Heft 8/2003 — 1/2004
Dezember
2003

Die Mühen der Erinnerung

Ein Gruppenexperiment

Was passiert, wenn Nachfahren von Op­fern und Tätern des Nationalsozialismus versuchen, unter psy­choanalytischer Anlei­tung ins Gespräch zu kommen?

von Hannah Fröhlich und Heribert Schiedel nebst Interviews mit Josef Shaked und Gerlinde Farkas-Zehetner

Von Jänner bis Juni 2003 trafen sich etwa 80 Men­schen einmal wöchentlich zu einer psychoanalytischen Großgruppe unter dem Leit­motiv Die Wiederkehr des Verdrängten — Nationalsozia­lismus und Antisemitismus. Die TeilnehmerInnen waren unterschiedlichen Alters und hatten unterschiedliche Hin­tergründe, mehrheitlich kamen sie aus dem links-intellektuellen Milieu. Eingeladen wurde im Standard und in der Gemeinde, dem offiziel­len Organ der Israelitischen Kultusgemeinde. Es waren wohl unterschiedlichste Mo­tivationen, welche die Nach­kommen der Opfer und die der Täter- und ZuschauerIn­nen in die zweistündigen Sit­zungen trieben: Neugier für die einen, quälende Fragen für die anderen. Initiiert wur­de die Großgruppe von der Historikerin und Therapeu­tin Gerlinde Farkas-Zehet­ner. Geleitet wurde sie von Josef Shaked, Analytiker und Spezialist für psychoanalyti­sche Groß- und Kleingruppen.

Eine Großgruppe setzt sich aus mindestens 25 Per­sonen zusammen. Die TeilnehmerInnen werden vom Gruppenleiter aufgefordert, zu sagen, was ihnen einfällt und sich dabei möglichst nicht selbst zu zensieren. Da­bei treten bestimmte Phä­nomene und Gruppenpro­zesse auf, die mit dem Setting der Großgruppe Zusammen­hängen und aus der Psycho­logie von Massen bekannt sind, wie die regressionsför­dernde Ablösung des indivi­duellen durch ein Massen-Ichideal, die Aktivierung viel­fältiger Ängste (vor Aus­schluss oder Vereinzelung) und Sehnsüchte (nach sym­biotischer Verschmelzung) sowie die Identifizierung der Gruppenmitglieder unter­einander. Deshalb eignet sich die Großgruppe besonders gut für die Auseinanderset­zung mit gesellschaftlichen und politischen Problemen, ja mit der kollektiven Ge­schichte an sich. Nationalso­zialismus und Antisemitismus etwa wurden in den bisheri­gen Großgruppen themati­siert, auch wenn dies gar nicht vorgegeben war.

Banalität der Guten

Eike Geisel thematisierte be­reits in den 80er Jahren jene Blüten, welche die manische Beschäftigung der Deutschen mit dem Jüdischen trieb und diagnostzierte eine Banalität der Guten. In der philosemitischen Begeisterung bis hin zur Identifikation mit den Opfern drückt sich der Wunsch aus, die eigene Fa­miliengeschichte durchzustreichen. In diesem Hei­lungsversuch werden Jüdin­nen und Juden in der Regel zu StatistInnen degradiert. Wie im primären Antisemi­tismus dienen sie auch im se­kundären als Projektions­fläche: „Die Überlebenden der Vernichtung (und deren Nachkommen, Anm.) wer­den zu Trägern der Affekte, die wiederum die nichtjüdischen Deutschen in ihre psy­chische Struktur nicht inte­grieren können.“ [1] Die Be­wunderung gehört wie der Vemichtungswunsch zum an­tisemitischen Syndrom. Von daher überrascht es nicht, wie schnell Philosemitismus in Antisemitismus umschla­gen kann.

