Streifzüge, Heft 62
Oktober
2014

Die wahre Demokratie

Demokratie als Rechtsstruktur

Das Volk war seit jeher ein Sorgenkind der bürgerlichen Gesellschaft. Wo es politisch aktiv wurde und in jener Massenhaftigkeit auftrat, die ihm die Macht zum Umsturz der jeweiligen Verhältnisse verlieh, erfüllte es eigentlich nie die Erwartungen, die seine Freunde, die Ideologen der Demokratie, in es gesetzt hatten. Die großen Volksbewegungen führten, selbst wenn sie kurzfristig erfolgreich waren, keineswegs zu freien, friedlichen oder glückverheißenden Lebensumständen. Vielmehr waren chaotische Zustände mit grausam geführten Bürgerkriegen die Regel, in deren Gefolge dann irgendein Cromwell oder Napoleon oder Stalin die Macht an sich riss, um die erschöpften Menschen mit einer Diktatur zu beglücken, die es ihnen im Namen der Volkseinheit untersagte, gewisse Thesen, urn die sie zuvor verbissen und mit dem Anspruch letztgültiger Wahrheit gestritten hatten, überhaupt noch öffentlich zu erwähnen. Soweit aber Aggressionen abzuleiten waren, fand sich immer ein „Volksfeind“, der alle Übel verursacht hatte.

Auctoritas non veritas facit legem, heißt es bei Thomas Hobbes, der solcherart die Konsequenz aus der Epoche der religiösen Bürgerkriege zog. Für die entstehende bürgerliche Gesellschaft, der es wesentlich urn die Sicherheit und den regelmäßigen Gang der Geschäfte zu tun war, war dies gewiss eine vernünftige Maxime. Und vollends vernünftig wäre es, meinte Kant ca, 120 Jahre später, wenn wir im allgemeinen Gesetz schon als solchem, ohne dass es auf einen bestimmten Inhalt festgelegt wäre, die maßgebende Autorität in den öffentlichen Angelegenheiten anerkennen würden. Die „letztgültige Wahrheit“, mit der der einzelne Bürger, sei es im Diesseits, sei es im Jenseits, glücklich zu werden hoffe, sollte ihm selbst überlassen sein. Jedes vernünftige Wesen, das sich eines eigenen Willens bewusst sei, müsste an einem solchen von allgemeinen Gesetzen regierten Zustand interessiert sein. Denn er gebe ihm die Freiheit, seinen Willen auf jeden beliebigen Zweck zu richten, sofern dadurch der Wille keines der anderen vernünftigen Wesen, dem das Gesetz die gleiche Freiheit sichere, verletzt werde. Niemand dürfe zu seinem Glück gezwungen werden, alle Beziehungen, auch die in der Arbeit, sollten auf der Übereinkunft freier Rechtspersonen beruhen.

Die Herstellung einer solchen Gesellschaftsstruktur, die an der Idee der freien, für sich selbst verantwortlichen Rechtsperson ausgerichtet war, traf natürlich auf den Widerstand der ständischen Einrichtungen, Sitten und Gewohnheiten, Freiheit und Gleichheit waren harte metaphysische Brocken für eine Zeit, in der es selbstverständlich war, bei hochwohlgeborenen Herrschaften bzw. gnädigen Herren oder Frauen im Dienst zu stehen. Dass auch die Angehörigen der „unselbständigen Klassen“ mit allen Bürgerrechten ausgestattet sein sollten, ging der „guten Gesellschaft“ des 19. Jahrhunderts nicht in den Kopf. Insbesondere das allgemeine Wahlrecht, wie es die demokratischen „Radikalinskis“ jener Zeit forderten, galt als die Vorhölle des Kommunismus, in dem dann nicht nur das Eigentum, sondern jede Art von Anstand, Sitte und Kultur vernichtet sein würden.

Gleichwohl entsprach die von Kant skizzierte Struktur in hohem Maße der gesellschaftlichen Entwicklung zum Kapitalismus, dessen Verwertungslogik immer mehr Produktionszweige erfasste und die Zahl jener freien Warenbesitzer, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen waren, laufend vermehrte. Freiheit und Gleichheit wurden zur Überschrift über einer Epoche, die in allen Lebensbereichen zum „gleichen Recht“ hindrängte. „Das Recht wie Glut irn Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch drängt“, heißt es in der „Internationale“, deren Text aus dem Jahre 1871 stammt. Und das gleiche Recht bedeutete für die Unterschichten auch mehr Freiheit und Unabhängigkeit von ihren „Dienstherren“ und „Brotgebern“, nach deren Auffassung sie ja — ebenfalls laut „Internationale“ — „Unmündige“ und „Knechte“ waren, Freiheit und Gleichheit samt den daran geknüpften Vorstellungen und Hoffnungen waren gleichsam das ideologische Manna, mit dem es gelang, das „Volk“, das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein reichlich distanziertes Verhältnis zu den in der Fabrik angebotenen Arbeitsplätzen hatte, einzufangen und in die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, die darüber zur demokratischen Staatsbürgergesellschaft wurde, einzubauen.

