MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
Cubatao/Brasilien:

Der dreckigste Platz der Welt

Über zwanzig Raffinerien, Düngemittelfabriken, Chemiewerke und eisenverarbeitende Betriebe konzentrieren sich im subtropischen Flußdelta südöstlich von Sao Paulo. Der dreckigste Platz der Welt soll jetzt zum ‚Tal des Lebens‘ erweckt werden.

Industrieregion Serra do Mar
Fotos: Andreas Hofbauer

Zöge heute ein neuer Prophet durch das seit jeher für messianische Bewegungen fruchtbare Brasilien und wüßte dieser Bescheid um die neuen Pläne für Cubatao, jene Stadt, die bereits als „schmutzigster Ort der Welt“ ihren Platz in der Weltgeschichte gesichert hat, so könnte vielleicht das biblische, apokalyptische ‚Echo‘ wieder hörbar werden: „Und ich sah aus dem Maule des Drachen und aus dem Maule des Tieres und aus dem Maule des Lügenpropheten drei unreine Geister wie Frösche ...“ (Offenbarung 16:13)

Vom Todestal zum „Tal des Lebens“

Nicht einmal eine halbe Autostunde außerhalb der Stadtgrenze von Sao Paulo, jener unsteten, pulsierenden monströsen Lokomotive Brasiliens, bricht die Serra do Mar steil zum größten Hafen des Landes, nach Santos, ab, in den 60er Jahren durch seinen Fußballstar Pelé weltbekannt. In jenem idyllischen subtropischen Grün, das von Lagunen und einem vielverzweigten Flußdelta durchschnitten ist, wurde das Industriepoolprojekt Cubatao eingepflanzt. Vom topographisch-klimatisch-ökologischen Gesichtspunkt ist dieser Sumpflandschaftskessel wohl der ungünstigste Platz weit und breit.

Dennoch ist das 100.000 Einwohner zählende Cubatao in den verschiedensten Wirtschaftsstatistiken des Landes im Spitzenfeld zu finden: 45% der nationalen Erdölraffinerien, 28% der brasilianischen Düngemittel-, 17% der eisenverarbeitenden und 5,6% der chemischen Produktion. Vier Milliarden US-$ Umsatz pro Jahr. Nur 24 Unternehmen teilen sich die. Neben der bundesstaatlichen eisenverarbeitenden „Cosipa“ naschen auch multinationale Konzerne wie „Rhodia“ und „Union Carbide“ mit. Es kann angenommen werden, daß in den 70er Jahren etwa 1.000 t Schadstoffe pro Tag in die Atmosphäre abgeblasen und jährlich etwa 20.000 t Abfälle in unabgedeckte Behälter abgeladen wurden.

Der „wilde Kapitalismus“, wie die Brasilianer die lokale Ausprägung des Weltwirtschaftssystems oft bezeichnen, forderte bald seine ersten Opfer. Nachrichten über Mißgeburten, denen Beine, Arme sowie Gehirn fehlten, schockten die Öffentlichkeit. Das Gebiet um die Arbeiterbarackensiedlung Vila Parisi, unmittelbar neben dem Industriegelände gelegen, wurde als „Tal des Todes“ bekannt.

1984 war Cubatao neuerlich in den Schlagzeilen, als das auf Holzpfählen über einer Lagune entstandene Armenviertel Vila Socö in Flammen aufging, was an die 500 Menschenleben auslöschte. Eine Ölleitung der staatlichen „Petrobras“ war geborsten, Benzin hatte sich unter den Behausungen verteilt und ein einziger Zigarettenstummel die Katastrophe ausgelöst.