Unter den Bedingungen der Großgruppe traten nun all die Verhaltensweisen von Nicht-Jüdinnen und -Juden gebündelt zu Tage, welche die Begegnungen mit Jüdin­nen und Juden provozieren. An erster Stelle wären hier unterschiedliche Formen der Abwehraggression gegenüber den Opfern zu nennen. Diese Aggressionen gelten eigent­lich dem Erinnern und dem Gewissen, richten sich aber gegen deren imaginierte Re­präsentantInnen. So konnten beispielsweise Erzählungen von Verfolgungsgeschichten kaum im Raum stehen gelas­sen werden, sondern wurden mit banalen Kommentaren sowie mit Versuchen, sich selbst auch als Opfer darzustellen, beantwortet. Zu be­obachten war eine „Affekt­verleugnung und Affektisolation, was heißt, daß die Wirklichkeit des Traumas, al­so das, was in Auschwitz ge­schah, zwar durchweg aner­kannt wird, aber im Erleben nichts bedeutet.“ [2] Dies mün­dete gar in einer Schluss­strichforderung: „Reden wir doch lieber über das, was heute wichtig ist, nicht im­mer nur über die Vergangenheit.“

Schon in den Erzählungen der unterschiedlichen Fami­lienhintergründe tat sich ein, auch als solcher benannter Graben auf. Dieser störte die Identifizierungsversuche mit den Opfern. Daher wurden allerlei Anstrengungen un­ternommen, ihn wieder zuzuschütten. So äußerte eine Teilnehmerin „wir sind doch alle Menschen“, und die nicht-jüdischen Vorfahren wurden zu Opfern des alli­ierten Bombenkrieges erklärt.
Viele nachgeborene Freund­Innen des Judentums fühlten sich von diesem ausgeschlos­sen: Eine Teilnehmerin sag­te, sie traue sich „nicht ins Café im Jüdischen Museum. Ich habe das Gefühl, da ist für mich kein Platz.“ Nach­dem alle Versuche, die Diffe­renz auszulöschen gescheitert waren, schlug der Hass auf die Nicht-Identischen un­mittelbar durch. So stieß sich ein Teilnehmer daran, dass sich die Mitgliedschaft im „Judentum“ per Geburt be­stimme und bezeichnete dies als „rassistisch“. Wer sich selbst so absondere, brauche sich dann auch nicht zu wun­dern, wenn ihm/ihr Misstrauen oder gar Hass entge­gengebracht werde. Für die Unmöglichkeit einer Versöh­nung, welche durch den Ge­genstand begründet wird, wurden die Jüdinnen und Ju­den mit ihrer Religion ver­antwortlich gemacht. Zwar war nicht offen die Rede von der „alttestamentarischen Rachsucht“, aber das Res­sentiment kleidete sich in scheinbar naive Fragen: „Ich frage mich, was im Judentum für Versöhnung getan wird. Das Christentum ist ja die Versöhnungsreligion, aber was gibt es da im Judentum.“

Ein besonders eifriger Ver­gangenheitsbewältiger woll­te gegenüber den Jüdinnen und Juden als Rächer punk­ten: „Wenn ich einen solchen Nazibonzen in meiner Fami­lie hätte, ich hätte ihn eigen­händig erwürgt.“ Die Todes­phantasie eines Nichtjuden gegenüber einem (ima­ginären) verwandten NS-Verbrecher war nicht durch des­sen Taten motiviert, sondern durch den Wunsch, sich kur­zerhand von den Ver­strickungen zu lösen.

Legion waren die vielfäl­tigen Versuche, die Schuld der Vorfahren zu minimieren: Auffällig oft war etwa von „Verführung“ die Rede. Die Nazis in der Familie wurden meist nur als passiv vorge­stellt. Diese retrospektive Flucht vor der Verantwor­tung setzte sich im Heute fort: „Was kann ich für die­se Regierung, ich hab’ sie ja nicht gewählt.“ Auch tauchte die Behauptung auf, bis zum Kriegsende nichts von den Nazi-Verbrechen gewusst zu haben. Neben den obligaten Hinweisen auf andere Massenmorde und Staatsverbre­chen — natürlich durfte auch der Verweis auf den „israeli­schen Völkermord“ an den PalästinenserInnen nicht feh­len — wurde darüber hinaus versucht, den Kreis der Schuldigen auszuweiten: „Die Gaskammern hat ein Amerikaner erfunden.“

Gerade der Antiamerika­nismus markierte den er­wähnten Graben. Während ein nichtjüdischer Teilneh­mer sich „über jeden toten amerikanischen Soldaten“ im Irak freute, erinnerten Jü­dinnen und Juden an den historischen Beitrag der USA zu ihrem Überleben. So zeig­te sich gerade in der Ausein­andersetzung mit tages- und weltpolitischen Ereignissen, dass es die unterschiedlichen Familiengeschichten sind, welche maßgeblich die Wahrnehmungen, das Den­ken und Handeln bestim­men.

