FORVM, No. 465-467
November
1992
Lieber, verehrter Herr Anders

Die Bombe küßt niemanden

Lieber, verehrter Herr Anders,

zu der unsäglichen Rezension von Werner Fuld in der ›FAZ‹ vom 26. September, die mich in unverfrorener und total irreführender Weise für eine nur der ›FAZ‹ passende Anders-Kritik in Anspruch nimmt, schicke ich Ihnen eine Kopie meines Leserbriefes dazu. Hoffentlich bringt die Redaktion ihn: In der Regel werden Briefe von rezensierten Autoren nicht veröffentlicht. Das könnte hier als formales Alibi dienen, obwohl ich mich nicht als Rezensierter, sondern als Antikritiker von Fulds Anders-Kritik äußere. Was ist denn in Fuld gefahren? Er war doch früher auf Ihrer Seite, sogar mit Nachlaßfragen betraut, wenn ich mich recht erinnere. Der typische Renegat? Ich freue mich, bei der Verleihung des Freud-Preises an Sie am 10.10. ganz anderes über G.A. sagen zu können! [1]

Herzliche Grüße Ihres Ludger Lütkehaus

Die Bombe küßt niemanden
Leserbrief an die ›FAZ‹ [2]

Natürlich freue ich mich als Autor über Werner Fulds Würdigung meines Günther Anders-Buches. Indessen sind die Akzente, die Fuld setzt, nicht sachgerecht. Seine Anders-Kritik im ganzen halte ich für verfehlt.

Das gilt schon für die Kritik am Schriftsteller, am Poeten Anders, so richtig — und durchaus von Anders selber geteilt! — auch hier die Allergie gegen jede Nachbeterei ist. Über der punktuellen Distanzierung von Anders’ Lyrik darf man den Fabel-Autor, den Versepiker, den bedeutenden Erzähler nicht vergessen. »Learsi«, »Der Hungermarsch«, die »Kosmologische Humoreske« und die wunderbare »Gutenachtgeschichte ›Mariechen‹ für Liebende Philosophen und Angehörige anderer Berufsgruppen« sind höchst lesenswerte Texte. Wenn man den Roman »Die molussische Katakombe« „naiv“ nennt, weil er vor dem Nationalsozialismus warnen wollte, dann ist eine ganze Reihe von Werken, die aus der deutschen Literaturgeschichte nicht hinwegzudenken sind, „naiv“. Zudem wird die Pointe dieses „Schreibens nach Hiroshima“ verkannt: daß es nach Anders’ eigener Einschätzung angesichts des Monströsen scheitern muß — und gerade so auf die Notwendigkeit objektiver Einholung einer tendenziell apokalyptischen Technik verweist.

Problematischer noch der Versuch, den Autor der »Antiquiertheit des Menschen« seinerseits als antiquierten Philosophen des Kalten Krieges abzuwerten. Es wäre ja ganz schön, wenn man das könnte; Anders selber hat oft genug betont, daß ihm nichts lieber wäre, als mit seinen Warnungen „historisch“ zu werden. Die Realitäten freilich sehen anders aus: Die zunehmende Pluralisierung der Atommächte garantiert Anders auch nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes fatalste Aktualität. Wie man eine „neue postatomare Epoche“ ausrufen kann, ist mir unerfindlich. Ich wüßte nicht zu sagen, daß sich zwischen Bagdad und Er Riad, New Delhi und Islamabad niemand mehr für die Bombe interessierte. Wer das nicht sieht, bestätigt unfreiwillig Anders’ These vom Nachhinken unserer Vorstellungskraft und einer — sehr wohl medienkonformen — „Apokalypseblindheit“. Überdies solle man keinesfalls vergessen, daß Anders seit Tschernobyl einer der radikalsten Kritiker auch der sogenannten „friedlichen Nutzung der Atomenergie“ geworden ist. „Die Zeitbomben mit unfestgelegtem Explosionstermin“, wie Anders mit der nötigen Prägnanz die Atomkraftwerke nennt, werden ihn nicht so schnell veralten lassen zu schweigen davon, daß seine Bombenphilosophie auf eine prinzipielle Kritik der „Technokratie“ zielt.

Schließlich: Die Bombe „küßt“ niemanden. Wenn Hiroshima zur negativen Inspirationsquelle von Anders’ Denken geworden ist, so sollte man dessen Trauer und Ernst nicht an die Sprachspiele der zynischen Vernunft verraten. Fuld zitiert es richtig: „Einen Alptraum in ein Gesellschaftsspiel übersetzen“, hat Anders das genannt.

Ludger Lütkehaus

[1L.L., Univ.-Prof. in Göttingen, war Laudator bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an Günther Anders, am 10.10.1992 in Darmstadt. Seine Laudatio erschien am 24. in der ›Süddeutschen Zeitung‹.

[2L.L. bezieht sıch auf einen Artikel über „Neuere Literatur von und über Änders“ ın: ›FAZ‹ vom 26.9.; obigen Leserbrief von L.L. hat die ›FAZ‹ nicht gedruckt. -Red.

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