Gut 150 Jahre nach Kant und im Anschluss an zwei mörderische Weltkriege, in denen das „Volk“, diesmal qua ideologischer Gleichschaltung bereits staatlich organisiert, noch einmal Gelegenheit hatte, massenhaft in Aktion zu treten (und alle Befürchtungen des 19. Jahrhunderts zu bestätigen), war das Modell der „westlichen Demokratie“ im Wesentlichen fertiggestellt, Ein Staatswesen hatte sich entwickelt, das sich nicht nur in den Fragen der Religion, sondern auch in denen der Geburt, der Hautfarbe, des Besitzes, des Geschlechts und überhaupt in jeder Frage, deren allgemeinverbindliche Entscheidung irgendjemanden privilegieren oder diskriminieren könnte, für politisch neutral erklärte.

Die Struktur dieses Staatswesens entspricht in etwa dem, was Kant (und vor ihm Rousseau) im Sinne gehabt hat: Eine Masse von vereinzelten Individuen fristet ihr Leben unter allgemeinen Gesetzen. Mit dem Inhalt dieser Gesetze wird dagegen pragmatisch verfahren — je nachdem, welche Phänomene im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung auftauchen, die allgemein als problematisch und regelungsbedürftig angesehen werden. Dort, auf der Ebene der Struktur, wirkt die von den Menschen weitgehend verinnerlichte und darum stumm gewordene auctoritas; hier dagegen, bei der immer noch weiteren Ausgestaltung und Neuformulierung von Gesetzen, genießen wir, nach Herzenslust über alle Arten von veritas debattierend und streitend, den demokratischen Meinungspluralismus.

Meinungsmäßig befinden wir uns also in einer überaus komfortablen Situation. Weder müssen wir die jungfräuliche Geburt Jesu für wahr halten, noch sind wir dazu verpflichtet, im Kommunismus eine Machenschaft der jüdischen Rasse zu sehen — aber wir dürfen es, sofern dadurch die öffentliche Ordnung nicht gestört wird. An die Stelle des „Wahrheitsministeriums“, das George Orwell 1948 auf den modernen Menschen zukommen sah, ist das Amt für öffentliche Ordnung getreten. Es schreibt uns nicht vor, was wir zu glauben, zu bekennen oder für wahr zu halten haben, sondern nur, dass wir bei all unserem Glauben und Bekennen doch bitte sehr den Rahmen der allgemein geltenden Gesetze beachten mögen, auf dass niemand in seiner abweichenden Meinung verletzt oder gekränkt werde. Dem Geld als dem gar nicht so heimlichen spiritus rector dieser Gesellschaft kommt es nämlich nicht auf unsere Gesinnung an: „Das Strafrecht bestraft Taten, nicht Gesinnungen. Es greift auf Täter zu, nicht auf Typen“, stellte Heribert Prantl, der Rechtsstaatsbeauftragte der Süddeutschen Zeitung, erst kürzlich wieder einmal klar (SZ vom 27.9.2014).

Solange wir nur praktisch mittun beim gesellschaftlichen Prozess der Geldanhäufung und uns bemühen, an irgendeiner der vom System angebotenen Stellen Geld zu verdienen, können wir Meinungen äußern, soviel wir wollen. Am Prinzip des kapitalistischen Wertverwertungszwanges und an der längst sinnlos gewordenen Produktionsorgie, in die er die Menschheit noch täglich hetzt (ohne seinen Zweck, das Mehrwerden des Werts, überhaupt noch erreichen zu können), ändert sich dadurch nichts. Es liegt im Gegenteil klar auf der Hand, dass das kapitalistische Zerstörungswerk, das auf dem besten Weg ist, die Erde unbewohnbar zu machen, mit den demokratischen Freiheiten besser funktioniert als ohne sie. Und so mancher Diagnostiker unserer Zeit hat bereits den Verdacht geäußert, dass das vielstimmige Meinungszwitschern im Internet nichts anderes ist als eine Art des resignierten Verstummens, die postmoderne Variante der Friedhofsruhe sozusagen.

Der Verwirklichungsglaube

Der wahre Gläubige lässt sich von den mit der realen Demokratie gemachten Erfahrungen freilich nicht erschüttern. Nach 200 Jahren Demokratisierung, die nichts anderes waren als die Durchsetzung, Entwicklung und Modernisierung des Kapitalismus, gibt es immer noch Idealisten, die die Demokratie für ein antikapitalistisches Projekt halten Pamphlete, denen zur Occupy-Bewegung oder zum Arabischen Frühling von 2011 nichts anderes eingefallen ist, als zum hundertsten Male die „Demokratie!“ auf die Tagesordnung zu setzen, sprechen eine klare Sprache, ebenso Michael Hardt/Antonio Negri: „Demokratie! — Was wir wollen“ (Frankfurt/New York 2012), In früheren Zeiten hatte das „Volk“ entweder nicht die richtige soziale Zusammensetzung, oder es war politisch unreif, oder die Führer haben moralisch versagt — am Ideal der Demokratie kann es jedenfalls nicht gelegen haben, wenn irgendetwas schiefgelaufen ist mit den diversen Volksbewegungen. Die wahre, eigentliche und echte Demokratie steht wie eh und je zur „Verwirklichung“ an.