Über den therapeuthischen Nutzen der Groß­gruppe — Interview mit Josef Shaked

Context XXI: Was bringen die Sitzungen in der psychoanaly­tischen Großgruppe?

Josef Shaked: In der Psy­choanalyse geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Bei der Großgruppe geht es um diese Auseinanderset­zung vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte. Es geht um den Versuch, sich durch die Auseinandersetzung von der Last der verdrängten Vergangenheit zu befreien. Und die Menschen, die in die Großgruppe kommen, bilden schon eine sehr aus­gewählte Gruppe, denn die meisten Menschen vergessen lieber. Nur eine Minderheit sucht die Auseinanderset­zung.

Die Probleme oder Fragen der jüdischen TeilnehmerInnen sind in diesem Zusammen­hang doch ganz andere als die der Nachkommen der TäterInnen. Warum sollten sich Jüdinnen und Juden für die Erinnerungsarbeit der Nach­kommen der Täter-/ZuschauerInnen zur Verfügung stellen?

Die analytische Methode ist nicht geeignet, zu leiten und zu lenken und damit die Menschen zu schützen. Die analytische Methode holt die irrationalen, die dunklen Seiten, das Chaotische, Ag­gressive in uns heraus. Wenn jemand durch eine Wortmeldung in der Grup­pe verletzt wurde, dann be­deutet das ja, dass unter der Oberfläche etwas schlum­merte, mit dem der Betrof­fene nun einen anderen Um­gang finden muss, dass er nun die Chance hat, stärker zu werden und produktiv mit der Verletzung umzuge­hen. Es gab ja auch immer eine Kontinuität: Die Sit­zung wurde meist damit be­gonnen, dass jemand sagte, er oder sie habe über das und jenes der letzten Sit­zung nachgedacht. Und es ist besser, die Menschen be­schäftigen sich damit, als sie vergessen und verdrängen.

Aber reicht das schon?

Antisemitismus ist Bestand­teil der hiesigen Kultur. Ich meine, es bleiben da immer Reste. Aber die Menschen, die an der Gruppe teilneh­men, kommen, weil sie sich auseinandersetzen wollen. Es ist wichtig, sich mit den ir­rationalen Dingen, den Ängsten, Aggressionen und Phantasien zu beschäftigen. Die Menschen, die zur Großgruppe kommen, sind alle fortschrittlich und inter­essiert, weltoffen, aufgeklärt. In der Großgruppe ent­decken sie, dass das nicht bedeutet, dass schon alles verarbeitet worden ist. Die Gruppe bildet dabei auch ei­ne Art Korrektiv, die Kommentare und Wortmeldun­gen machen dann automa­tisch selbstkritisch. Wenn die Auseinandersetzung dann für den einen oder an­deren zu bedrohlich wird, dann beobachten wir, dass er sich abkapselt oder gar nicht mehr kommt. Aber so lange er kommt, sucht er et­was.

Ziel der Gruppe ist es, ins Gespräch zu kommen. Ich bin aber eher ein konfronta­tiver Mensch, ich suche die Konfrontation, auch wenn das unangenehm ist und wenn Verletzungen dadurch entstehen. Als ich mit den Gruppen begann, ganz am Anfang, da waren unter den Teilnehmern noch Überle­bende und sozusagen „ech­te“ Nazis. Ich war vorsichti­ger, denn die Menschen wa­ren zum Teil traumatisiert. Aber bei dieser Gruppe, mit Angehörigen der dritten Ge­neration nach der Shoah kann man schon konfronta­tiv arbeiten.

