Café Critique, Jahr 2005
März
2005

Die friedfertige Antisemitin?

Ein Buch von Ljiljana Radonic

In nahezu allen Bereichen des nationalsozialistischen Staates waren Frauen nicht nur als Täterinnen aktiv, sondern zählten zugleich auch zu den Profiteurinnen der Vernichtung: Frauen arbeiteten als Aufseherinnen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, sie beteiligten sich als Ärztinnen an medizinischen Menschenversuchen und Zwangssterilisationen, sie nahmen als SS-Ehefrauen an den Raubzügen durch die Ghettos in den besetzten Gebieten teil und bereicherten sich an den Häftlingen, sie trugen als Pflegerinnen in den diversen Tötungsanstalten die Verantwortung für die Vernichtung „unwerten Lebens“, sie exekutierten als Fürsorgerinnen das „Gesetz zurVerhütung erbkranken Nachwuchses“ und sie lieferten als Denunziantinnen Juden, Roma, Homosexuelle u.a. dem Zugriff der Gestapo aus.

Ljiljana Radonic berichtet in ihrem Buch Die friedfertige Antisemitin? von diesen ganz gewöhnlichen deutschen und österreichischen Frauen, welchen plötzlich, bedingt durch den „Kriegs -„ oder „Osteinsatz“, zahlreiche berufliche Karrieren in bis dahin ungekanntem Ausmaß offen standen. Dieser empirischen Darstellung aber liegt eine theoretische Frage zugrunde, die die Autorin in ihrer Studie zu beantworten versucht: Sind Frauen ebenso antisemitisch wie Männer? Oder gibt es geschlechtsspezifische Merkmale, eine Differenz zwischen dem Antisemitismus von Frauen und Männern?Ist der autoritäre Charakter ein rein männliches Phänomen? Und gelingt es Frauen ebenso wie Männern einen „psychischen Gewinn“ aus dem Antisemitismus zu ziehen?

Provoziert durch Margarete Mitscherlichs Buch Die friedfertige Frau, bildet dessen Kritik gleichsam den Dreh- und Angelpunkt von Radonic‘ Überlegungen: Die berühmte Psychoanalytikerin behauptet, daß Frauen aufgrund ihrer Über-Ich Strukturen zum Antisemitismus erst gar nicht fähig seien, ihm vielmehr nur „verfallen“ würden, gleichsam „als Folge ihrer Identifikation mit männlichen Vorurteilen“. Aus Angst vor Liebesverlust neigten sie dazu, „sich mit dem Aggressor zu identifizieren, sich seiner Meinung zu unterwerfen und sie zu teilen.“ Dermaßen entmündigt und von Männern instrumentalisiert enthebt Mitscherlich die Frauen jeder Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen. Gerade aber diese These von der Frau als Opfer stieß in der Frauenbewegung auf große Resonanz: Sofern Feministinnen sich überhaupt mit dem Thema Frauen und Nationalsozialismus beschäftigten, übernahmen sie zumeist unhinterfragt Mitscherlichs Ideologie von der Frau als dem weniger aggressiven, viel mehr friedfertigen Geschlecht.

Ljiljana Radonic ist die erste, die sich kritisch und systematisch mit den Thesen der Analytikerin auseinandersetzt und auf der Grundlage der Psychoanalyse das Verhältnis von Frauen und Antisemitismus untersucht. Nach einer kurzen Einführung in die Grundbegriffe der Lehre Freuds stellt sie die Frage, ob die Psychoanalyse heute überhaupt noch imstande ist, die Theorie des Geschlechterverhältnisses erklären zu können; eine durchaus berechtigte Frage, wird doch von vielen Feministinnen die Psychoanalyse insgesamt als biologistisch und frauenfeindlich verworfen. Auf sehr differenzierte Weise kritisiert die Autorin Freuds Theorie der Weiblichkeit, arbeitet deren Schwachpunkte heraus, insbesondere den Biologismus, verweist aber zugleich auch auf Ambivalenzen. Freud, der sich bekanntlich davor hütete, seine Erkenntnisse als endgültig und abgeschlossen zu betrachten, bewahrte sich insbesondere in der Frage des Geschlechterunterschiedes stets eine gewisse Skepsis, die ihn offen machte für jede neu gewonnene Beobachtung und Erfahrung. Radonic verweist in diesem Zusammenhang sowohl auf seine widersprüchlichen Bemerkungen über den weiblichen Masochismus, von dessen gesellschaftlicher Bedingtheit Freud überzeugt war, als auch auf seine ambivalenten Aussagen zum weiblichen Narzißmus. Und sie widerlegt vor allem die These, daß Frauen aufgrund mangelnder Kastrationsangst ein schwächeres Über-Ich haben als Männer. Unverzichtbar sei die Psychoanalyse, so die Autorin, weil sie erklären kann, „wie sich gesellschaftliche Zwänge im Allgemeinen auf die Psyche der Einzelnen — Männer wie Frauen — auswirken ... und warum nicht zugelassene und verdrängte Wünsche und Bedürfnisse auf gefährliche Art nach außen kanalisiert werden können“.