Zwei Jahre zuvor hatte es Aufwind für ökologische Gedanken gegeben. Zum ersten Kongreß der „Vereinigung der Opfer der schlechten Lebensbedingungen in Cubatao“ waren mehr als 500 AktivistInnen gekommen. Als Reaktion auf den Druck der nationalen und internationalen Medien entschloß sich die Regierung des Bundesstaates Sao Paulo, einen Widmungsplan für das gesamte Gebiet zu erstellen, der allerdings den größten Teil des Distrikts von Cubatao zu einem Industriegelände deklarieren sollte. Dieser Entscheid harmonierte im Grunde mit dem sogenannten „Tal des Lebens“-Projekt der in Cubatao installierten Industrien, das auf eine Aussiedelung jener Menschen abzielte, die in den am stärksten verseuchten Vierteln (wie z.B. Vila Parisi und Jardim Sao Marcos) hausten.

Picknick am Rio Cubatao

Heute sind sich die Behörden der „Cetesb“ (Organ für Stadtsanierung im Bundesstaat Sao Paulo), der Bürgermeister von Cubatao und die industriellen Administratoren von Cubatao einig, daß das schlimmste schon überstanden wäre, daß 90% der emittierten Schadstoffe ‚unter Kontrolle‘ seien. 340 Mio US-$, die in den letzten Jahren in die Installierungen von Filter- und Entsorgungsanlagen flössen, hätten das Wasser des Rio Cubatao sowie dessen Zuflüsse wiederbelebt, Fische, Schalen- und Weichtiere erfreuten wieder die Herzen der heimischen Fischer ...

Handelt es sich dabei wirklich um ein Wunder, um einen Beweis dafür, daß Gott wirklich Brasilianer ist? „Es ist allein den gemeinsamen Kraftanstrengungen von Seiten der Privatinitiative und der Regierung zuzuschreiben“, wiederholt Bürgermeister Nei Serra seinen Wahlspruch, „daß es gelang, aus der ‚schmutzigsten Stadt der Weit‘ ein ‚Symbol für Ökologie‘ zu machen.“ „Die Fische sind in den Cubataofluß zurückgekehrt“ — unter diesem Titel beschrieb die Tagszeitung „Journal do Brasil“ farbenprächtig die ‚ökologische Revolution‘ von Cubatao: „Oftmals kann man heute dort Familien antreffen, die an den Ufern fischen und die Picknick-Tradition wieder einführen.“

Erdölleitungen in der Sumpflandschaft

In die eben erst aufgebaute mediale Propaganda platzte es wie eine Bombe, als eine Untersuchung des Arztes Eládio Santos Filho bei Kindern, die am Rande des Rio Cubatao leben, schwere Bleivergiftungen feststellte. 35% der Blutproben lagen über der von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) als kritisches Limit angegebenen Konzentration (29 Mikrogramm Blei pro 100 ml). Professor Luiz Tommasi, Direktor des Ozeanographischen Instituts der Universität von Sao Paulo, hatte Anfang der 80er Jahre bei Studien an Rabenfischen — neben überhöhten Anteilen an Kupfer, Zink und Kadmium — Quecksilberwerte gefunden, die bis zu 10 Mal höher als die zugelassenen waren. Selbst wenn die Industrieemissionen heute kontrolliert sein sollten, so belasten die in den Flüssen und Lagunen bereits abgelagerten Schwermetalle das gesamte Ökosystem weiterhin auf Jahrzehnte. Joao Ivaniel de Franca Abreu, der seit 12 Jahren in der Vila Parisi wohnt und Stadtrat der liberalen PFL (Partido da Frente Liberal) ist, verurteilte vor kurzem das neuerliche Auftreten von starken Ammoniakschwaden in Cubatao. Wegen Atembeschwerden mußten etlichen Menschen Erste-Hilfe-Zentren aufsuchen. Trotz der großangelegten ‚Luftentschmutzungskampagne‘ wollen die Klagen in der ‚Symbolstadt der Ökologie‘ nicht verstummen, wonach nächtens und an den Wochenenden, dann nämlich, wenn sich die — nicht in Cubatao wohnenden — Vertreter der zuständigen Behörden in einem weniger verschmutzten Ort aufhalten, Gase abgelassen werden.

