Heft 8/2003 — 1/2004
Dezember
2003

Der sozialdemokratische Leviathan

Über einen Versuch, die Sozialfaschismusthese zu retten und gegen ihre Urheber zu wenden.

Es gibt Menschen, die sich im Deutschland des Jahres 2003 empört in eine anklägerische Pose werfen, ihren Austritt aus der Sozialdemokratie erklären und laut „Verrat“ schreien. Und es gibt immer noch einige Marxisten, die meinen, man müsste revolutionäre Impulse in die Sozialdemokratie hineintragen. Und das alles 89 Jahre nach der Bewilligung der Kriegskredite, 85 Jahre nachdem die SPD der Reaktion den Bluthund gemacht hat, 70 Jahre nach der Kapitulation der Sozialdemokratie vor dem Nationalsozialismus, 44 Jahre nach dem Godesberger Programm, 31 Jahre nach den Brandtschen Berufsverboten und 26 Jahre nach Schmidts Deutschem Herbst. Wer sich heute von der Schröder-SPD „enttäuscht“ zeigt, verhält sich ähnlich wie ein Katholik, der am Beginn des 21. Jahrhunderts entrüstet zur Kenntnis nimmt, daß sich der Papst gegen Kondome und Abtreibungen ausspricht.

Was man schon früh über den Staatsfetischismus der Sozialdemokratie wissen konnte, hat der antibolschewistische Kommunist Willy Huhn im Laufe seines Lebens in mehreren Arbeiten dargelegt. Viele Jahre waren seine Schriften nicht oder nur schwer zugänglich. Der Freiburger ça ira-Verlag hat nun mit seiner kommentierten, mit Biographie und Bibliographie versehenen Veröffentlichung sein Programm einer Neuauflage jener Texte fortgesetzt, welche schon in ihrer Entstehungszeit über den sozialdemokratischen und bolschewistischen Traditionsmarxismus hinausgewiesen haben. Huhn war in den dreißiger Jahren Mitglied in der Jungsozialistischen Vereinigung (und dadurch gegen seinen Willen automatisch auch in der SPD), der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands und schließlich bei den Roten Kämpfern. Nach kurzzeitigen Inhaftierungen 1933 und 1934 widmete er sich als Autodidakt der theoretischen Selbstverständigung, deren vorläufiges Ergebnis das im vorliegenden Band veröffentlichte Manuskript „Bilanz nach 10 Jahren“ war. Nach Kriegsende arbeitete er kurzfristig als Volkhochschullehrer und Dozent in sozialdemokratischen und sozialistischen Bildungseinrichtungen, wurde 1953 aus der SPD ausgeschlossen und beteiligte sich bis zu seinem Tod 1970 mit Artikeln und Diskussionsbeiträgen an linkssozialistischen und rätekommunistischen Diskussionen.

In seiner Kritik beschränkt Huhn sich nicht auf den obligatorischen Reformismusvorwurf an die Adresse der Sozialdemokraten, sondern arbeitet den Beitrag der staatssozialistischen Arbeiterbewegung an der ökonomischen, politischen und ideologischen Vorgeschichte des Nationalsozialismus heraus. In seinem Aufsatz über nationalen Sozialismus und Etatismus in der Literatur der deutschen Sozialdemokratie, der Anfang der siebziger Jahre kurzzeitig die Aufmerksamkeit einiger Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes auf sich zog, weist er akribisch nach, wie die Vorstellungen vom „Kriegssozialismus“ für die SPD prägend wurden und blieben. In seiner „Bilanz nach 10 Jahren“, in der auch österreichische Sozialdemokraten wie Otto Bauer und Karl Renner mit ihrer Begeisterung über die Durchstaatlichung der Gesellschaft im Kriege gebührend gewürdigt werden, beschreibt er das „Hineinwachsen“ der autoritären, etatistischen und auf die Integration der Massen setzenden Sozialdemokratie in den Nationalsozialismus: „Was ‚friedlich‘ um 1900 einsetzte und ‚militärisch‘ 1914 expoldierte, das setzte sich dann ‚übergangswirtschaftlich‘ (…) 1919 fort, um dann 1927/28 ‚wirtschaftsdemokratisch‘ von neuem versucht und noch 1932 ‚planwirtschaftlich‘ aufgegriffen zu werden, um schließlich 1934 – 1939 ‚nationalsozialistisch‘ zu enden.“