Um mögliche geschlechtsspezifische Formen des Antisemitismus begreifen zu können, stellt Radonic anschließend zunächst die ganz allgemeine Frage, welchen „psychischen Gewinn“ Antisemiten aus ihrem Haßauf Jüdinnen und Juden ziehen, bzw. nach dem Stellenwert der gesellschaftlichen Bedingtheit dieser Form der Konfliktlösung. In Anlehnung an die Kritische Theorie werden anhand der grundlegenden Studien zum autoritären Charakter von Adorno u.a. jene psychischen Mechanismen dargestellt, die diesem „Charakter“ zugrunde liegen, wie Verdrängung und Aggression, Macht und Disziplin, gestörte Objektbesetzungen, der anale Charakter, konformistische Rebellion sowie die pathische Projektion. „Das Pathische am Antisemitismus“ schreiben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung, „ist nicht das projektive Verhalten alssolches, sondern der Ausfall der Reflexion darin. Indem das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt zurückzugeben, was es von ihm empfangen hat,wird es selbst nicht reicher, sondern ärmer.“

Wesentlich auch ist Radonic’ Unterscheidung zwischen Rassismus und Antisemitismus: Ist der Antisemit immer auch rassistisch, so tritt bei ihm noch ein grundsätzliches Moment hinzu: „Zu all den Merkmalen rassistischer Projektion kommt dem Antisemiten zusätzlich noch die Möglichkeit gelegen, Hass gegen Autoritäten ohne Schaden für die Wir-Gemeinschaft auf andere als Autorität Imaginierte abwälzen zu können.“ Gezielt wird dabei auf die Juden als die vermeintlichen Repräsentanten des Geistes und des Geldes.

Was schließlich die Frage des „psychischen Nutzens“, den der Antisemit und die Antisemitin aus seiner bzw. ihrer wahnhaften Projektion bezieht, anlangt, so ist der freilich nur im Rahmen von Freuds Massenpsychologie und deren Interpretation durch die Kritische Theorie zu beantworten: Denn erst in einer ihm gleich gesinnten Gemeinschaft oder Masse kommt es, so die Autorin, zu jener kollektiv-narzistischen Aufwertung, die der Antisemit braucht, um seinen Affektenfreien Lauf zu lassen. Dazu bedarf es zugleich eines Objekts, bzw. Führers, das an die Stelle des Ich-Ideals — der verinnerlichten Autorität des Vaters — tritt. Die Ersetzung dieser internalisierten Autorität durch das Objekt, des nationalsozialistischen Staates, aber schafft durch die Identifikation des Einzelnen als auch der Individuen untereinander eine direkte Bindung an den Führer, wodurch das Gewissen außer Kraft gesetzt wird; erst jetzt kommt es zur kollektiven Entladung des antisemitischen Hasses.

Dieser antisemitische Wahn aber kennt kein Geschlecht, wie Radonic in ihrem letzten Kapitel Geschlechterverhältnis und Antisemitismus nachweist. Darin geht es, abgesehen von der bereits erwähnten Aufdeckung der Verstrickung von Frauen in die nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer damit verbundenen narzißtischen Aufwertung, die sie als Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft im Kampf gegen die Juden erfuhren, auch um die kritische Auseinandersetzung unterschiedlicher feministischer Positionen.

