Heft 8/2003 — 1/2004
Dezember
2003

Das Vergnügen der Assoziation

Überlegungen anlässlich des European Social Forum

Die Praxis des Glücks wird subversiv, wenn sie kollektiv ist.

(Felix Guattari)

Zehntausende treffen in Paris zusammen und be­haupten: „Eine andere Welt ist möglich“. Der spezifische Mut zum Pathos erreicht so­mit — auch mit Michael Hardt/Toni Negri — Diskurs­stränge in der deutschspra­chigen Linken, die sich bis­lang eher an trockener und verbissener Wissenschaft­lichkeit oder mechanistischer poststrukturalistischer Ter­minologie orientierten. Wut und Unverständnis sind oft die Folge dieses Aufeinan­dertreffens. Verkürzt formu­liert geht es wiedermal um die Fragen von Utopie versus Kritik oder noch verkürzter und verbissener, ob in einer so falschen kapitalistischen Welt Vergnügen, Pathos oder Utopie richtig und berech­tigt, aber auch progressiv sein können. Klassischen marxis­tisch-leninistischen Richtun­gen hingegen war ein etwas anders geartetes trauriges Pa­thos ja nie fremd.

Lenins Lachen

Die obige Frage lässt sich nicht lösen, zumal auch die Breite politischer Hap­penings, wie des Europäi­schen Sozialforums, in keiner Weise überschaubar bleibt. Als kleine Illustration können wir ein Referat von Louis Althusser nacherzählen, das die Relevanz spezifischer Kritik und Wissenschaftlichkeit so­wie Einschätzung an deren außerwissenschaftlichen Pra­xisbezügen misst. Althusser spricht vor der französischen Gesellschaft für Philosophie über seine Konzeption mar­xistischer Philosophie, er lehnt aber in seinem Vorwort den Rahmen und die Wertig­keiten philosophischer Tradition ab, und die daraus re­sultierende philosophische Kommunikation. „Philosophical communication. This term would certainly have made Lenin laugh, with a whole hearted, open laugh by which the fisherman of Capri recognized him as one of their kind and on their side.“ [1]

Nun, auch das ist Pathos, aber der wesentliche Punkt eines Außenbezugs auf nichtsystemimmanente Praxen löst einen Knoten der Argumen­tation.

Das ESF-Festival

Unter den verschiedenen situationistischen Verfahren ist das Umherschweifen eine Technik des eiligen Durch­querens abwechslungsreicher Umgebungen. (...) Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen wid­men, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die Ihnen im Allgemei­nen bekannten Bewegungs- bzw. Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- ­und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm ent­sprechenden Begegnungen zu überlassen. Dabei ist der Anteil des Zufälligen weniger ausschlaggebend, als man es im Allgemeinen glaubt: Vom Standpunkt des Umher­schweifens haben Städte ein psychogeografisches Boden­profil mit beständigen Strö­men, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Ver­lassen sehr mühsam machen.

(Guy Debord)

Die Menschen können nichts um sich herum sehen, was nicht ihr Gesicht ist, alles spricht zu ihnen von ihnen selbst. Selbst ihre Landschaft ist beseelt.

(Karl Marx)

Die Festivalstimmung des ESF dominiert das häufig ziellose kollektive Umherschweifen der TeilnehmerIn­nen durch die Menge von Workshops, Seminaren der unterschiedlichsten Ausrich­tung und Qualität und bietet auch eine eigene Qualität der Wahrnehmung. Veranstal­tungen der globalisierungs­kritischen Bewegung bilden die jeweiligen Verfasstheiten der Organisierung ab, sie fo­kussieren auch Interessen und basieren auf zwei Prämissen, die polarisierend wirken: „Gegen Krieg und Neoliberalismus!“

Kann diese Form des Austauschs konsumiert wer­den, obgleich die lautstark artikulierte undifferenzierte Antikriegspropaganda ab­stoßend wirkt? Selbst die allgemeine Opposition gegen die herrschende Form kapi­talistischer Vergesellschaftung und deren Analyse oder ver­kürzte Kritik bedürfen der konkreten Auseinanderset­zung, in der Heterogenität der Ansätze müssen [2] etwa sexistische, rechtsextreme, antisemitische Positionen be­nannt werden.

Die globalisierungskritische Bewegung bietet eine Bühne auch für einfache „Wahrheiten“ und wäre als Tribüne der Wahrheit völlig ungeeig­net. Konkrete Erfahrungen des ESF 03 erzählen von oberflächlichen Darstellun­gen theoretischer Bezüge und fehlender Orientierung auf aktionsorientierte Ansätze, Ansätze die ein kollektives Erlebnis eines anderen sozia­len Gefüges ermöglichen, oder schlicht über eine her­kömmliche Demonstration hinausweisen, und die nicht kritiklos und widerstandslos verharren, wenn Plakate wie „Intifada global“ eine Auf­forderung zu Suicide-Bombings darstellen.

