von Leuten stammen, die zuvor aus diesem Kreis der Übereinstimmung ausgeschlossen wurden. In vorbehaltlose Feindschaft umgeschlagen konnte eine solche Leidenschaft uns Faulpelze, Stalinisten, Schwindler und hundert andere gut gewählte Spitzen schimpfen. Der eine sagte, die S.I. sei nichts anderes als eine gut organisierte, wirtschaftliche Vereinigung zum Handel mit moderner Kunst, während andere behaupteten, sie sei eher für den Drogenhandel geeignet. Andere behaupteten weiter, dass wir nie Rauschgift verkauft haben, da wir selbst allzu sehr zu seinem Konsum neigten. Oder sie zählen unsere sexuellen Laster auf. Man ereiferte sich so sehr, dass man uns sogar Karrieremacher nannte.

Diese Angriffe sind um uns herum lange von denselben Leuten geflüstert worden, die sich in der Öffentlichkeit so stellten als ob sie uns nicht kannten. Jetzt beginnt man aber, dieses Totschweigen durch eine lebhafte öffentliche Kritik immer öfter zu durchbrechen. So z.B. in der neusten Sondernummer der Zeitschrift Poésie Noevelle, in der viele Beschuldigungen solcher Art mit zwei oder drei vielleicht ernsthaften falschen Auffassungen verquickt werden. Diese Leute definieren uns als „Anhänger des Vitalismus“, obgleich wir die Armut des gesamten erlaubten Lebens am radikalsten kritisiert haben, und sie sind in der Welt des Spektakels so vollkommen stecken geblieben, dass sie nicht weiter suchten um an unser Konzept der Situation mit etwas ihnen Bekanntem anknüpfen zu können, als in der Geschichte der Versuche von Theaterinszenierungen. (Indem sie im Juni eine Ausstellung der „super-zeitlichen“ Kunst organisiert haben, die das Publikum zu einer späteren Mitwirkung aufforderte, wollten dieselben Befürworter eines Neolettrismus ebenfalls die S.I.-Antikunst — und besonders A. Jorns zweckentfremdete Malerei — integrieren, wobei sie diese aber in ihr metaphysisches System eines für immer gezeichneten Spektakels übertrugen, das die lächerlichen Ansprüche der offiziellen Künstler des vorigen Jahrhunderts bis in die totale Reduzierung aufs Nichts selbst der Kunst hineinzutragen suchten.)

Wir zweifeln nicht daran, dass zu dieser Reduzierung aufs Nichts einer Kultur auch gewisse Erscheinungen einer kritischen Kunst gehören, die zur Zeit durch die situationistische Tendenz praktiziert wird. Nicht nur die zweckentfremdete Malerei, sondern auch z.B. die szenische Einheit, von der wir in dieser Nummer ein Vorwort veröffentlichen, oder ein Film wie die Kritik der Trennung. Der Unterschied liegt darin, dass unsere ganze Aktion auf dem Gebiet der Kultur mit einem Programm des Umsturzes dieser Kultur verbunden ist — sowie mit der Bildung und der Entwicklung eines neuen Instrumentariums: der organisierten situationistischen Stärke.

Seltsame Emissäre reisen durch Europa und noch weiter und diese Überbringer unglaublicher Anweisungen treffen zusammen.

„Wir haben den Alterungsprozess dieser Welt beschleunigt“ — „Wie ist euch das gelungen?“

Auf die Frage: „Warum haben wir eine so leidenschaftliche Neugruppierung in dieser Kultursphäre gefördert, deren gegenwärtige Wirklichkeit wir doch zurückweisen?“ lautet die Antwort: "Weil die Kultur der bedeutsame Mittelpunkt einer Gesellschaft ohne Bedeutung ist. Diese leere Kultur befindet sich im Zentrum einer leeren Existenz und die Erfindung eines Unternehmens der allgemeinen Neugestaltung der Welt muss auch und zunächst auf diesem Gebiet erbracht werden. Darauf verzichten, die Macht in der Kultur zu fordern, hieße, sie denen zu überlassen, die sie besitzen.

Wir wissen wohl, dass die umzustürzende Kultur nur mit der Totalität des sie umstürzenden ökonomisch-sozialen Gebildes fallen wird. Die S.I. hat unverzüglich vor, solange gegen sie in ihrem ganzen Umfang anzukämpfen, bis sie eine autonome situationistische Kontrolle und ein Instrumentarium gegen diejenigen erzwungen hat, die in den Händen der bestehenden kulturellen Autoritäten sind — d.h. also bis zu einem Zustand der doppelten Macht in der Kultur.

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