In den 80er Jahren hatte ich eine Gruppe von Trotz­kisten und Maoisten, sie wollten sich vom Katholi­zismus ihrer Eltern lösen und hatten statt dessen doch eine andere „Religion“ ge­wählt. In der Gruppe ka­men sie dann darauf, dass sie eben linke Dogmatiker geworden waren statt ka­tholische Dogmatiker. Auch entdeckten sie, dass sich hinter ihrer Fixierung am Thema Israel der alte Anti­semitismus verbarg, den sie an ihren Eltern bekämpft hatten. Manche dieser Teil­nehmer zogen die Konsequenzen, für sie war die Gruppenerfahrung eine Bi­lanzziehung und sie distanzierten sich. Andere verfie­len in Depressionen, die wiederum zur Analyse führten und von da in eine Aus­bildung zum Analytiker. Wieder andere suchten sich eine neue „Religion“ und wurden zum Beispiel zu Körndlfressern. Sie suchten nach neuen Ideologien, um ihre verunsicherte Identität wieder zu stärken und Halt zu finden. Bei den jüdischen Teilnehmern gab es die, die sagten: Ich bin Internatio­nalist, ich will kein Jude sein. Und manche sind auch trotzige Juden geworden, die meinten, wenn uns hier niemand will, dann bleiben wir erst recht.

Sie sind in Israel aufgewachsen. Warum kamen Sie nach Österreich?

Ja, ich bin in Israel aufge­wachsen, dem damaligen Palästina und habe den Ho­locaust sozusagen aus der Ferne erlebt. Teile meiner Familie waren in Ungarn zu­hause, sie sind umgekom­men, andere Teile waren in den USA und wie ich in Palästina. Ich kam nach Wien aus purer Neugier. Ich traf so viele liebenswürdige Menschen und begann mich zu fragen, wie aus diesen net­ten Leuten Mörder werden konnten. Es war meine Art, mich mit dem Nationalso­zialismus zu beschäftigen. Und so kam ich auf das Thema Massenpsychologie, dann zur Psychoanalyse, zu Grup­pen und dann zu Großgrup­pen.

Das war anfangs ja ein Experiment, ich meine, es gab ja keine Erfahrungen da­mit, wir haben einfach ge­sagt, wir probieren das mal. Aber gerade weil ich in Isra­el aufgewachsen bin, habe ich viele Komplexe gar nicht, die jüdische Menschen ha­ben, die hier aufwachsen. Antisemitismus ist für mich eher ein kurioses Phänomen, ich frage mich: Was spielt sich da ab? Es ist eher wie in einem Film, ich bin außer­halb, das hat mit mir per­sönlich nichts zu tun. Meine jüdische Identität ist ein Fak­tum, nichts fragwürdiges. Aber Juden hier wachsen auf und wissen nicht, wohin sie gehören.

Jetzt leben Sie aber schon vie­le Jahre in Österreich. Würden Sie immer noch sagen, dass Sie zum Antisemitismus so ein distanziertes Verhältnis haben?

Heute bin ich nicht mehr ganz so distanziert wie am Anfang, aber durch meine Beschäftigung mit der Psy­choanalyse erwarte ich ganz einfach, dass Menschen zu allem fähig sind. Menschen sind keine Heiligen. Sie kön­nen morgen Mörder wer­den.

„... vor allem an die nicht­jüdischen Teilnehmer ge­dacht" — Interview mit Gerlinde Farkas-Zehetner

Context XXI: Was hat Sie da­zu gebracht, sich mit dem Na­tionalsozialismus und Antise­mitismus — auch oder gerade unter psychoanalytischen Ge­sichtspunkten — auseinander zu setzen?

Gerlinde Farkas-Zehetner: Ich habe an der Universität eine Entdeckung gemacht: Immer wenn die Rede auf Israel und die Juden kam, dann waren meine Mitstu­denten auf einmal alle so emotional. Das hat mir zunächst Angst gemacht. Ich habe das nicht verstanden. Auf einmal waren sie keinen rationalen Argumenten mehr zugänglich. Ich dachte mir damals, ich muss herausfin­den, womit es zu tun hat. Aber ich fand da nichts, bis ich Professor Schubert traf. Bei ihm besuchte ich die Vorlesung über Geschichte des Antisemitismus. Bis da­hin war alles, was ich über den Nationalsozialismus wusste, theoretisches Wissen gewesen, das mit mir nichts zu tun hatte. Aber das Phä­nomen Antisemitismus ist nicht zu begreifen, wenn man es nur von außen ana­lysiert und interpretiert, denn es hat immer auch mit einem selbst zu tun, mit dem eigenen „Ich“. Und ich er­schrak über mich in diesen Vorlesungen, dass ich selbst vom Anti-Judaismus infiziert war.

