Grundrisse, Nummer 43
September
2012

Der kalkulierte menschliche Kollateralschaden

Die Zerstörung der Persönlichkeit im Neoliberalismus

Die Themenstellung bringt mich in eine schwierige Lage. Sie enthält Begriffe, die in der Philosophie und den Sozialwissenschaften höchst umstritten sind. Überdies enthält sie eine These, deren Beweislage – gerade weil es keinen Konsens über Begriffe und die damit verbundenen Bilder von Mensch und Gesellschaft gibt – durchaus widersprüchlich ist. Vielleicht ist dies schon die erste Botschaft, die ich vermitteln kann, dass wir mit Uneindeutigkeiten leben müssen. Ich möchte mit „Person“ und „Persönlichkeit“ beginnen. Diese Begrifflichkeit umfasst alles Biologische, Soziale und Geistige, angefangen von der Konstitution über Charaktereigenschaften und Temperament bis zu spirituellen Orientierungen eines Menschen. Seit der Aufklärungsphilosophie kommt die Annahme hinzu, dass Persönlichkeit sich durch die Fähigkeit zu vernuftgeleitetem freiem Handeln auszeichnet, für das die volle persönliche Verantwortung übernommen werden kann. Philosophen des deutschen Idealismus – hier sind in der Nachfolge Immanuel Kants insbesondere Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt zu nennen – sahen in Person und Persönlichkeit die einzigartige und unverwechselbare Individualität der Menschen. Genau diesem Ideal folgte auch Marx, dessen Vision von der „freie(n) und allseitige(n) Entwicklung des Individuums“ den erkenntnisleitenden Humus für alle seine ökonomischen und soziologischen Analysen bildete. Unsäglich der stupide Rückfall der akademischen Psychologie, die Person und Persönlichkeit zum psychophysischen System herunterkochte, als dessen Hauptcharakteristikum sie seine hohe Anpassungsfähigkeit herausstellte und zur Norm erhob. Auf der anderen Seite darf mit Recht gefragt werden: Waren die aufklärerischen Annahmen von Person und Persönlichkeit denn je realistisch? War es nicht immer so, dass Menschen sich gerne und leichtfertig angepasst haben? Doch genau darin liegt das Problem. Es ist diese Anpassungsbereitschaft, der aus Sicht einer kritischen Theorie der Gesellschaft die Katastrophen geschuldet sind, die uns historisch so belasten. Ausdrücklich möchte ich hier auf Oskar Negt hinweisen, der vor zwei Jahren an diesem Ort – im Jägermayrhof Linz – auf diese Problematik sehr deutlich hingewiesen hat (Negt 2009).

Die Diskussion des Themas „Persönlichkeit“ ist kompliziert geworden. Wir wissen heute, dass es im Arbeitermilieu immer schwer war, Individualität zu entwickeln. Wer als Arbeiterkind Interesse an Bach-Kantaten entwickelte und dieses Interesse auch aktiv wahrnahm, galt in seinem angestammten Milieu als gestört. Gleichwohl erschloss sich dem, der genau hineinhorchte, eine fast unendlich scheinende Variationsbreite von Körperlichkeit, von Charaktereigenschaften, von Temperamenten, von religiösen und geistigen Interessen, von Musikalität und zuweilen unglaublichen künstlerischen Fähigkeiten. Selbst in den großen Zwangskollektiven des Industriezeitalters scheinen – das lässt sich beispielsweise in dem beeindruckenden Roman „Walzwerk“ von Heinz Marchwitza nachspüren – schon auf der Ebene der Charaktere die unterschiedlichsten Typen auf. Hinter der kollektiven Biographie einer Werftbelegschaft entfaltet sich bei genauem Hinsehen ein erstaunlich farbiges Spektrum unterschiedlichster Persönlichkeiten (Hien u.a. 2002, 2007). Gelingende Arbeiteridentität zeichnete sich gerade durch die Kunst aus, zwischen dem „Eigenen“, dem leiblichen Selbst und den Rollenanforderungen, den Zumutungen und Zurichtungen des „Außen“, die richtige Balance zu finden. Es war überlebensnotwenig, immer den Schein des Zugehörigen zu wahren und gleichzeitig nie sein „Inneres“ und nicht selten auch „sein Geheimnis“, zu vergessen, auch all die Leiden, Schmerzen, Missachtungen und Erniedrigungen nicht, aber auch all die Lüste und Freuden nicht, die sich biographisch in die leibseelische Persönlichkeit eingeschrieben haben. Theodor Wiesengrund Adorno nennt diese nie zu vereinnahmenden Seinsebenen „das Nicht-Identische“. Nur noch identisch mit dem zu sein, was die Gesellschaft will, zerstört den Menschen. Adornos Vision einer freien Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Individuen, in der es möglich wird, „ohne Angst verschieden zu sein“.