Im Jahr 1986 reichte die grüne Gruppierung „Oikos“ („Vereinigung der Verteidiger des Bodens“) beim Justizministerium des Bundesstaates Sao Paulo ein Zivilrechtsverfahren gegen die 24 Verschmutzungsgiganten von Cubatao ein, in dem sie die Industrien für die Umweltschäden an der Sena do Mar zur Rechenschaft ziehen will. Nach langwierigen Kämpfen durch die Instanzen wurde jüngst eine Expertenkommission — bestehend aus Geographen, Chemikern, Biologen — gebildet, um die verursachten Schäden an der Gebirgskette, die von Naturschützern auf 800 Mio US-$ geschätzt werden, zunächst einmal zu begutachten.

Das „verrohrte Ökosystem“

700 Meter über dem Meeresspiegel schlingt sich die stinkende Kloake „Pinheiros“ — ein ehemaliger Fluß — durch die Metropole von Sao Paulo. Ein kühn-utopisches Projekt reguliert die ‚Fluß‘richtung dieses toten Gewässers, wodurch je nach Bedarf (Ab-)Wässer auch in den Stausee Billings gelangen. Von dort werden nach einer entsprechenden Filtrierung und Verchlorung 3,5 m3 pro Sekunde in die Wasserleitungen der Haushalte der Paulistanos geschickt. Eine weit größere Wassermenge wird verrohrt und direkt in den Rio Cubatao jenseits der Serra do Mar gepumpt.

Ein Nebeneffekt ist nicht nur die Verschmutzung des Rio Cubatao, sondern auch der Strände von Santos, vor denen selbst die brasilianische bürgerliche Presse warnt. Außerdem drängt der Cubataofluß — nun um die Flüssigkeitsmengen des Rio Pinheiros verstärkt — die natürlichen Salinen im Deltagebiet zurück, was wiederum von vitaler Bedeutung für die nach Süßwasser lechzenden Industrien ist, für deren Anlagen die Verwendung von salzhaltigem Wasser dem Korrosionstod gleichkäme. Zwecks Bekämpfung der negativen Begleiterscheinungen des ‚Fortschritts‘ sucht die Industrie bereits unter den Wissenschaftlern nach Verbündeten. Inspiriert von US-amerikanischen Modellen schlug Prof. Dr. Antonio Garcia Occhipinti von der renommiertesten Universität Lateinamerikas, der Universität von Sao Paulo, auf einem internationalen Kongreß über Umweltfragen in Cubatao im August dieses Jahres ein sogenanntes ‚ozeanisches Dispersionssystem von Abwässern‘ vor, wonach ein kilometerlanges Rohr das Problem letztendlich am Grunde des Meeres buchstäblich auflösen sollte.

Von Sao Paulo direkt in den Atlantik

Das verzweifelte Bemühen von Seiten der Stadtverwaltung als auch von Seiten der Industriellen, das negative Image von Cubatao zu ‚begrünen‘, hängt offensichtlich mit den neuen Wirtschaftsplänen zusammen, die bereits in den Schubladen liegen. Großzügige Investitionen sollen den Hafen von Santos erweitern und neue Industriezweige anziehen. Das alles unter der vielversprechenden Kurzbezeichnung SPIC (Sistema Portuario Industrial de Cubatao), was soviel wie „Hafen-Industriesystem von Cubatao“ bedeutet. Mit dem Slogan: „Werde Kompagnon eines Industriepools!“ lancierte Nei Serra eine Werbekampagne für einen „neuen Markstein in der wirtschaftlichen Entwicklung der Region“. Die Gründung der A.D. Cubatao (Entwicklungsagentur Cubatao) wurde zu einem Treffen der gesamten Wirtschaftsprominenz des Landes; vom damaligen Minister für Industrieentwicklung, Roberto Cardoso Alves, über 200 Unternehmer des Bundesstaates Sao Paulo bis zum allmächtigen Präsident der Industriellenvereinigung, Mario Amato, waren alle anwesend. Man schwelgte bei dieser Gelegenheit über die Installierung neuer Industriezweige — metallmechanische, feinmechanische Fabriken genauso wie elektronische, Konfektions- und Strickwarenunternehmen —, wofür eine Erweiterung des Industriegeländes um 17 Mio. m2 notwendig wäre.

