MOZ, Nummer 56
Oktober
1990
Reichtum und Armut in Deutschland:

Die Tugend des Teilens bleibt allein den Armen

Seid umschlungen, Millionen — die Kapitalkonzentration im vereinigten Deutschland nimmt immer größere Dimensionen an. Dem Großteil der Bevölkerung hingegen soll das Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ die zunehmende Verarmung schmackhaft machen.

Zuerst glaubte ich an ein Mißverständnis: Nein, ich kannte ihn nicht, diesen vierschrötigen Bierbauch neben mir in einer Schlange am Supermarkt, der mir unvermutet seine Pranke auf die Schulter legte und ohne Anrede oder Einleitung losplatzte: „Was für ein Glück, daß der Mensch nur einmal lebt!“ Und ehe ich Abwehr, Mißtrauen, Neugier oder Betroffenheit richtig sortieren konnte, schob er seinen Einkaufswagen mit Bierdosen und Erbsensuppen an mir vorbei und setzte eine Frage nach: „Was meinst Du, wie lange muß ein Siebenundvierzigjähriger noch durchhalten?“ Am Ausgang trafen wir uns wieder.

„Haste mal ’ne Mark!“ schrie er zu mir rüber. „Haste keine Arbeit?!“ tönte vorwurfsvoll eine Stimme hinter mir zurück. Er arbeitet. Am Dammtor-Bahnhof in Hamburgs Innenstadt. Zwölf Stunden täglich bettelt er dort. Von den 408 Mark Sozialhilfe kann er gerade sein Essen bezahlen, nicht aber den Alkohol. „Weißt Du, was das heißt, betteln?“ Die Verachtung der Leute runterzuschlucken Tag für Tag? Man kann nur überleben im Suff. Die Leute denken: jeder ist selbst schuld an seiner Misere. Aber warum habe ich keine Chance?“

Sie liegen auf Parkbänken, auf Belüftungsschächten der Kaufhäuser oder schlafen im Zelt. Etwa 600.000 Menschen, so hat das Diakonische Werk Mitte dieses Jahres festgestellt, haben in der Bundesrepublik keine Bleibe. In Folge der immer größer werdenden Wohnungsnot steigt die Zahl der Obdachlosen in den großen Ballungszentren sprunghaft an. Die „Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhafte“ ermittelte, daß die Zahl der Obdachlosen in der Bundesrepublik in den vergangenen drei Jahren um mindestens 25 Prozent gestiegen ist. In Hamburg spricht die Sozialbehörde von einem „massiven Obdachlosenproblem“. 26.000 Menschen sind ohne Wohnung, unter ihnen etwa viertausend junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Auch in NordrheinWestfalen registrierten die großen und kleineren Städte stark ansteigende Obdachlosenzahlen. Zu den ‚Berbern‘, wie sich die ‚alten‘ Obdachlosen nennen, stoßen Sinti und Roma aus Rumänien, Aussiedler, Asylanten, kinderreiche Familien, ja sogar Studenten. Die lassen neuerdings ihren Wunsch nach einem Zimmer in Uni-Nähe auf T-Shirts drucken. In Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf ist ein Tausender Kaltmiete für eine 70-Quadratmeterwohnung keine Seltenheit. Wenn eine freiwerdende Wohnung neu vermietet wird, langen die Vermieter kräftig zu. Die Explosion der Mieten in Kombination mit der anhaltenden Knappheit auf dem Wohnungsmarkt auch bei Sozialwohnungen — hat dazu geführt, daß immer mehr Haushalte mehr als die Hälfte des Monatseinkommens für die Finanzierung ihrer Wohnung aufwenden müssen und daß der Wohnungswechsel zum existenziellen Problem wird. Auf den Wohnungsämtern stapeln sich die Anträge auf Vergabe von Sozialwohnungen.

So suchen zum Beispiel in der kleinen Gemeinde Bischofsheim in der Nähe von Frankfurt 400 Familien eine Sozialwohnung, frei werden monatlich etwa drei bis vier Wohnungen. In München sollen drei Zeltstädte in den Sommermonaten der Obdachlosigkeit vorbeugen.