Die postmoderne Philosophie bestreitet, dass es eine Persönlichkeit oder Individualität im Sinne eines festen, klaren und einmaligen Persönlichkeits-„Kerns“ überhaupt geben kann (vgl. dazu: Reckwitz 2008). Sie sagt, das „Subjekt“ sei immer schon – das ist tatsächlich der ursprüngliche Wortsinn, wie er in früheren Zeiten auch gemeint war – einer fremden Macht „unterworfen“, allenfalls könne es eine Art „Gegenmacht“ entwickeln. Auch die Psychoanalyse sagt, das „Ich“, d.h. die Person oder Persönlichkeit, sei nichts anderes als ein Kompromiss des immerwährenden Kampfes zwischen äußeren Instanzen, die wir verinnerlichen, uns gleichsam einverleiben, und undefinierbaren biologischen Triebregungen. Letztendlich, so die Ikone der französischen postmodernen Psychoanalyse: Jaques Lacan, ist Persönlichkeit nichts anderes als ein „Mangel“. Resultat ist ein bruchstückhafter, ein vielfach gespaltener Mensch, der leicht Opfer von Zurichtungen, Manipulationen und totalitären Außensteuerungen werden kann. Die Postmoderne Theorie behauptet, dass die Individualität immer schon pure Illusion gewesen sei und dies immer sein wird. Dem kann und will ich nicht folgen, einfach deshalb, weil ich mich wehre, aus der deskriptiven Ebene, die mir teilweise noch einzuleuchten vermag, unversehens eine normative zu machen. Persönlichkeit oder Identität ist das Ergebnis immerwährender Dialektik zwischen Leib-Selbst und „Außen“. Diese Identitätsbalance hinzubekommen, ist auch heute das Kunststück. Das neue Phänomen, um das es uns heute – zumindest aus einer kritischen Sicht - gehen sollte, ist die Erosion oder gar „Korrosion“ (Sennett 1998) dieses Leib-Selbsts. Wir wissen oft nicht mehr, was uns eigentlich als Individuum ausmacht, wir wissen oft nicht mehr, was wir wollen und anstreben, außer eben schlichtweg „Erfolg“. Die postmoderne Theorie, die unsere Vorstellungen von Einheit der Person, von Kontinuität, und Kohärenz dekonstruiert und nur noch Fragmente, Bruchstücke und zufällige Konstellationen sieht, kippt an vielen Stellen in eine hemmungslose Beschönigung eben dieses Zustandes um. Das menschenunwürdige Hire-and-Fire, das Umherschieben von Betrieben und Arbeitskräften, die Zwangsmobilität und die Zwangsflexibilität werden als Normalität hingenommen oder gar als Fortschritt gepriesen. Und so heißt es etwa bei Kenneth Gergen, einem recht bekannten US-amerikanischen Psychologen, „ohne erkennbare Trauer“ (Keupp): „Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete, ‘one-style-for-all’ Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. (...) Wir feiern jetzt das proteische Sein. (...) Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen allüberall und die Zeit ist eine knappe Ware“ (zit. nach Keupp 2010, S. 9). Insofern darf themenkritisch festgestellt werden: Es geht nicht um Kollateralschäden! Diese Schäden sind beabsichtigt!

Die Fragen gehen weiter: Wenn wir annehmen, dass Persönlichkeit etwas ist, was biographisch aus einem Menschen geworden ist, als Resultat unendlich vieler sozialer Interaktionen, was bedeuten dann Beschädigung oder gar Zerstörung? Zerstört kann nur werden, was eine Gestalt hat, doch muss diese Gestalt anders, ursprünglich anders oder anders geworden sein, als das, wohin die Vektoren von Macht und Herrschaft sie treiben wollen. Wie auch immer: Zur Persönlichkeit gehört die leibseelische Einheit des lebendigen und sich raumzeitlich orientierenden Menschen: die Leiblichkeit. Gorz (1989, S. 129 ff.) erinnerte daran, dass wir nicht als abstrakte Wesen existieren, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut. Wir nehmen die Welt sinnlich-stofflich wahr und wir handeln stofflich-verändernd in der Welt, im sozialen Miteinander. Die Gesamtheit dieser Bezüge bildet gleichsam die „Gestalt“ unserer leiblichen Integrität. Sie ist das Fundament unserer Identität. Weiter ist zu fragen: Wieso wirkt sich erst der Neoliberalismus, warum nicht auch schon der „alte“ Liberalismus zerstörerisch auf den Menschen aus? Die Frage von Frese u.a. (1978), warum nicht jeder und jede Fließbandarbeiter/in verrückt werde, war so unberechtigt nicht. Nicht umsonst haben sich – durchaus in der Tradition der Kantschen Aufklärung – Marx (1844/1974) und viele kritische Theoretiker nach ihm Gedanken über Entfremdung und psychische Verelendung gemacht (vgl. Hofmann 1971, S. 153 ff.). Gewiss: Dagegen lehnten sich die Arbeiter und Arbeiterinnen auf – in Protesten, Streiks, Revolten und Revolutionen. Doch vergessen wir allzu leicht, dass unterhalb der aufscheinenden Auflehnung ein zumeist bedrückender Arbeits- und Lebensalltag lag, beschwert mit der gnadenlosen Gravitationskraft der Verhältnisse. Selbstredend wurden die darin gefangenen Menschen krank, und dies nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Ein ganzer Zweig der Sozialen Hygiene und der Psychiatrie – die Industriepsychiatrie – widmete sich diesen Phänomenen (Abholz 1970). Doch nicht, um den Niedergedrückten und Verzweifelten zu helfen, sondern ihnen „Unangepasstheit“, „Verrohung“, „moralischen Verfall“ oder Neuasthenie“, also Nervenschwäche und daher Untauglichkeit, zu attestieren.