So wie der faschistische und nationalsozialistische Korporatismus für die sozialpartnerschaftliche Orientierung nach 1945 stilbildend war, so war die vorfaschistische Verstaatlichung der Arbeiterbewegung, die sie, in Form etatistischer Parteien und konstruktiv gestimmter Gewerkschaften als Vertreterin der schaffenden Menschen einerseits und des Staatswohls andererseits auftretend, nahezu zwangsläufig in die Nähe faschistischer Gemeinwohlkonzeptionen brachte, Vorbedingung für den nationalsozialistischen Volksstaat. Ohne eine platte Totalitarismustheorie bürgerlicher Provenienz zu formulieren, verweisen Huhns Texte auf unheimliche Verwandtschaften. Sie thematisieren die zumindest partiellen Übereinstimmungen genuin faschistischer, rechts-sozialdemokratischer und stalinistischer Grundsätze: den grenzenlosen Staatsfetischismus, die ihm inhärente Bindung von Interessen an die Allgemeinheit und die Beschränkung jedes partikularen Bedürfnisses durch die Bedürfnisse des übermächtigen Gewaltmonopolisten.

Clemens Nachtmann interpretiert in seinem Vorwort Huhns Überlegungen zum totalen Staat treffend als eine Ehrenrettung der Sozialfaschismusthese, die er allerdings sogleich gegen ihre Urheber, also die Parteikommunisten wendet. Er weist darauf hin, daß die KPD der Weimarer Republik sich zwar in ihren Taten eindeutig von der polizeistaatlich gestimmten und schon damals auf Notstandsverwaltung orientierten SPD unterschied, aber in ihren Vorstellungen vom proletarischen Zukunftsstaat nur die radikalisierte Variante der Sozialdemokratie darstellte, also selbst Züge eines „Sozialfaschismus“ an sich hatte.

Willy Huhns Analysen sind mehr als ein historisches Dokument. Wäre die Sozialdemokratie heute nicht wieder dabei, sich hin zu einer sozialfaschistischen Kampagnenpartei in dem Sinne zu entwickeln, daß sie, wie im Vorwort ausgeführt wird, sich im Augenblick der Kürzung der sozialstaatlichen Alimentiereung als Moderatorin des ressentimentgeladenen Mobs anbietet und so Herrschaftsverinnerlichung, den Zwang zur fremdbestimmten Eigenverantwortlichkeit und permanente Feindbildproduktion in einem besorgt, bestünde der Wert von Huhns Texten lediglich in der Dokumentation der Tradition einer antileninistischen Marxinterpretation und einer linkskommunistischen Etatismuskritik. Die ist heute aber, wie Joachim Bruhn in seinen Nachbemerkungen zum Rätekommunismus darlegt, selbst schon überholt und in ihrem Insistieren auf einem scheinbar überhistorischen „Grundwiderspruch“ zwischen Kapital und Arbeit bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber der NS-Barbarei mit ihrer im Vernichtungsantisemitismus verwirklichten klassenlosen Klassengesellschaft in Form der Volksgemeinschaft, die auch bei Huhn kaum eine Rolle spielt, dem leninistischen Marxismus zutiefst verwandt. So sind die Konsequenzen, die Nachtmann aus Huhns Kritik in seinem Vorwort für die Kritik der gegenwärtigen Transformation der postnazistischen Demokratie in der Bundesrepublik zieht instruktiver als Huhns Darstellungen selbst. Vor- und Nachwort des Buches waren wohl auch die Voraussetzung, um die über 50 Jahre alten Texte nochmal auflegen zu können. Sie liefern die notwendige Kritik an Huhns Arbeiten, die zum Teil ungeheuerliche Ausführungen über das „Diktat“ des Versailler Vertrages oder über die notwendige Äquidistanz bei innerimperialistischen Konflikten enthalten — eineÄquidistanz, die selbst noch dem nachnazistischen Rätekommunismus eigen war und ist, und die nur durch ein vollständiges Abstrahieren vom Antisemitismus möglich wird. Dieses Abstrahieren ist auch für Huhns Arbeiten charakteristisch und verweist auf die Begrenztheit seiner Überlegungen zur „Wesensähnlichkeit“ der „vier großen ‚Ismen‘: Sozialdemokratismus, Nationalsozialismus, Bolschewismus und Faschismus“.

Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichtedes Nazifaschismus. Mit einem Vorwort von Clemens Nachtmann, einer biographischen Notiz von Christian Riechers, einer bibliographischen Information von Ralf Walter sowie einer Nachbemerkung von Joachim Bruhn. ça ira-Verlag: Freiburg 2003, 224 Seiten, EUR 18,—

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