Der Wunsch nach Assozia­tion und die wirkungs­mächtige Assoziation (Multitude)
Um die Mechanismen der Vereinzelung und Konditio­nierung kapitalistischer Vergesellschaftung zu durchbre­chen, bedarf es einer rhizomatischen Praxis („to be something else at the same time“ [3]), eines Regimes der Vielfalt — für das soziale Rah­men wie das ESF zumindest günstige Voraussetzungen bieten. Der Reduktion auf das einförmige Funktionie­ren in einem Verwertungs­prozess kann das Betonen der vielfältigen Ausdrucks­möglichkeiten und Vermögen der AkteurInnen entgegen­gehalten werden.

Der Blick auf Formen des sozialen Zusammenschlusses, der Massenbildung, der Assoziation ist gegenwärtig gründlich verstellt durch na­tionalsozialistische TäterIn­nen und ZuschauerInnen oder randalierende Horden von Fußballfans. Dies darf aber nicht über die Grund­notwendigkeit radikaler Sin­gularität in kollektiven For­men hinwegtäuschen.

Sicheres Nachtlager als Bild

„Der Mensch muss nicht nur essen, trinken, koitieren — er/sie muss ganz entschieden auch schlafen, und zwar lan­ge und tief genug.“ [4] Und die­ses Schlaf-Bedürfnis ist nur von Assoziierten gesichert in der notwendigen Tiefe sicher. In dieser anthropologisch ge­färbten Darstellung ist ein wesentlicher Tatbestand ent­halten: Der Mensch ist ein soziales Wesen. [5] Nebenbei ist Sicherheit nicht militärisch zu denken.

Das Kollektiv als grundle­gende Kategorie von Freiheitsbestrebungen zu setzen, keine mühsamen Wege der Vermittlung und des Aus­gleichs zu formulieren (damit würde an einer heterogenen, vermeintlich unvereinbaren Individualität festgehalten), [6] sondern von fundamentalen, geteilten Begierden (cupiditas) auszugehen, potenziert das Vermögen (gegen die Macht) und führt von einer angstbesetzten Einsamkeit zur Gesellschaftlichkeit, zu einer kollektiven Praxis.

Die benötigte „destruktive Waffe“, Dekonstruktion auf der Ebene der Theorie und Subversion in der Praxis, [7] kann benannt werden; die „radikale Gegenmacht“ liegt im Handeln der Multitude, ihrer Kreativität, ihrer Pro­duktion. Die wilde widerspenstige Anomalie (Spinoza in der Lesart Negris) weist auf die „historische Überwindung jeglicher Ordnung, die nicht von den Massen in Freiheit konstituiert ist;“ diese Mas­sen (moltitudine), die in dem gemeinsam mit Michael Hardt verfassten, breit rezi­pierten Entwurf Empire eine bedeutende Rolle spielen, bil­den — entsprechend der operaistischen Interpretation — die Grundlage umfassender Transformation. „Freiheit“ bedeutet genau dieses Ver­mögen (potentia) zur Verän­derung, die keine Form der Macht im Sinne von Herr­schaft oder Unterdrückung, Verfügungsgewalt meint, son­dern produktiv durch Selbst­bestimmung und Emanzipa­tion konnotiert wird: „Die Befreiung aus einer unbe­quemen Vergangenheit hat überdies keinen Wert, wenn sie nicht darauf angelegt ist, die Gegenwart zu genießen und die Zukunft zu produ­zieren.“ [8]
Es geht um die Differenzie­rung verschiedener Typen von assoziativen Prozessen, um nichts Anderes als die Überlegung von Mitteln und Wegen für widerständige assoziative Bewegungen.

Die Bedeutung der Alli­anz, der Kollektive und Assoziationen — in klarer Ab­setzung von klassischen Be­griffen von Masse — besteht in der Wahrnehmung von Variationen und in der Kol­lektivierung von Wünschen, wohingegen das individualis­tisch-autonome Subjekt, seine Gewissheiten und klaren Trennungen zu Geschlossen­heitsphantasien führt, die das Begehren und die hedonisti­schen Vergnügen begrenzen.

Eine Vervielfältigung der Identifizierungen muss mög­lich sein, die vermittels kriti­scher Reflexion der konstitu­tiven Ausschlüsse jene als De­mokratisierung nur unzurei­chend beschriebene Intenti­on verdeutlicht, das Ideal der Eindeutigkeit und Sicherheit zu verlassen, die Gewalt herr­schender Formationen in der Normalisierung strikter Grenzen des Sagbaren, Wünschbaren oder Erreich­baren zu dekonstruieren und dadurch die Fülle der Mög­lichkeiten zu eröffnen.

Woraus wäre andernfalls die Motivation der Handlung zu gewinnen, wenn die Zielorientierung in ähnlich fest­gefügten Mustern läge, als die vorgegebenen Rollen ohnehin gewähren? Emanzipative Entwürfe, deren Disziplinie­rung rigoros erfolgt — um dem einen (oder der Palette an) Ideal(en) des/der radika­len Linken zu genügen — wären ähnlich wenig vergnüglich und lustvoll, wie die Figur der „guten Mutter“ oder des „aufrechten Kon­servativen“ auszufüllen. Qua­litative Unterschiede verschwinden so in der Affirma­tion der Strenge und Akzep­tanz enger Grenzen. „Das Problem ist nämlich nicht das der Herrschaftsformen, son­dern das der Befreiungsfor­men.“ [9]

Lieber ohne Juden?