Erleben wir heute also keine neue Qualität der psychischen Verelendung? Ich meine: Wir erleben eine neue Qualität. Für die Vermutung von Sennett (1998), dass der Taylorismus – trotz all seiner Furchtbarkeiten – aufgrund seiner Trennung von Hand- und Kopfarbeit den körperlich Arbeitenden auch ein Schutzschild gegen die begehrenden Übergriffe des Kapitals auf die „Seele des Arbeiters“ bot, sprechen viele gute Gründe. Heute hat sich dieses von langer Hand organisierte Begehren (über das schon Riesman 1958, Marcuse 1967 und viele andere berichteten), das „Innere“ des Menschen aufzubrechen und zu beherrschen, weitgehend durchgesetzt. Es gibt es diesen Schutzschild nicht mehr. Die Arbeitenden sind der herrschenden Ideologie gleichsam bis in den „feinstofflichen“ Bereich des Lebens hinein ausgeliefert. Es gibt kein „Außen“ mehr. Wovon der „alte“ Liberalismus träumte: der vollkommen individualisierte und atomisierte „homo oeconomicus“ mit Haut und Haaren, wird heute Wirklichkeit. Der Markt wird zu einer göttlichen Instanz (Veerkamp 2005), Menschsein zum unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007), Egozentrismus, Rücksichtslosigkeit und Mitleidlosigkeit avancieren zu belobigten und gewinnbringenden Tugenden, Ungleichheit wird unumwunden biologisiert (z.B. bei Friedrich August Hayek, vgl. die Kritik von Conert 2011, S. 304-326). Dies ist eine neue Qualität, dass überverausgabte und an der Grenze des Ausgebranntseins schliddernde Personen – „freiwillig“, „selbstgesteuert“ oder wie sonst noch die postmodernen, fehlleitenden Begriffe immer lauten mögen – Mehrarbeit leisten, nicht selten Arbeit mit nach Hause nehmen und sich dann noch selbst, da sie „nie fertig“ werden, des Ungenügens zichtigen.

Der arabische Frühling kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Jugend der Welt einer Idee der Freiheit hinterherläuft, die Freiheit nur als Freiheit des Geldes und des Konsums kennt. Sabine Rennefanz trifft mit ihrem Kommentar (am 10. August 2011 in der Frankfurter Rundschau) den Nagel auf den Kopf: „ Auf Partys unterhält man sich quer durch die Gesellschaftsschichten am liebsten über Immobilienkäufe, die nächste große Investition und das Ende des Euros. (…) Schlipsträgern gilt die gelebte Gier als Tugend; Kaputzenpulliträger setzen diese Gier in Randale um.“ Auch wenn die gerade stattfindenden Proteste, die von der Bewegung „Occupy Wall Street!“ entfacht wurden, einen Hoffungsschimmer aufleuchten lassen – die Proteste gehen nicht über die kapitalistische Logik hinaus. Die Jugend der Welt will nicht, dass ihre Zukunft verzockt wird. Die Jugend spürt zugleich, dass mit Fleiß und Leistung immer weniger zu gewinnen ist. Doch in welche Richtung soll es gehen? Wer sich nicht auf die Straße wagt oder sich dafür zu alt fühlt, droht in eine Spirale der Hoffungslosigkeit zu geraten. Dies belegt die Serie der Suizide in Frankreich ebenso wie der ungebremste Anstieg psychischer Erkrankungen europa- und weltweit. Alain Ehrenberg (2011) hat in seiner neuen Studie „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ den sozialen und ideologischen Wurzeln des psychischen Elends nachgespürt. Und er arbeitet ein Problem heraus, das uns zu denken geben sollte: Das massenhaft zu findende Symptom-Muster passt nicht mehr in das Kategorienschema der klassischen Psychiatrie und schon gar nicht in das der klassischen Psychoanalyse. Zwar lässt sich von einer „Krise des Narzissmus“ sprechen (Lasch 1995), im Kern besteht diese aber eher in einem Zerbrechen und Zerplatzen der Erfolgsillusionen. „Die psychopathologische Problematik der betroffenen Personen ist gänzlich von der Tonart des Verlustes geprägt: Depression, Rückzug, Zusammenbruch“ (Ehrenberg 2011, S. 439 f.).

Ganz ähnlich wie schon Rainer Zoll (1993), der ein „altes“ und ein „neues kulturelles Modell der Arbeit“ unterschied, spricht Richard Sennett (1998) von einer „Kultur der alten Ordnung“ und einer „Kultur der neuen Ordnung“ in der Arbeitswelt. Sicherheit weicht der Unsicherheit, Eingebundenheit der Bindungslosigkeit, Vertrauen der Gleichgültigkeit. Zugleich werden alte Strukturen von Macht, Kontrolle, Starrheit und Unbeweglichkeit – auch das betont Sennett – aufgeweicht. Das klingt zunächst vorteilhaft, und der Abbau jener Strukturen ist ohne Frage wünschenswert und notwendig. Das Problem liegt darin, was an deren Stelle tritt. Die sich entwickelnde allseits flexible und fluide Identität zeugt von einem fundamental schwachen Ich, das noch mehr als früher von Anpassungsfähigkeit und Erfolgen „im Draußen“ abhängig ist. Diese Entwicklung ist keinesfalls alternativlos – hierauf wird zurückzukommen sein. Einstweilen aber dominiert diese Entwicklung die Situation. Sennett untersucht dies am Beispiel der Teamarbeit. Ein Teamarbeiter sollte fähig sein, „von etablierten Beziehungen abzurücken“, sich rückhaltlos der vorliegenden Aufgabe anzupassen und lernen, sein Team „als Firma“ zu sehen. Der „Teamspieler“ muss lernen, sein eigenes Verhalten den anderen gegenüber entsprechend zu manipulieren. Was übrigbleibt, „sind die Masken der Kooperation“ (Sennett 1998, S. 151). Die Prinzipien der kapitalistischen Konkurrenz und die zugleich dafür erforderliche Härte gegen sich und andere bilden mit der geforderten Flexibilität ein eigentümliches, höchst schädigendes Amalgam. Sennett nennt das Resultat klar beim Namen: „The corrosion of character“.

