Die Mühen der Erinnerung
Was passiert, wenn Nachfahren von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus versuchen, unter psychoanalytischer Anleitung ins Gespräch zu kommen?
von Hannah Fröhlich und Heribert Schiedel nebst Interviews mit Josef Shaked und Gerlinde Farkas-Zehetner
Von Jänner bis Juni 2003 trafen sich etwa 80 Menschen einmal wöchentlich zu einer psychoanalytischen Großgruppe unter dem Leitmotiv Die Wiederkehr des Verdrängten — Nationalsozialismus und Antisemitismus. Die TeilnehmerInnen waren unterschiedlichen Alters und hatten unterschiedliche Hintergründe, mehrheitlich kamen sie aus dem links-intellektuellen Milieu. Eingeladen wurde im Standard und in der Gemeinde, dem offiziellen Organ der Israelitischen Kultusgemeinde. Es waren wohl unterschiedlichste Motivationen, welche die Nachkommen der Opfer und die der Täter- und ZuschauerInnen in die zweistündigen Sitzungen trieben: Neugier für die einen, quälende Fragen für die anderen. Initiiert wurde die Großgruppe von der Historikerin und Therapeutin Gerlinde Farkas-Zehetner. Geleitet wurde sie von Josef Shaked, Analytiker und Spezialist für psychoanalytische Groß- und Kleingruppen.
Eine Großgruppe setzt sich aus mindestens 25 Personen zusammen. Die TeilnehmerInnen werden vom Gruppenleiter aufgefordert, zu sagen, was ihnen einfällt und sich dabei möglichst nicht selbst zu zensieren. Dabei treten bestimmte Phänomene und Gruppenprozesse auf, die mit dem Setting der Großgruppe Zusammenhängen und aus der Psychologie von Massen bekannt sind, wie die regressionsfördernde Ablösung des individuellen durch ein Massen-Ichideal, die Aktivierung vielfältiger Ängste (vor Ausschluss oder Vereinzelung) und Sehnsüchte (nach symbiotischer Verschmelzung) sowie die Identifizierung der Gruppenmitglieder untereinander. Deshalb eignet sich die Großgruppe besonders gut für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Problemen, ja mit der kollektiven Geschichte an sich. Nationalsozialismus und Antisemitismus etwa wurden in den bisherigen Großgruppen thematisiert, auch wenn dies gar nicht vorgegeben war.
Banalität der Guten
Eike Geisel thematisierte bereits in den 80er Jahren jene Blüten, welche die manische Beschäftigung der Deutschen mit dem Jüdischen trieb und diagnostzierte eine Banalität der Guten. In der philosemitischen Begeisterung bis hin zur Identifikation mit den Opfern drückt sich der Wunsch aus, die eigene Familiengeschichte durchzustreichen. In diesem Heilungsversuch werden Jüdinnen und Juden in der Regel zu StatistInnen degradiert. Wie im primären Antisemitismus dienen sie auch im sekundären als Projektionsfläche: „Die Überlebenden der Vernichtung (und deren Nachkommen, Anm.) werden zu Trägern der Affekte, die wiederum die nichtjüdischen Deutschen in ihre psychische Struktur nicht integrieren können.“ [1] Die Bewunderung gehört wie der Vemichtungswunsch zum antisemitischen Syndrom. Von daher überrascht es nicht, wie schnell Philosemitismus in Antisemitismus umschlagen kann.
Unter den Bedingungen der Großgruppe traten nun all die Verhaltensweisen von Nicht-Jüdinnen und -Juden gebündelt zu Tage, welche die Begegnungen mit Jüdinnen und Juden provozieren. An erster Stelle wären hier unterschiedliche Formen der Abwehraggression gegenüber den Opfern zu nennen. Diese Aggressionen gelten eigentlich dem Erinnern und dem Gewissen, richten sich aber gegen deren imaginierte RepräsentantInnen. So konnten beispielsweise Erzählungen von Verfolgungsgeschichten kaum im Raum stehen gelassen werden, sondern wurden mit banalen Kommentaren sowie mit Versuchen, sich selbst auch als Opfer darzustellen, beantwortet. Zu beobachten war eine „Affektverleugnung und Affektisolation, was heißt, daß die Wirklichkeit des Traumas, also das, was in Auschwitz geschah, zwar durchweg anerkannt wird, aber im Erleben nichts bedeutet.“ [2] Dies mündete gar in einer Schlussstrichforderung: „Reden wir doch lieber über das, was heute wichtig ist, nicht immer nur über die Vergangenheit.“
Schon in den Erzählungen der unterschiedlichen Familienhintergründe tat sich ein, auch als solcher benannter Graben auf. Dieser störte die Identifizierungsversuche mit den Opfern. Daher wurden allerlei Anstrengungen unternommen, ihn wieder zuzuschütten. So äußerte eine Teilnehmerin „wir sind doch alle Menschen“, und die nicht-jüdischen Vorfahren wurden zu Opfern des alliierten Bombenkrieges erklärt.