Ich besaß ein „inneres Bild vom Juden“, zusam­mengewürfelt aus den gän­gigsten Vorurteilen und Ste­reotypien meiner kindlichen Umwelt. Der Konsens, was die Fragen des Judentums und der Roma betraf, war bei den Menschen, die meine Eindrücke bestimmten, der­art, dass für mich kein Zwei­fel an dem stereotypen Bild von Juden und Roma auf­kam. Gefühle der Betroffen­heit, der Scham, der Trauer, der Wut, der Schuld über das mir eininjizierte verlogene und inhumane Bild über Ju­den und Roma, über meine Vorurteile und meine Bereit­schaft zur Diskriminierung, stiegen hoch.

Meine eigene Analyse, mich mit meiner eigenen Fa­miliengeschichte auseinander zu setzen und den inneren Müll zu entgiften, das war mir sehr hilfreich. Parallel zu der persönlichen Auseinan­dersetzung habe ich das Stu­dium absolviert und meine Diplomarbeit über Antisemi­tismus nach 1945 geschrie­ben. Das positive an der Analyse ist ja, dass man lernt, Ag­gression zu empfinden, ver­bal zu artikulieren und sich mit den Ursachen derselben auseinander zu setzen. Die­ser Prozess nimmt der Ag­gression ihre schädigende Wirkung.

Was war dann die unmittel­bare Motivation, die Groß­gruppe zu organisieren?

Ausschlaggebend war letzt­lich der 11. September. Es war wie damals, als ich Geschichte studierte. Auf ein­mal kamen diese Elemente wieder: kein Wort des Mitgefühls für die Opfer. Im Ge­genteil: Die Opfer wurden zu Tätern gemacht, Bush war auf einmal ein Diktator, be­einflusst von jüdischen Bera­tern, Sharon der größte Ver­brecher. Das waren keine Stammtischgespräche, son­dern Aussagen von Akademikern.

Ich war gerade dabei, meine gruppenpsychoanaly­tische Ausbildung abzu­schließen. Professor Shaked war mein Ausbildungsleiter. Da wollte ich auch anderen Menschen die Chance bie­ten, sich im Rahmen einer Großgruppe mit politischen und gesellschaftlichen Er­eignissen — insbesondere mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus — anhand der eigenen Famili­engeschichte auseinander zu setzen.

Hat die Großgruppe aus Ihrer Sicht etwas gebracht? Haben Sie das Gefühl, dass etwas er­reicht wurde?

Absolut. Besonders interes­sant in dieser Großgruppe war die Begegnung mit Vertretern der jeweils „anderen Gruppe“, also Juden bezie­hungsweise Nicht-Juden. Durch diese Begegnung er­gaben sich zahlreiche Mög­lichkeiten, eigene Handlun­gen und Positionen durch die Brille des jeweils anderen wahrzunehmen, eigene Sichtweisen um die anderer Gruppenteilnehmer zu er­gänzen, und sie schließlich einer neuerlichen — nunmehr komplexeren, bewussteren und kritischeren — Reflexion zu unterziehen. Man konnte miterleben, wie sich eine amorphe Masse zu einer Gruppe wandelt, die fähig wird, Beziehungen einzuge­hen, intim zu werden und Konflikte miteinander aus­zutragen.

Alles, was Sie erzählt haben, auch das, was Sie als positives Ergebnis der Großgruppe wer­ten, hat aber doch sehr stark mit der „Täterseite” zu tun. Ist diese Konfrontation für die jüdischen TeilnehmerInnen nicht eine Zumutung?

Was in der Gruppe passiert, was artikuliert wird, ist ge­nauso Zumutung, wie die Realität es ist. Die Gruppe spiegelt ja ein Stück Gesell­schaft wider. Aber sie bietet für alle Teilnehmer eine Chance, sich zu erleben und Wege zu entdecken, mit der Realität besser umzugehen, sodass die Großgruppe für alle Menschen ein gutes „Übungsfeld“ bietet. Aber ich gebe Ihnen recht, als ich die Großgruppe plante, ha­be ich vor allem an die nicht­jüdischen Teilnehmer ge­dacht.

[1Dirk Juelich: Erlebtes und vererbtes Trauma. Von den psy­chischen Beschädigungen bei den Urhebern der Schoah. in: Matthias Heyl (Hg.): „Daß Auschwitz nicht noch mal sei ...“ Zur Erziehung nach Auschwitz. Hamburg 1995, S. 99

[2ebd., S. 98

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