Wilfried Glißmann, Betriebsrat bei IBM Düsseldorf, schildert (am 8. August 2004 in der Frankfurter Rundschau, 27.8.2004) anhand eines Beispiels sehr eingängig die Atmosphäre des Gruppendrucks. Es geht um eine Situation, in die ein hochqualifizierter Software-Entwickler gerät, indem er unglücklicherweise gerade dann, wenn er in Urlaub fahren will, mit einem akuten und unaufschiebbaren Arbeitsproblem konfrontiert wird. Ein Arbeitskollege, der vermutlich eine höhere Position als der Betroffene innehat, repräsentiert dabei die Logik des Arbeitssystems. Der Gesamtkontext dieser Arbeitssituation führt dazu, dass der Betroffene zwar wegfahren, doch am Urlaubsort im Prinzip keinen Urlaub machen kann, da er immer „online“ zu sein hat. Soziologisch gesprochen kommt er aus seiner Arbeitsrolle nicht heraus. Es ist nützlich, sich den Dialog genauer anzusehen.

R: „ ... im Urlaub, da wollte ich eigentlich nicht arbeiten ...“
W: „Hör mal, du bist der einzige, der sich auskennt. Und zwei Wochen, das ist eine lange Zeit, da kann viel schief gehen. ... Ich meine, die Kollegen hier haben mir gesagt, sie hätten dich schon öfter mal versucht zu erreichen, und du warst nicht da.“
R: „Wie, das kann doch nicht sein! Ich hab mein Handy immer angeschaltet!“
W: „Naja, die dicksten Dinger passieren ja immer nachts und am Wochenende. Ich kann auch nur wiedergeben, was man mir sagt.“
R: „Na hör mal, haben die sich etwa beschwert?“
W: „Nun, so würde ich das mal interpretieren.... Wenn das mit dem Urlaub jetzt noch dazukommt ... Du weißt ja ... Ich meine, ich habe mein Handy immer an.“
R: „Na gut, ich nehme das Notebook mit und schaue immer mal nachts rein.“ (...)
W: „ ... schau vielleicht auch mal tagsüber in deine E-Mails, ja? Du weißt ja, hier tut sich immer sehr viel. Ich versuche hier, die Stellung zu halten. Mit deiner Hilfe!“

Hier zeigt sich geradezu ein Paradebeispiel der Bemächtigung leiblicher Identität durch herrschaftliche Marktlogik. Der in scheinbarer kommunikativer Gleichheit agierende Interaktionspartner transportiert den Marktdruck direkt ins Innere des Betroffenen und lehrt diesen das Fürchten. Man spürt beim langsamen Lesen geradezu das innere Brechen. Die Umstände verfügen über den betroffenen Protagonisten dieser Szene, der dem eher „passiven Typus eines postmodernen Charakters“ (Fuchs 2005) entspricht, während der Vorgesetzte den eher aktiven Typus repräsentiert. Der passive Protagonist ist in die Situation eingefügt, er wird gleichsam in ihr Gefüge eingesperrt. Der betroffene Protagonist spürt seinen inneren Widerstand, seine leibliche Lebenslogik, die jedoch von einer bereits akzeptierten Systemlogik unterworfen wird. Der Motor dieser Psychodynamik ist die Angst - die Angst, als nicht leistungsfähig dazustehen, die Angst, das Projekt zu verlieren, die Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren, die Angst, den eigenen biographischen Entwurf zur Makulatur zu machen. Es ist nicht ein äußerer Befehl, sondern ein innerer. Das ist gegenüber der alten Kommando-Logik des Industriesystems der Unterschied. Ob dieser Unterschied entscheidend ist, das ist hier freilich die Frage. Tatsächlich gibt der betroffene Protagonist seine Freiheit auf. Die Markt- und Projekt-Logik verlängert sich als unerbittliches Kommando ins Innere des Subjekts. Die Arbeitsrolle frisst die lebendige Leiblichkeit auf (vgl. dazu auch: Hien 2008).

Die neuen Arbeitsformen, von denen beispielsweise der langjährig in Sachen Arbeitspolitik agierende IGM-Gewerkschafter Ulrich Klotz (am 8. August 2011 in der Frankfurter Rundschau) angesichts „vieler neuer Möglichkeiten“ schwärmt und als Durchbruch „neue(r) Freiheiten“ feiert, sind keineswegs „frei“. Eine „neue Freiheit“ ist auch dann nicht sichtbar, wenn die Arbeit aller äußeren Kontrolle entkleidet würde. Es verhält sich eher so, dass die subjektiven Potentiale entfaltet und gleichzeitig inhuman entstellt werden. Der Philosoph Byung Chul Han brachte dieses paradoxe Phänomen auf den Begriff: „ Die Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende nicht zu jener Gesellschaft, in der jeder ein Freier ist, der auch zur Muße fähig wäre. Sie führt vielmehr zu einer Arbeitsgesellschaft, in der der Herr selbst ein Arbeitsknecht geworden ist. In dieser Zwangsgesellschaft führt jeder sein Arbeitslager mit sich. Die Besonderheit dieses Arbeitslagers ist, dass man Gefangener und Aufseher, Opfer und Täter zugleich ist. So beutet man sich selbst aus“ (Han 2010, S. 45 f.). Der Schlussfolgerung Hans, dadurch sei „Ausbeutung auch ohne Herrschaft möglich“ geworden, würde ich allerdings widersprechen: Herrschaft findet nunmehr im Subjekt selbst statt. Hier ist Zygmunt Bauman (2009, S. 55 f.) zuzustimmen: Herrschaft ist „formlos“ geworden, „ohne den geringsten Verlust an Härte“. Die Mächtigen bleiben im Verborgenen und können sich „ganz auf den endemischen Selbstbewusstseinmangel ihrer Untergebenen verlassen“.