Armut hat viele Dimensionen

Sozialer Zündstoff baut sich auf. Jedoch: Nur relativ wenige leben ganz unten. Die Mehrzahl der Armen in der reichen Bundesrepublik muß nicht betteln, hat ein Obdach. Armut ist ja kein statischer Begriff, er ist noch nicht einmal genau definiert. „Wir reden von Armut, fragen nach ihrer Existenz, streiten über die Höhe der Armutsquoten und tun damit so, als wäre klar und eindeutig festgelegt, worüber wir uns auseinandersetzen“, heißt es im ersten Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom Dezember 1989. Schon dieser Bericht ist ein Armutszeugnis für die Regierung, die sich seit Jahren beharrlich weigert, Armut überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt immer noch keine Armutsberichterstattung. Es gibt einzelne Statistiken, aber nichts über die verschiedenen Aspekte und Verläufe von Verarmungsprozessen im reichen Land Bundesrepublik. Hier ist Armut eine relative Größe, die natürlich ein anderes Gesicht hat als die Armut in den Ländern der „Dritten Welt“. Denn sieht man einmal von den Obdachlosen ab, die auch hier in jedem Winter in den Städten erfrieren, weil sie kein Dach überm Kopf haben, so existiert hier die Armut in diesem absoluten Sinne nicht. Die Armutskatastrophe in der „Dritten Welt“ darf jedoch nicht zu einem Ausspielen der Armut in der Bundesrepublik genutzt werden. Auch hier gibt es die lebenslange Armut, die schon in der Kindheit beginnen kann, durch eine schlechte Ausbildung sich fortsetzt, über wenig Lohn bis hin zur krankmachenden Wohnung, zerrütteten Gesundheit als Folgen dieser Armutskarriere. Manche bleiben in diesem Teufelskreis ein Leben lang, andere geraten durch Arbeitslosigkeit und in der Folge von Überschuldung, vielleicht durch Krankheit oder weil sie sich einfach nicht durchsetzen können in dieser EIlbogengesellschaft in die soziale Randständigkeit. Die Armut hat viele Dimensionen und steht immer auch in Beziehung zum Reichtum des Landes.

Die Bundesrepublik ist eines der reichsten Länder der Erde. Noch nie konnten hier so viele Menschen über solch beachtliche Einkommen und Vermögen verfügen wie in der Gegenwart. Allerdings ist der Reichtum höchst ungleich verteilt. Nach einer Studie der Arbeitsgruppe „Armut und Unterversorgung“ der Fachhochschule Niederrhein in Bochum, die von 30 Wissenschaftlern getragen wird, sind die Unternehmensgewinne seit Anfang der 80iger Jahre explosionsartig gestiegen. Die Gewinne der Aktiengesellschaften und GmbHs stiegen von 1980 bis 1988 um netto 133 Prozent. Trotzdem erreicht die Investitionsentwicklung erst 1989 wieder das Niveau von 1980. „Statt die Gewinne einer produktiven Verwendung zuzuführen, wurden die Mittel zu Aufkäufen (sprich: Konzentration) und zur Anlage am Kapitalmarkt oder zum Kapitalexport eingesetzt. Aber auch die produktiven Investitionen führten bislang nur zu geringen Beschäftigungszuwächsen, da zugleich der Rationalisierungsprozeß forciert wurde“, heißt es in der Studie, die weiter darlegt, daß sich die Nettoeinkommen der abhängig Beschäftigten im gleichen Zeitraum (1980 bis 1988) nur um 24,1 Prozent erhöhten.

Das letzte Netz — die Sozialhilfe

Dabei können all jene noch froh sein, die überhaupt zur Lohnstatistik beitragen. Heißt das doch, daß ihre Arbeitskraft auf dem Markt noch verlangt wird. Wer arbeitslos ist, wird ausgegrenzt.

Wie Heinz zum Beispiel, der sich seit fast zwei Jahren kaum noch auf die Straße (in einem schleswig-holsteinischen Dorf) traut, weil er das Schicksal „Arbeitslosigkeit“ als sein persönliches Versagen erlebt. Seine Frau klagt, daß er die Kinder prügelt, apathisch rumhängt, säuft und nur noch in die Glotze guckt. Sie denkt an Scheidung. Heinz, ihr Mann, ist seit Anfang des Jahres 1989 arbeitslos, davor hat er zwanzig Jahre als Gabelstaplerfahrer gearbeitet, Überstunden gekloppt und immerhin 3.000 Mark monatlich netto für sich und die Familie erschuftet. Das reichte auch für einen Kredit von 45.000 Mark, der sich im Laufe der Zeit für ein Auto, eine bessere Wohnung und eine neue Einrichtung angesammelt hatte. Jetzt wurde das Auto verkauft, die Kreditraten konnten nicht mehr bezahlt werden. Seine Frau geht putzen. „Aber wir haben noch nicht mal das Geld, um mit den Kindern etwas zu unternehmen“, sagt sie.