Weitere 14 Mio. m2 werden vom SPIC-Projekt für sich in Anspruch genommen, das neben zwei riesigen Kanälen (3.500 m Länge, 350 m Breite) einen 14 km langen Kai mit 57 Anlegeplätzen bis zu 13 m Tiefe vorsieht und riesige Erdumwälzungen im Deltabereich mit sich zöge. Die neue Strategie lautet: Gegen Konzessionen auf dem Umweltschutzsektor, für die man sich internationale Kredite zu günstigen Bedingungen zusichern läßt, industrielle Nutzflächen zu gewinnen.

Es ist aber kein Geheimnis, daß der größte Teil des Distrikts von Cubatao, jenes 148 km2 große Gebiet zwischen Santos und der Serra do Mar, ein sehr labiles ökologisches Gleichgewicht darstellt, das durch kleinste Eingriffe von außen ins Wanken gerät. „Eine minimale Verringerung des Sauerstoffgehalts in den Lagunen kann ganze Spezies zum Verschwinden bringen. Wenn wir weiterhin all das nützen wollen, was ein derartiges Deltagebiet bietet, müssen wir äußerst vorsichtig sein und konkrete Schutzmaßnahmen ergreifen“, meint Prof. Luiz Tommasi.

Zwischen ökologischem Heiligtum und Arbeiterwiderstand

Für die Umweltschützer gilt die Fluß-Lagunenlandschaft als eine (symbolische) Quelle des Lebens. Die Strategie der Umweltschützer, die die Erhaltung der ökologischen Verhältnisse über alles andere stellt, gerät allerdings auch mit lokalen linksgerichteten Bewegungen in Konflikt, die in erster Linie von der sozialen Situation der Arbeiterinnen ausgehen. Letzere Gruppierungen können sich durchaus Trockenlegungen von Sümpfen vorstellen, um die Menschen aus Gefahrenzonen — etwa von den auf Grund der Umweltschäden erdrutschgefährdeten Abhängen der Serra do Mar — umzusiedeln.

Als Bürgermeister Nei Serra bei einem Besuch der französischen und japanischen Konsulate deren Automobilkonzerne zu Niederlassungen in Cubatao einlud — ausländische Investitionen würden die Wirtschaftspolitik von Präsident Collor zusätzlich erleichtern —, winkte er gleichzeitig den Bewohnern der Region mit neuen Arbeitsplätzen. Als die Vertreter der A.D. Cubatao von neuen elektronischen, Konfektions- und Textilfabriken sprachen, war dies eine gute Nachricht für die Frauen von Cubatao, deren traditionelle soziale Funktion in den Arbeitersiedlungen kaum über die Mutter- und Hausfrauenrolle hinausreicht. Gleichzeitig aber eine Gewissensfrage für einen Mann wie Dorjival Vieira, den ersten Präsidenten der „Vereinigung der Opfer von schlechten Lebensbedingungen von Cubatao“ und populäre Führungspersönlichkeit der linksgerichteten Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores), inwieweit er sich gegen jene Initativen, die die Arbeiterschaft vielleicht nicht nur numerisch stärken würden, stellen kann.

„Cubatao — Symbolstadt der Ökologie“

Die Oppsosition hat allerdings wenig Zeit, um Divergenzen zu debattieren und eventuell zu überwinden, wenig Spielraum, um zu verhandeln. Die ersten ‚Säuberungsaktionen‘ im ‚Tal des Lebens‘ haben bereits begonnen. Den 24 ansässigen Unternehmen und der Stadtverwaltung, die sich hinter der jüngst geschaffenen A.D. Cubatao verstecken, ist es vor kurzem gelungen, die Arbeitersiedlungen ‚Vila Parisi‘, ‚Jardim Sao Marcos‘ sowie die Überrste von Socó zu räumen und somit weiteres ‚Terrain‘ zu gewinnen ...