Die zahllosen Ratgeber auf dem Psychomarkt versuchen, diesen Mangel durch Regieanweisungen der Selbstinszenierung zu beheben. So meint der Benediktinermönch Meinrad Dufner (2004, S. 19): „Was uns mürbe macht, ist nicht die Arbeit, sondern der innere Widerstand dagegen höhlt aus.“ Dufner – und er soll hier für viele Ratgeber stehen – rät uns, sich die an uns gestellten Anforderungen „ganz zu eigen zu machen“. So verwandle sich alles zu „meinem Werk“, ohne jede Entfremdung. Ich sei dann „ganz bei mir“ und brauche nicht einmal mehr die Anerkennung „von draußen“. Hier irrt Dufner gewaltig. Das Gegenteil ist der Fall: Die Resultate meiner Arbeit verwandeln sich in Fetische, die „im Draußen“ wirken, die mich beherrschen, von denen ich abhängig werde wie von schweren Drogen. Ausnahmslos alle neueren arbeitssoziologischen Studien beklagen eine ins Extrem gesteigerte Arbeitsorientierung, eine Arbeitssucht, die von der Gier nach Erfolg gespeist wird. Eine neue Untersuchung von Held u.a. (2011) mit dem Titel „Was bewegt junge Menschen?“ offenbart noch einmal sehr eindringlich den Wandel vom innen- zum außengeleiteten postmodernen Subjekt. Ein interviewter Psychotherapeut berichtet von einer zentralen Erfahrung gerade mit jüngeren Erwerbstätigen (in: Held u.a. 2011, S. 316):

Alles soll bestens und toll sein. Alle unvollkommenen, problematischen, schwachen, alle eher negativen Seiten werden weitgehend verleugnet. Dies gilt für alle Ebenen und von Konflikten, die man mit anderen, mit sich selbst, mit der Arbeit und Vorgesetzten oder sonstigen hat. Die ganze Konfliktseite wird abgespalten, aber auch die ganze Seite des negativen Erlebens. Negative Gefühle zu haben, also etwa auf jemand anderen wütend, ärgerlich zu sein, Angst zu haben, von Skrupeln geplagt zu werden, ist immer ein Indiz dafür, dass man sozusagen nicht zu den Gewinnern gehört. Und deshalb müssen solche Aspekte vor sich selbst ausgeblendet werden.

Die Studie von Held u.a. arbeitet heraus, dass viele Menschen eine Ich-Stärke inszenieren, in deren Hintergrund Schwäche und Verzweiflung steht. Zur Selbst-Inszenierung gehört auch die Ebene von Leib und Körper. Eva Kreisky (2003), Politikwissenschaftlerin und Frauenforscherin in Wien, diagnostiziert ein geradezu paradoxes Zeitphänomen: einerseits ein Verschwinden des Körpers in der multimedialen und virtuellen Welt, andererseits eine Stilisierung des Körpers, der zur Präsentation auf dem Markt der „unternehmerischen Selbste“ immer unverzichtbarer wird. Gefordert ist der „schöne neue Idealkörper“ und dies auch noch in klassisch geschlechter-dichotomer Art und Weise. Jugendliche geraten immer stärker in einen Dauerstress, „gut auszusehen“. Für sie ist ihr Körper „eine Bio-Aktie mit hoher Gewinnerwartung“ (Kreisky). Ein Studium der Stellenanzeigen auch angeblich seriöser Zeitungen und Internetformen belehrt auch Zweifler, dass dem tatsächlich so ist. Wenn du deine Person als Ganzes verkaufen musst, dann wird der Körper zu einer entscheidenden Sache – aber eben zu einer Sache, genauer noch: zu einer mehr und mehr entfremdeten Sache. Die präsentierbare Körperlichkeit entfremdet uns von unserer Leiblichkeit. Auch hier werden wir auseinandergerissen, zerrissen, zerstört. Am Fließband war völlig unwichtig, ob du schön oder „vorzeigbar“ bist, du musstest nur die Zähigkeit besitzen, die für diese Arbeit nötig war. Eine Vielzahl neuer Dienstleistungssektoren lebt hingegen von der visuellen Präsentation. Das kulturindustrielle Trommelfeuer der Webebranche tut ein Übriges. Körperkult und neoliberales Denken fügen sich passgenau ineinander – so werden Menschen konditioniert. Die Zurichtung beginnt schon in der Schule.

Wir befinden uns in einer ganz und gar eigentümlichen historischen Situation. Wir sind Zuschauer und Akteure zugleich – in einem großen Weltschauspiel, dessen Akte mit folgenden Worten überschrieben sein könnten: Globales Finanzkapital, totale Mobilmachung der Arbeit, gnadenlose Beschleunigung, Aufbau von Scheinwelten und deren Zerplatzen, Angst, Wut, Erschöpfung, Leere. Weniger elaboriert könnte es auch heißen: das Letzte geben, die Nerven dauer-angespannt, dann schließlich doch scheitern, verzweifeln, durchdrehen, zusammenbrechen, sich-verkriechen, nichts-mehr-wissen, nichts-mehr-spüren. Das Eigentümlich nun aber ist: Wir werden überschwemmt mit Befragungen, Kommentaren und Handlungsanleitungen. Supervisoren, Coacher und Psychotherapeuten haben Hochkonjunktur. Wir können uns kaum retten vor gutgemeinten Ratschlägen, die sich schnell in Drohungen verwandeln können. Und dies nicht nur, weil sie sich in unserer Seele mit dunklen Kindheitserinnerungen verstricken. Nein: Weil sie mit dem Gesamt der realen, aber vollkommen paradoxen Vorgängen verschmelzen, die sich vor unseren Augen abspielen. Ein Aspekt scheint mir dabei von besonderer Wichtigkeit zu sein: Noch nie wurden Beschäftigte so viel befragt wie heute. Noch nie waren sich alle so einige über ein zentrales Ergebnis: Uns fehlt die Anerkennung! Und doch möchte ich stark bezweifeln, dass lobende Worte des Chefs wirklich nachhaltig unsere Situation verbessern würden. Der Frankfurter Soziologe Stefan Voswinkel (2002) hat herausgearbeitet, dass es nicht die fehlende Anerkennung zermürbt, sondern das Ausbleiben des Erfolgs, für den wir bewundert werden möchten. Das genau ist das Neue im Posttaylorismus, der nicht mehr unsere Arbeitskraft nutzen, sondern unserer ganze Person in den Prozess der Vermarktlichung einspannen will.