In einer Gesellschaft, die zunehmend alle Beziehungen über den Markt regelt, also gegen Bezahlung, steht der/die Arbeitslose am Rand. Seit Anfang der 80er Jahre ist das eine Massenerfahrung. Die Arbeitslosenzahlen bewegen sich (ohne die „stille Reserve“) und trotz mehrfacher Manipulationen an der Statistik immer noch um die zwei Millionen. Gut ein Drittel der Arbeitslosen ist mehr als ein Jahr ohne Arbeit. Diese sogenannten „Langzeitarbeitslosen“ fallen, wenn ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld aufgebraucht wird, in die Arbeitslosenhilfe und dann in die Sozialhilfe, die so gerne als „das letzte Netz“ des Sozialstaates Bundesrepublik gepriesen wird. Die Maschen sind groß. SozialhilfeempfängerInnen müssen ihre totale Mittellosigkeit offenbaren, sie müssen sich damit einverstanden erklären, daß Angehörige überprüft und zur Unterstützung herangezogen werden, sie müssen sich der allumfassenden Kontrolle der Bürokratie unterwerfen. Sie müssen z.B. Kontrollbesuche der Behörden jederzeit zulassen. Wenn SozialhilfeempfängerInnen eine neue Beziehung eingehen (ohne verheiratet zu sein), so wird diese Person von Amts wegen gezwungen, für die Unterstützung des bisher Sozialhilfeberechtigten aufzukommen. 1988 erreichte der Anteil der SozialhilfeempfängerInnen an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik bereits 5,5 Prozent. Das entspricht einer Verfünffachung seit Beginn der 80er Jahre. Dabei ist die Dunkelziffer der Armut fast ebenso hoch wie die Zahl der registrierten Armen. Die „Regelsätze“, also das Geld, das den Armen im Monat für den Lebensunterhalt zugestanden wird, liegen bei Alleinstehenden und Haushaltsvorständen — je nach Bundesland etwas differenziert — bei 420 DM (= knapp öS 3.000) im Monat. Kinder und Jugendliche erhalten weniger. Jede grössere Ausgabe muß extra beantragt werden. Und während der Staat so tut, als sei die Sozialhilfe ein großzügiges, fürsorgendes Geschenk und unterstellt, viele würden es sich in der ‚sozialen Hängematte‘ bequem machen, werden die Kosten der Hilfe für die SozialhilfeempfängerInnen einfach unterschlagen. Dabei kommt gerade diese Hilfe die Menschen, die darauf angewiesen sind, teuer zu stehen, denn sie kostet:

  • Zeit. In der Regel stundenlanges Warten bei der Bürokratie in den Städten. Alles muß persönlich beantragt werden, nichts kann telefonisch erledigt werden. Die Bürokratie geht davon aus, daß der Hilfesuchende eines im Überfluß hat: Zeit. Und das Warten und das Wartenlassen hat ja auch symbolische Bedeutung: Wer oft warten muß, wird kleingemacht.
  • Geld. Es entstehen Kosten für Porti, Telefonate, Kopien, Fahrtkosten. Hinzu kommt, daß die Hilfeempfänger mehr Geld ausgeben müssen für ihre Bedarfsdeckung als der Normalbürger. Sie können zum Beispiel keine Rücklagen bilden und so im Großen billiger einkaufen; oft sind sie mangels Transportmöglichkeit auf die teureren Geschäfte in der unmittelbaren Nähe ihrer Wohnung angewiesen.
  • Laufereien. Bevor überhaupt gezahlt wird und später für jeden Antrag, bei dem es um eine „einmalige Beihilfe“ geht, gibt es Lauferein, z.B. beim Wohngeldamt, der Kindergeldkasse, dem Arbeitsamt. Ist dort alles genehmigt, wird den Betroffenen das Geld wieder von der Sozialhilfe abgezogen. Gerade die Menschen, die sich am schlechtesten wehren können, werden am längsten durch die Mühlen der Bürokratie gedreht. Dies erzeugt Angst, Verunsicherung und wird zur Demütigung.
  • Konfliktfähigkeit. Die Hilfeempfänger kämpfen immer um Details. Vielleicht um die Kleidung für die Kinder, um die Stromrechnung oder die Klassenfahrt, um einen Kühlschrank — und es liegt häufig im Ermessen des Sachbearbeiters, ob er die beantragte Hilfe gewährt.

Insgesamt gilt: Es gibt keine Sozialleistung, die den Hilfeempfänger mehr kostet als die Sozialhilfe, denn sie kostet die persönliche Würde.