Viele nachgeborene FreundInnen des Judentums fühlten sich von diesem ausgeschlossen: Eine Teilnehmerin sagte, sie traue sich „nicht ins Café im Jüdischen Museum. Ich habe das Gefühl, da ist für mich kein Platz.“ Nachdem alle Versuche, die Differenz auszulöschen gescheitert waren, schlug der Hass auf die Nicht-Identischen unmittelbar durch. So stieß sich ein Teilnehmer daran, dass sich die Mitgliedschaft im „Judentum“ per Geburt bestimme und bezeichnete dies als „rassistisch“. Wer sich selbst so absondere, brauche sich dann auch nicht zu wundern, wenn ihm/ihr Misstrauen oder gar Hass entgegengebracht werde. Für die Unmöglichkeit einer Versöhnung, welche durch den Gegenstand begründet wird, wurden die Jüdinnen und Juden mit ihrer Religion verantwortlich gemacht. Zwar war nicht offen die Rede von der „alttestamentarischen Rachsucht“, aber das Ressentiment kleidete sich in scheinbar naive Fragen: „Ich frage mich, was im Judentum für Versöhnung getan wird. Das Christentum ist ja die Versöhnungsreligion, aber was gibt es da im Judentum.“
Ein besonders eifriger Vergangenheitsbewältiger wollte gegenüber den Jüdinnen und Juden als Rächer punkten: „Wenn ich einen solchen Nazibonzen in meiner Familie hätte, ich hätte ihn eigenhändig erwürgt.“ Die Todesphantasie eines Nichtjuden gegenüber einem (imaginären) verwandten NS-Verbrecher war nicht durch dessen Taten motiviert, sondern durch den Wunsch, sich kurzerhand von den Verstrickungen zu lösen.
Legion waren die vielfältigen Versuche, die Schuld der Vorfahren zu minimieren: Auffällig oft war etwa von „Verführung“ die Rede. Die Nazis in der Familie wurden meist nur als passiv vorgestellt. Diese retrospektive Flucht vor der Verantwortung setzte sich im Heute fort: „Was kann ich für diese Regierung, ich hab’ sie ja nicht gewählt.“ Auch tauchte die Behauptung auf, bis zum Kriegsende nichts von den Nazi-Verbrechen gewusst zu haben. Neben den obligaten Hinweisen auf andere Massenmorde und Staatsverbrechen — natürlich durfte auch der Verweis auf den „israelischen Völkermord“ an den PalästinenserInnen nicht fehlen — wurde darüber hinaus versucht, den Kreis der Schuldigen auszuweiten: „Die Gaskammern hat ein Amerikaner erfunden.“
Gerade der Antiamerikanismus markierte den erwähnten Graben. Während ein nichtjüdischer Teilnehmer sich „über jeden toten amerikanischen Soldaten“ im Irak freute, erinnerten Jüdinnen und Juden an den historischen Beitrag der USA zu ihrem Überleben. So zeigte sich gerade in der Auseinandersetzung mit tages- und weltpolitischen Ereignissen, dass es die unterschiedlichen Familiengeschichten sind, welche maßgeblich die Wahrnehmungen, das Denken und Handeln bestimmen.
Über den therapeuthischen Nutzen der Großgruppe — Interview mit Josef Shaked
Josef Shaked: In der Psychoanalyse geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Bei der Großgruppe geht es um diese Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte. Es geht um den Versuch, sich durch die Auseinandersetzung von der Last der verdrängten Vergangenheit zu befreien. Und die Menschen, die in die Großgruppe kommen, bilden schon eine sehr ausgewählte Gruppe, denn die meisten Menschen vergessen lieber. Nur eine Minderheit sucht die Auseinandersetzung.
Die analytische Methode ist nicht geeignet, zu leiten und zu lenken und damit die Menschen zu schützen. Die analytische Methode holt die irrationalen, die dunklen Seiten, das Chaotische, Aggressive in uns heraus. Wenn jemand durch eine Wortmeldung in der Gruppe verletzt wurde, dann bedeutet das ja, dass unter der Oberfläche etwas schlummerte, mit dem der Betroffene nun einen anderen Umgang finden muss, dass er nun die Chance hat, stärker zu werden und produktiv mit der Verletzung umzugehen. Es gab ja auch immer eine Kontinuität: Die Sitzung wurde meist damit begonnen, dass jemand sagte, er oder sie habe über das und jenes der letzten Sitzung nachgedacht. Und es ist besser, die Menschen beschäftigen sich damit, als sie vergessen und verdrängen.