Eine andere Lesart von Anerkennung liegt auf der Hand: Was wir zum Menschsein wie das täglich Brot brauchen, ist, vom Anderen in unserem Mangel, unseren Eigenarten mit all ihren Stärken und Schwächen, unserer Bedürftigkeit, unserem Begehren, aber auch unserer Hilflosigkeit, anerkennend, nicht vereinnahmend, angenommen, ja: respektiert zu werden. Dies ist zugleich eine Forderung an uns selbst, Fehler – die eigenen wie die des Anderen – wohlwollend zu akzeptieren. Was wir brauchen, ist nicht eine Optimierung unseres Arbeitsvermögens, ist nicht ein lebenslanges Lernen unter Zwang, sondern die Fähigkeit, Sensoren für unser leibliches, seelisches und geistiges Mit-Sein zu entwickeln. Achtsamkeit ist kein schlechtes Wort hierfür. „Dem Kältestrom einen Wärmestrom entgegensetzen“ (Negt). Dazu würden orientierende Leitplanken gehören, wie z.B. „Leben und Arbeiten entschleunigen“, „Grenzen setzen und Grenzen akzeptieren“, „nicht immer mehr, sondern weniger arbeiten“, „sich rückbesinnen auf den Wert gegenseitiger Hilfe“, „nachdenken über den Sinn von Solidarität“. Ganz entscheidend ist, den Wert des Menschseins nicht nach ökonomischen Kriterien zu messen. Der Wert des Menschen liegt in seinem Menschsein selbst! Ein schreckliches Symptom der neoliberalen Kolonisierung unserer Hirne ist das Gerede von „Leistungsträger“, „Hochleister“, „Minderleister“ usw. usf. Dem Einhalt zu gebieten, ist das Mindeste!

Wenn wir über Wertschätzung und Anerkennung reden, so müssen wir jedoch genau aufpassen, dass nicht aus der vermissten Anerkennung, träte sie denn ein, ein Schuh wird. Anerkennen kann auch bedeuten, das „Objekt“ der Anerkennung in einer ganz bestimmten Weise als ein von Außen bestimmtes Etwas zu identifizieren und damit definitorisch fremdzubestimmen, einzugrenzen, zuzurichten, und zwar genau den Anforderungen gemäß, die sich gerade im Kontext der globalisierten Wirtschaftswelt ergeben. Resultat ist genau diejenige „fluide Identität“, die von „postmodernen“ Unternehmensberatern pausenlos gefordert wird – eine Identität, die keine mehr ist. Resultat ist eine rückhaltlose und selbstvergessene Identifikation mit der Arbeitsrolle, die unweigerlich zu einem Zusammenbruch der Person führen muss. Schon vor Jahrzehnten hat Hans Peter Dreitzel (1968) in seiner wegweisenden Studie „Die gesellschaftlichen Leiden und die Leiden an der Gesellschaft“ die zwei Gefahren im Umgang mit der Rolle herauskristallisiert: Entweder ich lasse mich gar nicht auf die Rolle ein, reduziere sie damit zur „Schablone“ und gehe damit ins innere oder äußere Exil, oder: Ich verliere jede Distanz zur Rolle, mache mich selbst damit zu einer „Marionette“ jener Rolle und drohe dadurch mein Selbst zu verlieren. In beiden Fällen findet eine Spaltung statt – die Verbindung zwischen Arbeitsrolle und der sie tragenden Person reist ab. „Ich bin nichts mehr außer dem, was ich gerade Tolles mache!“ Wenn das misslingt, falle ich auf die eine oder andere Weise heraus. „Exit“ nennt Voswinkel (2002) diese Option. Fluide Identität besitzt kein eigenes Flussbett mehr, keine eigene Kontur, keine eigene Gestalt – sie zerfließt, läuft aus, versickert, versandet. Übrig bleibt die Fata Morgana, der neoliberal erzeugte Wahnsinn, von dem der neue Roman von Thomas Melle: „Sickster“ so trefflich erzählt.