Nicht nur war von zahlreichen Historikerinnen bis in die späten achtziger Jahre die Beteilung von Frauen am Nationalsozialismus kaum thematisiert worden, sondern, und das war weitaus problematischer, ihre Geschichte wurde häufig in einem gleichsam identitätsstiftenden Sinne umgeschrieben; geeint in dem Versuch, Frauen als Opfer nationalsozialistischer Herrschaft darzustellen, sprechen diese Autorinnen ihreGeschlechtsgenossinnen von jeder Verantwortung und Schuld frei. KZ-Aufseherinnen, so heißt es etwa, seien bloß von Männern instrumentalisierte „Aufsichtsmaschinen“ gewesen, Denunziantinnen hätten aus „Rachegelüsten für patriarchale Verkehrsformen“ gehandelt, und überhaupt seien Frauen genau wie Juden Opfer patriarchaler Herrschaft gewesen. Bei Mitscherlichrangieren Frauen im nationalsozialistischen Staat gar nur „knapp vor den Kühen“. Feministischen Theologinnen blieb es allerdings vorbehalten, Kritik am Patriarchat mit genuinem Antisemitismus zu verbinden und mehr oder weniger indirekt zu behaupten, Judenseien an ihrer Vernichtung selber schuld, was eine besonders widerliche Form der Verkehrung von Opfern und Tätern und Verharmlosung der Shoah darstellt.

Radonic ist zuzustimmen, wenn sie schreibt, daß die Theorie des Patriarchats für die Erklärung allerFormen der Vergesellschaftung, einschließlich des Nationalsozialismus, „in höchstem Maße unzulänglich ist“. Indem sie aber auf die Entstehung des autoritären Charakters in der Familie, also unter der Autorität des Vaters, hinweist, deutet sie selbst, ohnees zu wollen, darauf hin, daß ein psychoanalytisch reflektierter Begriff von Patriarchat, der die kritische Theorie der Gesellschaft mit einschließt, notwendig wäre, um zu begreifen, in welcher Weise sich der autoritäre nationalsozialistische Staat in den Individuen etablieren kann. Ein solcher Begriff müßte im selben Sinn erklären können, worin die Differenz besteht, die im anderen Falle die Etablierung eines solchen Staates nicht erlaubt.

Wenngleich schon allein die historischen Fakten jeden Zweifel an der These von der Frau als dem „friedfertigen Geschlecht“ beseitigen sollten, so muß dennoch auch deren psychoanalytische Begründung überprüft werden. Radonic macht dies zum einen an dem Begriff der Kastrationsangst fest, den sie als weitgehend symbolisch und für beide Geschlechter gültig – als „Einschränkung sexueller Strebungen durch den/die mächtige(n) Rivalen/in“ – begreift. Das Verdrängungs- und Aggressionspotential aber wäre dann, entgegen Mitscherlichs Behauptung, bei Mädchen und Knaben das gleiche. Andrerseits aber verweist sie auf Else Frenkel-Brunswicks und Sanfords Studie „Die antisemitische Persönlichkeit“, die 1944 in den USA mit Studentinnen durchgeführt wurde. Demnach verläuft der potentielle Unterschied auf ganz bestimmte Weise entlang der Geschlechterrolle und betrifft die jeweils verdrängten Inhalte: Weil Männern gemeinhin Aggressionen eher zugestanden werden als Frauen, so Radonic, verschieben und projizieren sie „nur“ jene Aggressionen, die gegen eigene Autoritäten gerichtet sind, „während der andere Teil sowieso ungehindert an Schwächeren ausgelassen wird“.Frauen hingegen, „die sich im größeren Maße als Männer als ohnmächtig erfahren“, äußern nicht zuletzt aus Angst vor Liebesverlust, in jeder Hinsicht weit weniger Aggressionen, die sieaber gleichwohl haben. Antisemitismus und Rassismus bieten also auch hier die perfideste Möglichkeit psychischer Entlastung.

zuerst erschienen in: Zwischenwelt, Nr.1/2, 2005

Ljiljana Radonic. Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechterverhältnis und Antisemitismus, Europäische Hochschulschriften, Verlag Peter Lang, Frankfurt a. Main, Bd./Vol.508, 178 Seiten, Euro 39.—