Antisemitismus ist Bestandteil der hiesigen Kultur. Ich meine, es bleiben da immer Reste. Aber die Menschen, die an der Gruppe teilnehmen, kommen, weil sie sich auseinandersetzen wollen. Es ist wichtig, sich mit den irrationalen Dingen, den Ängsten, Aggressionen und Phantasien zu beschäftigen. Die Menschen, die zur Großgruppe kommen, sind alle fortschrittlich und interessiert, weltoffen, aufgeklärt. In der Großgruppe entdecken sie, dass das nicht bedeutet, dass schon alles verarbeitet worden ist. Die Gruppe bildet dabei auch eine Art Korrektiv, die Kommentare und Wortmeldungen machen dann automatisch selbstkritisch. Wenn die Auseinandersetzung dann für den einen oder anderen zu bedrohlich wird, dann beobachten wir, dass er sich abkapselt oder gar nicht mehr kommt. Aber so lange er kommt, sucht er etwas.
Ziel der Gruppe ist es, ins Gespräch zu kommen. Ich bin aber eher ein konfrontativer Mensch, ich suche die Konfrontation, auch wenn das unangenehm ist und wenn Verletzungen dadurch entstehen. Als ich mit den Gruppen begann, ganz am Anfang, da waren unter den Teilnehmern noch Überlebende und sozusagen „echte“ Nazis. Ich war vorsichtiger, denn die Menschen waren zum Teil traumatisiert. Aber bei dieser Gruppe, mit Angehörigen der dritten Generation nach der Shoah kann man schon konfrontativ arbeiten.
In den 80er Jahren hatte ich eine Gruppe von Trotzkisten und Maoisten, sie wollten sich vom Katholizismus ihrer Eltern lösen und hatten statt dessen doch eine andere „Religion“ gewählt. In der Gruppe kamen sie dann darauf, dass sie eben linke Dogmatiker geworden waren statt katholische Dogmatiker. Auch entdeckten sie, dass sich hinter ihrer Fixierung am Thema Israel der alte Antisemitismus verbarg, den sie an ihren Eltern bekämpft hatten. Manche dieser Teilnehmer zogen die Konsequenzen, für sie war die Gruppenerfahrung eine Bilanzziehung und sie distanzierten sich. Andere verfielen in Depressionen, die wiederum zur Analyse führten und von da in eine Ausbildung zum Analytiker. Wieder andere suchten sich eine neue „Religion“ und wurden zum Beispiel zu Körndlfressern. Sie suchten nach neuen Ideologien, um ihre verunsicherte Identität wieder zu stärken und Halt zu finden. Bei den jüdischen Teilnehmern gab es die, die sagten: Ich bin Internationalist, ich will kein Jude sein. Und manche sind auch trotzige Juden geworden, die meinten, wenn uns hier niemand will, dann bleiben wir erst recht.
Ja, ich bin in Israel aufgewachsen, dem damaligen Palästina und habe den Holocaust sozusagen aus der Ferne erlebt. Teile meiner Familie waren in Ungarn zuhause, sie sind umgekommen, andere Teile waren in den USA und wie ich in Palästina. Ich kam nach Wien aus purer Neugier. Ich traf so viele liebenswürdige Menschen und begann mich zu fragen, wie aus diesen netten Leuten Mörder werden konnten. Es war meine Art, mich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Und so kam ich auf das Thema Massenpsychologie, dann zur Psychoanalyse, zu Gruppen und dann zu Großgruppen.
Das war anfangs ja ein Experiment, ich meine, es gab ja keine Erfahrungen damit, wir haben einfach gesagt, wir probieren das mal. Aber gerade weil ich in Israel aufgewachsen bin, habe ich viele Komplexe gar nicht, die jüdische Menschen haben, die hier aufwachsen. Antisemitismus ist für mich eher ein kurioses Phänomen, ich frage mich: Was spielt sich da ab? Es ist eher wie in einem Film, ich bin außerhalb, das hat mit mir persönlich nichts zu tun. Meine jüdische Identität ist ein Faktum, nichts fragwürdiges. Aber Juden hier wachsen auf und wissen nicht, wohin sie gehören.
Heute bin ich nicht mehr ganz so distanziert wie am Anfang, aber durch meine Beschäftigung mit der Psychoanalyse erwarte ich ganz einfach, dass Menschen zu allem fähig sind. Menschen sind keine Heiligen. Sie können morgen Mörder werden.