Verweilen wir einen Augenblick bei der Option einer – vielleicht während der ersten zehn Jahre eines Jobs – gelingenden Überidentifikation. Die marktförmig gesetzten Anforderungen, Handlungsweisen und Wirkungsketten verschieben das Koordinatensystem meiner Werte. Ich habe zunächst eine bestimmte Auffassung von meinem Beruf, vielleicht sogar ein Berufsethos. Der Rentabilitätsvektor meines Tuns aber treibt mich in eine andere Richtung. Ich muss eine Software als „hervorragende Lösung“ verkaufen, die ich persönlich für schlecht oder gar gefährlich halte. Ich muss einen pflegebedürftigen Menschen in 3,7 Minuten abfertigen, obwohl ich genau weiß, dass ich erst mal 15 Minuten für die Emotionsarbeit brauche. Als Techniker im Kernkraftwerk bin ich für ein System verantwortlich, zu dessen akkurater Überwachung ich nicht mehr über die nötige Zeit verfüge. Das bringt mich in innere Zerreißproben, in eine moralische Dissonanz, in einen extrem belastenden Verantwortungs-Stress. Im skandinavischen Raum wird diese Dauerbelastung als „stress of conscience“ – Gewissens-Stress – bezeichnet und empirisch beforscht (z.B. Juthberg u.a. 2008; vgl. dazu auch: Hien 2009, S. 176 ff.). Es ist im wahrsten Sinne des Wortes furchtbar, was sich da abspielt. „I felt like the angel of death“ ist ein Artikel überschrieben, der sich mit Rollenkonflikten und moralischem Distress von Medizintechnikern in einem US-amerikanischen Krankenhaus beschäftigt (Mueller u.a. 2011). Was ist die Folge? Ich werde zu einer Marionette des Arbeitssystems, zu einem „leistungsbewusste(n) Mitläufer“ (Negt), der – stark an den eindimensionalen Menschen in Marcuses Analyse erinnernd – letztlich nichts weiter ist, als eine roboterhaften Figur, die nach einer gewissen Zeit sich selbst, genauer: sein leibliches Selbst, auszulöschen beginnt und über kurz oder lang – „depersonalisiert“ – zusammenbricht. Depersonalisation, Entpersönlichung – das heißt: innere Leere, Gefühllosigkeit sich selbst und anderen gegenüber, totale Gleichgültigkeit, möglicherweise aber ein äußeres Funktionieren oder zumindest die Offerierung eines Scheins desselben. Die fluide Identität ist bindungslos und verantwortungslos. Ich habe in bestimmten Momenten den Eindruck, dass die postmoderne Arbeitswelt schon sehr viele entpersönlichte Menschen produziert hat; in anderen Momenten sehe ich aber auch viel Menschlichkeit, die Hoffnung macht. Zur Menschlichkeit gehört auch die Krankheit. Vielleicht zeigen uns die Depressionen auch endlich die Grenzen auf, über die der neoliberale Kapitalismus ständig hinwegzugehen trachtet. „Krankheit in einer kranken Gesellschaft ist ein Zeichen von Gesundheit“ – so oder ähnlich hat es einmal Nietzsche geschrieben, und darin sind ihm durchaus so unterschiedliche Geistesgrößen wie Erich Fromm oder Theodor W. Adorno gefolgt.

Die letztendliche Frage ist doch die: Kann es eine Umkehr geben? Wenn, und darin folge ich Heiner Keupp (2010), „immer noch Ziel unserer Aktivitäten die Förderung von Emanzipation und Aufklärung“ sein soll, dann ist die Frage nicht fern: Wie wollen und können wir uns aus den Fesseln neoliberaler Ideologien befreien? Können wir Wege öffnen zu einer selbstbestimmten, widerständigen und kreativen Form des Arbeitens und Lebens? Mitbestimmung greift viel zu kurz. Was wir brauchen, ist eine neue, authentische, reflektierte Beziehung zur Welt, eine „neue Selbst-Welt-Beziehung“. So nennt Hartmut Rosa, Soziologe an der Universität Jena, die Perspektive, welche die Beschleunigungsdynamik und Entfremdungserfahrungen aufbrechen könnte. Es geht zugleich auch darum, das Glücksversprechen des Kapitalismus, vor allem das, was es in uns anrührt, Stück für Stück auseinanderzunehmen und die Teile neu, eben menschengemäß, zusammenzubauen. Dekonstruktion und Rekonstruktion wären hierfür die richtigen Worte. Dafür brauchen wir die soziale Anerkennung als eigenständige Individuen in all seiner Unvollständigkeit; dafür brauchen wir aber auch das Selbst-Entdecken und Selbst-Anerkennen unseres eigenen inneren Maßes, unserer biographisch gewordenen Authentizität, die uns eine nicht-entfremdete Resonanz zur Welt erlaubt. Wenn ich meine Freude wiederentdecke, die mich als Kind beim Singen barocker Kantaten erfüllte, und dieser Entdeckung nachgehe, komme ich vielleicht zu dem Punkt, mich entschließen zu können, meine Arbeitszeit zu reduzieren und dafür wieder mehr aktive Musik zu machen. Jeder und jede möge sich das für ihn und sie passende Beispiel heraussuchen. Es gibt bestimmt eines!

Lieber Wolfgang!

Wir haben in der Redaktion deinen Text diskutiert. Von der Art und von Deinem Zugang her hat er uns gut gefallen, dennoch gab es von einigen (nicht allen) RedaktionsgenossInnen auch Kritik. Ich bin einer von denen und der Grund dafür ist schnell erklärt, es ist nämlich Deine einseitige Darstellung. Nicht, dass das nicht wohl die selbstgestellte Aufgabe deines Vortrags war, ist das Problem, und auch nicht, dass die von Dir angesprochene „Zerstörung der Persönlichkeit im Neoliberalismus“ falsch beschrieben würde, aber in der verallgemeinernden und vor allem einseitigen Art würde ich das so nicht teilen. In Deiner meines Erachtens oft schematischen Gegenüberstellung von Fordismus und Neoliberalismus werden jene Aspekte des Zweiteren, die aus den Kämpfen und sozialen Bewegungen von „68“ und danach hervorgegangen sind – und die nach wie vor zum Bestand befreiender politischer und sozialer Praktiken gehören sollen, ja müssen – einseitig dem „reaktionären Konto des Neoliberalismus“ zugerechnet. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ja, der neoliberale Kapitalismus hat es „geschafft“, die Sehnsucht der Ausgebeuteten nach Autonomie, nach Selbstverwirklichung und -bestimmung im Sinne kapitalistischer (Selbst)Verwertungslogik umzuwenden und zu Motiven der Kapitalakkumulation werden zu lassen. Aber andererseits gibt es damals wie heute Aspekte der Kritik an fordistischen Zuständen, hinter die wir nicht zurückgehen solllten. Der Fordismus war eben kein goldenes Zeitalter für die ArbeiterInnenklasse– außer vielleicht für einen kleinen Teil des jeweils „einheimischen“ weißen, männlichen Proletariats in den imperialistischen Zentren …