Offenbar geht kein Treffen der globalisie­rungskritischen Bewegung ohne antisemitische Vorfälle über die Bühne. Bereits Anfang dieses Jahres wurde beim 3. Weltsozialforum in Porto Allegre eine Gruppe von Juden und Jüdinnen tätlich angegriffen, weil sie ein Trans­parent mit der Losung „Zwei Völker — Zwei Staaten: Frieden im Nahen Osten“ hochhiel­ten.

Im Falle des Europäischen Sozialforums (ESF) in Paris kam es schon im Vorfeld zu heftigen Diskussionen. Ausgelöst wurden sie durch die Einladung Tariq Ramadans, der französischen Intellektuellen vorwarf, sie würden aussch­ließlich als „Juden“ und im Dienste Israels agieren. Alain Finkielkraut reagierte im In­terview mit der Frankfurter Rundschau vom 12. November auf die Aussagen des Schweizer Islamisten: „Ich halte eine kritische Ausein­andersetzung mit der Globalisierung für zwin­gend. Eine Massenbewegung ist im Entste­hen begriffen, aber bevor ich mich überhaupt mit ihr befassen kann, hat sie mich schon aus­geschlossen.“ Finkielkraut fürchtet, dass der Antisemitismus „bei den Globalisierungsgeg­nern eine große Zukunft vor sich“ hat. Und er gesteht ein, dass er lange gebraucht hat, um zu realisieren, dass der Antisemitismus heu­te im Gewand des Antirassismus und der Menschenrechte auftritt.

Am ESF wurden AktivistInnen der Ak­tion 3. Welt Saar mit Gewalt am Verteilen eines mehrsprachigen Flugblattes gehindert und von Ordnern unter Androhung, die Po­lizei zu rufen, vom Veranstaltungsort ver­wiesen. Einem Aktivisten der Aktion 3. Welt Saar wurde im Forum Racism, xenophobia, anti-Semitism kein Rederecht gewährt. In dem Flugblatt wurde das Existenzrecht Is­raels bejaht und für eine politische Lösung des Nahostkonfliktes geworben. Wörtlich hieß es: „Eine Lösung des Nahost-Konflik­tes kann es nur geben, wenn die israelische Bevölkerung die soziale Lage der palästi­nensischen zur Kenntnis nimmt, und die arabische die Shoah als Hintergrund für die Existenz Israels. Wir in Europa sollten alle auf beiden Seiten unterstützen, die das Ver­ständnis für die jeweils andere Seite för­dern.“ Solche Positionen haben offenbar keinen Platz am ESF, das von sich behaup­tet, ein „offener Treffpunkt für den Aus­tausch von Meinungen und Erfahrungen“ zu sein.

[1Louis Althusser: Lenin and Philosophy. in: Ders.: Lenin and Philosophy and other Essays. London 1971, S. 29. Be­zugspunkt bildet ein Treffen Lenins mit Gorki auf Capri 1908.

[2Wie allgemein ist dieses „müssen“: Wer kann für die ge­samte Unüberschaubarkeit Verantwortung übernehmen? Um pathetisch zu bleiben: da wuchert vieles. Worauf die kritische Einschätzung richten, um nicht wie Fred Sinowatz in einem „alles ist so kompliziert“ oder populär-adornistisch einem „irgendwo ist was falsch“ zu erstarren?

[3Felix Guattari: A Liberation of Desire, in: Chaosophy. Soft Subversions. New York 1996, S. 56

[4Jürgen Link: Association und Interdiskurs, in: kultuRRe- volution, Nr. 38/39, 1999, S. 22

[5vgl. Claude Adrien Helvetius: Vom Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten. Berlin 1976. Helvetius argumentiert, der Mensch sei vereinzelt, als isoliertes Atom unerklärbar. Vom Menschen zu handeln setzt Gesellschaft und Assozia­tion voraus. „Das Erkenntinisobjekt ‚der Mensch‘ verwan­delt sich unversehens in das ‚die Menschen‘ (Helvetius). Je­der Versuch einer Interpretation, der das Wesen des Men­schen finden soll, erkennt ihn so, dass sie ihn in naturaler und sozialer Verflochtenheit vorfindet, und ein Denkansatz, der vielleicht individualistische Wünsche von zu Hause mit­gebracht hat, ist rasch genötigt, einer sozialen Betrach­tungsweise den Platz abzutreten.“ (Leo Löwenthal: Philo­sophische Frühschriften. Frankfurt a. M. 1990, S. 20)

[6Negri fasst den Gedanken des Kollektivs als „eine — onto­logische — Bestimmung des Verhältnisses Vielfalt-Einheit“. (Antonio Negri: Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Ent­wurf einer freien Gesellschaft. Berlin 1982, S. 156)

[7Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltord­nung. Frankfurt a. M. - New York 2002, S. 376

[8Negri, a. a. O., S. 13

[9ebd., S. 247

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