Die Armut ist noch immer weiblich

Diese Kosten bezahlen vorwiegend die Frauen. Einmal, weil die Mehrzahl der SozialhilfeempfängerInnen weiblich ist (57 Prozent), zum anderen aber auch, weil nachgewiesen wurde, daß Männer sich in der Regel nur bei der Antragsstellung auf der Behörde zeigen, den täglichen Kleinkrieg mit der Bürokratie dann den Frauen überlassen.

Zehn Millionen (von insgesamt 25 Millionen) Frauen über 15 Jahre in der Bundesrepublik sind erwerbstätig. Über die Hälfte dieser Frauen bezieht ein Nettoeinkommen um 1.500 Mark (68 10.140). Entsprechend niedrig sind im Alter ihre Renten. Bei gleichen Versicherungsjahren (35 bis 40 Jahre) erhielten 1988 die Arbeiter durchschnittlich 1.330 DM (öS 9.500) Rente, die Arbeiterinnen nur 918 DM (öS 6.730).

Durch die Jahre der Kindererziehung verkürzen sich bei vielen Frauen die Versicherungszeiten. Die Renten sind entsprechend: Die durchschnittliche Rente der Arbeiter betrug 1.150 DM (öS 8.050) (die der Angstellten 1.692 DM, öS 11.844) und die der Arbeiterinnen nur 392 DM (öS 2744) (Angestellte Frauen DM 648, öS 4.536) (Zahlen aus dem Armutsbericht des deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbandes 1989).

Die Armut ist weiblich, reklamiert die Frauenbewegung und verweist auf Fakten:

  • 50 Prozent der Arbeitslosen in der Bundesrepublik sind Frauen (obwohl sie nur ein Drittel der Erwerbstätigen stellen);
  • 66 Prozent aller Jugendlichen ohne Ausbildungsvertrag sind Mädchen;
  • 80 Prozent aller über 65jährigen SozialhilfeempfängerInnen sind Frauen;
  • 87 Prozent aller Rentnerinnen haben weniger als 1.200 Mark (öS 8.400) Rente (bei den Männern 30 Prozent).

Die Armsten der Armen: die Flüchtlinge

Wenn es schon schlimm ist, arm und eine Frau zu sein, so erfährt diese Lebenslage bei den Ausländerinnen und besonders bei den Flüchtlingsfrauen ihre Steigerung. Ihr Aufenthaltsrecht bleibt in den weitaus meisten Fällen abhängig vom Aufenthaltsrecht des Mannes. Viele leben in Sammelunterkünften auf engstem Raum mit Menschen (vor allem mit Männern) aus verschiedenen Herkunftsländern und sind sexuellen Übergriffen oft schutzlos ausgesetzt. „Das eigentliche Leben im Lager beginnt erst nachts, wenn viele betrunken sind. In der Toilette, die ja von Frauen und Männern gemeinsam benutzt werden muß ... gibt es immer wieder Gefahren ... vor allem auch, weil die Lagerbewohner nichts zu verlieren haben. Die Polizei kümmert sich nicht darum, was in den Lagern vor sich geht. Man kann jemanden schlagen, eine Frau vergewaltigen, sie kümmern sich nicht darum“, so schildert eine Iranerin die Erfahrungen, die sie seit 1989 in einem Tübinger Sammellager machen mußte. Zudem trifft die Frauen besonders stark der Verlust des sozialen Netzes, wie es sich in ihren Heimatländern oft in den Familien und der Nachbarschaft findet.

Es ist das Zusammentreffen vieler einschränkender Maßnahmen und der restriktiven Anerkennungspraxis der Behörden, was das Leben aller Flüchtlinge, Männer und Frauen, unerträglich macht. Armut für Flüchtlinge, das bedeutet neben der materiellen Not vor allem auch ein Leben in Unsicherheit bezüglich der eigenen Zukunft, also die Unmöglichkeit der Lebensplanung. Vor allem aber bedeutet es die ständige Konfrontation mit den vielen Formen der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus. Alltägliche Schikanen oder Demütigungen gibt es aber nicht nur von seiten der Bevölkerung, sie werden auch von den Behörden eingesetzt, denn gegenüber den Flüchtlingen beruht ihr Tun auf dem Gedanken der Abschreckung. Die Lebensbedingungen der in der Bundesrepublik lebenden Asylbewerber sollen mögliche weitere Flüchtlinge davon abhalten, hierher zu kommen. Armut zählt nicht als Grund für die Aufnahme. Arme sind Wirtschaftsflüchtlinge und werden abgeschoben. Und wenn sie gar so unangepaßt auftreten wie derzeit die Sinti und Roma aus Rumänien, dann wird gegen sie mobil gemacht. In Essen haben Anwohner einer Flüchtlingsunterkunft rechtsradikalen Skins 5.000 Mark gezahlt, damit sie die Roma, die dort leben, terrorisieren. Die Kommunen schreien nach dem starken Arm der Landesregierungen, und die Politiker — allen voran der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Lafontaine — machen sich daran, Arm in Arm mit der Reaktion das Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen.