Manchmal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass deine bereichtigte „operaistische“ Sicht auf die Massenarbeit des Fordismus (die betrachtest du ja ganz erfrischend – entgegen den „marcusianischen Entfremdungsblick“) mit dem historischen Übergang zur Hegemonie postfordistischer Formen abrupt abbrichst und ebenjene vorhin zurecht von dir kritisierte Entfremdungskritik ganz einfach auf die neuen Arbeits- und Lebensverhältnisse anwendest. Als Aktivist der Mayday-Bewegung, prekär Beschäftigter und postoperaistisch inspirierter Theoriemensch kann ich dieser Wendung – zumindest in der von Dir vorgestellten Schwarz-Weiß-Variante – nicht zustimmen. Aus all diesen Perspektiven sehe ich durchaus Aspekte bzw. Elemente der Prekarisierung, die im Sinne emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung weiterzutreiben und nicht zurückzudrängen sind. Ich stimme Toni Negri in einigen seiner Formulierungen nicht zu, aber mit seinem bereits in den späten 70ern entwickelten Prinzip der „Autovalorizazzione“ (Selbstverwertung), der Möglichkeit der Selbstbefreiung der Multitude qua Realisierung des im Zuge der Verwissenschaftlichung des Kapitalismus und der sie begleitenden und befördernden Kämpfe entwickelten kollektiven Vermögens, des „General Intellect“ mit Marx gesprochen, hat er schon einen wichtigen Punkt getroffen. Auch die aktuellen Debatten um Commons und Solidarische Ökonomie knüpfen an diesen „positiven“ Zugang zu möglichen ökonomischen und gesellschaftlichen Alternativen zum Krisenkapitalismus an. Aber das ist eine andere Geschichte …

Ich hoffe, dass du mit meinen stichwortartigen Kritikpunkten etwas anfangen kannst und freue mich – auch im Namen der Redaktion – auf eine mögliche Antwort.

Beste Grüße
Martin Birkner

Lieber Martin!

Die Art und Weise, wie ich versuche, politisch zu reflektieren, ist zugegebenermaßen stark von meinen Eigenerfahrungen geprägt: In den 1960er und 1970er Jahren 10 Jahre Arbeiter, z.T. in der Hölle der Chemie- und Stahlindustrie, damals waren wir in kleinen Betriebszellen organisiert und haben versucht, anknüpfend an die militante Arbeiteruntersuchung die betriebliche Realität und diejenige der gesamten Arbeiter/innen-Existenz soweit zu erfassen, wie es uns möglich war und zugleich Impulse für widerständiges Handeln zu geben. Mein Hauptthema war der ruinöse Gesundheitsverschleiß in der Industriearbeit. Seit der Jahrtausendwende versuche ich als sozialwissenschaftlicher Forscher – und zeitweise als Referatsleiter für Gesundheitsschutz des DGB-Bundesvorstandes - die veränderte Realität in der Industrie, vor allem aber die neuen Realitäten in den Dienstleistungsbranchen zu verstehen. Was ich wahrnehme, ist ein ebenso ruinöser Gesundheitsverschleiß, nunmehr nicht mehr vorwiegend jener der Knochen, sondern nunmehr den der Psyche. Die These von der psychischen Verelendung gewinnt eine Aktualität bisher unbekannten Ausmaßes. Gorz spricht in seiner Studie „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ m.E. zu Recht von einer neuen Stufe der Ausbeutung, die er über den Verkauf der Arbeitskraft hinaus als Verkauf des ganzen Menschen, als Prostitution bezeichnet. Die Folgen für die sozialen Beziehungen sind erheblich: Ein subtiles Konkurrenzgehabe, ein subtiles Mobbing, unverhohlener Zynismus, Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit, emotionale Falschheiten, wie ich sie nie für möglich gehalten habe.

Ich suche nach Momenten der Alltagssolidarität, aber ich finde sie nicht. Das kann – das gebe ich gerne zu – an meiner Art zu sehen, an meiner Brille, liegen, die womöglich neue Formen der Solidarität wegfiltert. Unbestreitbar aber, so meine ich, ist die Feststellung, dass sich überall diejenigen Leute durchsetzen, die man früher als Psychopathen bezeichnet hätte. Wer ehrlich (oder authentisch) ist, gilt als naiv und unbrauchbar. Er wird sofort, überall, über den Tisch gezogen. Ich kriege täglich Mails von Menschen, die irgendwas von mir gelesen haben (z.B. mein Buch über die IT-Branche: „Irgendwann geht es nicht mehr“) und ihr Leid klagen. In neueren Romanen und Zeitbeschreibungen werden diese Dinge oftmals recht treffend beschrieben, z.B. Thomas Melle: „Sickster“, Kathrin Röggla: „Wir schlafen nicht“ oder Nina Pauer: „Wir haben keine Angst“. Wie sehr ich früher in der Fabrik gelitten habe, aber diese gegenseitige Fertigmacherei scheint mir ein historisch neues Phänomen zu sein. OK, ich gebe gerne zu, das gab es zu in den 1960er Jahren auch, die Hierarchien und die Zwänge waren enorm, aber es gab immer auch Verbündete, eine – wie Konrad Thomas sagt – „verborgene Situation“, es gab immer so etwas wie eine Alltagssolidarität. Und genau die scheint es heute nicht mehr zu geben. Wie froh wäre ich, wenn Du Recht hättest, dass nämlich sich unter der Oberfläche der Phänomene der Hartherzigkeiten eventuelle doch andere Entwicklungen stattfänden.

Beste Grüße,
Wolfgang

Literatur

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  • Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin.
  • Veerkamp, T. (2005): Der Gott der Liberalen. Eine Kritik des Liberalismus. Hamburg: Argument.
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  • Zoll, R. (1993): Alltagssolidarität und Individualismus. Zum soziokulturellen Wandel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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