„... vor allem an die nichtjüdischen Teilnehmer gedacht" — Interview mit Gerlinde Farkas-Zehetner
Gerlinde Farkas-Zehetner: Ich habe an der Universität eine Entdeckung gemacht: Immer wenn die Rede auf Israel und die Juden kam, dann waren meine Mitstudenten auf einmal alle so emotional. Das hat mir zunächst Angst gemacht. Ich habe das nicht verstanden. Auf einmal waren sie keinen rationalen Argumenten mehr zugänglich. Ich dachte mir damals, ich muss herausfinden, womit es zu tun hat. Aber ich fand da nichts, bis ich Professor Schubert traf. Bei ihm besuchte ich die Vorlesung über Geschichte des Antisemitismus. Bis dahin war alles, was ich über den Nationalsozialismus wusste, theoretisches Wissen gewesen, das mit mir nichts zu tun hatte. Aber das Phänomen Antisemitismus ist nicht zu begreifen, wenn man es nur von außen analysiert und interpretiert, denn es hat immer auch mit einem selbst zu tun, mit dem eigenen „Ich“. Und ich erschrak über mich in diesen Vorlesungen, dass ich selbst vom Anti-Judaismus infiziert war.
Ich besaß ein „inneres Bild vom Juden“, zusammengewürfelt aus den gängigsten Vorurteilen und Stereotypien meiner kindlichen Umwelt. Der Konsens, was die Fragen des Judentums und der Roma betraf, war bei den Menschen, die meine Eindrücke bestimmten, derart, dass für mich kein Zweifel an dem stereotypen Bild von Juden und Roma aufkam. Gefühle der Betroffenheit, der Scham, der Trauer, der Wut, der Schuld über das mir eininjizierte verlogene und inhumane Bild über Juden und Roma, über meine Vorurteile und meine Bereitschaft zur Diskriminierung, stiegen hoch.
Meine eigene Analyse, mich mit meiner eigenen Familiengeschichte auseinander zu setzen und den inneren Müll zu entgiften, das war mir sehr hilfreich. Parallel zu der persönlichen Auseinandersetzung habe ich das Studium absolviert und meine Diplomarbeit über Antisemitismus nach 1945 geschrieben. Das positive an der Analyse ist ja, dass man lernt, Aggression zu empfinden, verbal zu artikulieren und sich mit den Ursachen derselben auseinander zu setzen. Dieser Prozess nimmt der Aggression ihre schädigende Wirkung.
Ausschlaggebend war letztlich der 11. September. Es war wie damals, als ich Geschichte studierte. Auf einmal kamen diese Elemente wieder: kein Wort des Mitgefühls für die Opfer. Im Gegenteil: Die Opfer wurden zu Tätern gemacht, Bush war auf einmal ein Diktator, beeinflusst von jüdischen Beratern, Sharon der größte Verbrecher. Das waren keine Stammtischgespräche, sondern Aussagen von Akademikern.
Ich war gerade dabei, meine gruppenpsychoanalytische Ausbildung abzuschließen. Professor Shaked war mein Ausbildungsleiter. Da wollte ich auch anderen Menschen die Chance bieten, sich im Rahmen einer Großgruppe mit politischen und gesellschaftlichen Ereignissen — insbesondere mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus — anhand der eigenen Familiengeschichte auseinander zu setzen.
Absolut. Besonders interessant in dieser Großgruppe war die Begegnung mit Vertretern der jeweils „anderen Gruppe“, also Juden beziehungsweise Nicht-Juden. Durch diese Begegnung ergaben sich zahlreiche Möglichkeiten, eigene Handlungen und Positionen durch die Brille des jeweils anderen wahrzunehmen, eigene Sichtweisen um die anderer Gruppenteilnehmer zu ergänzen, und sie schließlich einer neuerlichen — nunmehr komplexeren, bewussteren und kritischeren — Reflexion zu unterziehen. Man konnte miterleben, wie sich eine amorphe Masse zu einer Gruppe wandelt, die fähig wird, Beziehungen einzugehen, intim zu werden und Konflikte miteinander auszutragen.
Was in der Gruppe passiert, was artikuliert wird, ist genauso Zumutung, wie die Realität es ist. Die Gruppe spiegelt ja ein Stück Gesellschaft wider. Aber sie bietet für alle Teilnehmer eine Chance, sich zu erleben und Wege zu entdecken, mit der Realität besser umzugehen, sodass die Großgruppe für alle Menschen ein gutes „Übungsfeld“ bietet. Aber ich gebe Ihnen recht, als ich die Großgruppe plante, habe ich vor allem an die nichtjüdischen Teilnehmer gedacht.