In der DDR: Ausländer und Frauen zuerst

Auch in der DDR haben AusländerInnen derzeit keine Rechte. AusländerInnen und Frauen sind die ersten Opfer der deutsch-deutschen Sturzgeburt mit Namen Wiedervereinigung. Mit den AusländerInnen aus Vietnam, Kuba oder Mogambique wurde bereits kurzer Prozeß gemacht. Sie wurden einfach nach Hause verfrachtet. Ein großer Teil der Frauen in der DDR soll zurück an den Herd. „Frauen und Kinder zuerst“, heißt das Motto. Rechtswidrige Entlassungen von Frauen gehören zum Alltag. Die Schließung der Betriebskindergärten ist in vollem Gange. Nicht selten geschieht sie auf ‚kaltem Wege‘: Man entläßt zuerst das technische Personal. Und wenn nicht mehr geputzt, geheizt oder gekocht werden kann, ist auch das Problem Betriebskindergarten gelöst. Großstädte (wie z.B. Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern) beschließen per Erlaß, daß Eltern ihren Anspruch auf einen Kindergartenplatz verlieren, wenn ein Elternteil länger als sechs Wochen arbeitslos wird.

DDR-weit wird so dafür gesorgt, daß die Probleme der Kinderbetreuung Ost mit denen in West vereinigt werden. Denn dies schränkt die Wettbewerbsfähigkeit der Frauen massiv ein. Und wenn das bundesdeutsche Niveau erreicht werden soll, dann muß gut die Hälfte der jetzt noch weit über 80 Prozent berufstätigen Frauen zurück an den Herd. Gesamtdeutsche weibliche Armut ist so vorprogrammiert. Das gesamte Ausmaß dieses Prozesses ist jedoch jetzt noch nicht auszumachen. Erst zum Jahresende fallen die letzten sozialen Schutzvorschriften für Frauen.

„DDR-Wirtschaft im Chaos“ — das ist der Tenor im bundesdeutschen Blätterwald Mitte August 1990. Der Patient DDR liegt in Agonie, noch bevor die Operation zu Ende ist. Die Arbeitslosenzahlen der DDR (im Juli 1990 273.000 oder 3,1 Prozent) ergeben noch kein realistisches Bild. Mindestens 700.000 Kurzarbeiter müssen jetzt schon dazugezählt werden. Auch in der Bundesrepublik hat sich im Juli die offizielle Zahl der Arbeitslosen wieder erhöht. Im 8. Jahr des Wirtschaftsaufschwunges sind es 1,863 Millionen.

Die „marktwirtschaftlichen Überzeugungstäter“ („Frankfurter Rundschau“) aus Bonn setzen für Gesamtdeutschland auf die „Pferdeäpfeltheorie“, die in der Studie der Wissenschaftler aus der Arbeitsgruppe „Armut und Unterversorgung“ der Fachhochschule Niederrhein so beschrieben wird: „Man muß die Pferde (Unternehmen) kräftig füttern, um zu erreichen, daß in ihren Pferdeäpfeln ausreichend Körner übrig bleiben, damit auch die Spatzen (Arbeitnehmer) satt werden.“ Und wenn — wie zu befürchten ist — für die gesamtdeutschen ‚Spatzen‘ zu wenig übrig ist, dann überlebt eben nur der Stärkere.

Die Tugend des Teilens bleibt allein bei den Armen. Ein „heißer Herbst“ wird prognostiziert. Allerdings ist bis jetzt nicht zu erkennen, daß aus der immer stärker aufbrechenden sozialen Frage in Gesamtdeutschland auch eine soziale Bewegung wird.

Für Peter jedenfalls, den Bettler vom Dammtor-Bahnhof in Hamburg, hat der Kampf um soziale Gerechtigkeit keine Perspektive. „Ich kämpf’ schon auf der Straße“, sagt er. „Ich will nicht mehr. Totsaufen, das ist mein Leben.“

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