Dieser Verwirklichungsimpuls funktioniert bei linken Demokraten geradezu reflexhaft, weshalb er sehr gut zu der hektischen Geschäftigkeit passt, die den modernen Alltagsmenschen auch sonst auszeichnet. Genauso kopflos wie dieser den Lebensgenuss für Erfolg und Karriere opfert, Wie das Mainstream-Denken in Politik und Ökonomie die immergleiche Litanei von den „Arbeitsplätzen“ und dem „Wachstum“ herunterleiert, genauso kopflos befindet sich der Demokrat immer schon im Einsatz für die „Verwirklichung“ seiner Ideale. Anstatt zu fragen, welchen Wirklichkeitsgehalt diese Ideale schon als solche besitzen, welches gesellschaftliche Verhältnis sich darin spiegelt, nämlich das von gleichberechtigten Marktteilnehmern bzw. Warenbesitzern, die es als flächendeckende Erscheinung nur im Kapitalismus geben kann, wird blindlings drauflos „verwirklicht“.
Und eben in diesem blinden Verwirklichungsdrang sind die Demokraten typische Repräsentanten (heute wohl besser: Restbestände) der bürgerlichen Epoche, deren Metaphysik seit den Zeiten der Reformation eine Aufforderung zum Handeln darstellt.

Während der vormoderne Gott einer weitgehend statischen Lebensordnung mit gering entwickelten Produktivkräften angehört und deshalb von den Gläubigen verlangt, dass sie sich in die Welt, wie er sie nun einmal geschaffen hat, hineinfinden und mit Geduld und Demut alles ertragen, was er ihnen an Prüfung und Fügung zumutet, auf dass sie ihren gerechten Lohn im Jenseits empfangen, wirkt die bürgerliche Religion aktivierend und anspornend. Die bürgerlichen Tugenden des Arbeitsfleißes und des Immer-strebend-sich-Bemühens sind zwar ebenfalls gottgefällig, sollen aber bereits im Diesseits Früchte tragen.

Das Heute ist verbesserungsbedürftig, und der Bürger stößt sich von ihm ab im Namen einer Zukunft, die mit dem Bild vom besonnten Alter durchaus noch in die eigene Lebenszeit fällt. Spätestens die Kinder und Enkel „sollen es einmal besser haben“. Diese zukunftsorientierte Haltung, die sich seit dem 18. Jahrhundert zu einem die ganze Weltgeschichte umfassenden Fortschrittsglauben verfestigte, wurde durch die demokratische Ideologie in einer Weise ergänzt, die auch den Unterschichten das perspektivische Denken nahebrachte und auch bei ihnen den Boden bereitete für jene Mentalität des Machens und Schaffens und Ärmelhochkrempelns, das zu einer Gesellschaft gehört, die sich nach dem bekannten Marx-Wort in „ewiger Unsicherheit und Bewegung“ befindet, in einem Prozess der „fortwährenden Uinwälzung der Produktion“.

Zunächst, solange das „Kapital“ als eine eigene, sozial klar abgegrenzte Klasse von Fabrikanten und Unternehmern in Erscheinung trat, mochte es so aussehen, als sei das Verlangen nach Demokratie, weil es sich gegen die rechtliche und politische Privilegierung der „besitzenden Klassen“ richtete, die man alsbald zu „enteignen“ hoffte, gegen den Kapitalismus überhaupt gerichtet, Dem 19. Jahrhundert kann man die Illusionen, die es in das sozialistisch verwaltete „Staatseigentum“ setzte, noch nachsehen; sie hatten ihre Entsprechung in den Befürchtungen und Ängsten auf Seiten der „Bourgeoisie“. Und das „Vorwärts!“ und das „Avanti popolo!“ der alten Arbeiterbewegung zielte ja tatsächlich auf eine „andere Gesellschaft“: auf eine, in der auch der Arbeiter sich werde Bücher leisten können oder Klavierstunden für seine Tochter, so Martin Andersen Nexö in seinem Roman „Pelle der Eroberer“ (1910), in der es nach Hans-Magnus Enzensberger über einen Anarchistenkongress in Spanien 1898 „strahlende Hochhäuser“ geben werde mit „Fahrstühlen, die einem das Treppensteigen ersparen würden, Müllschlucker und wunderbare Haushaltsmaschinen ...“. Recht bald aber zeigte sich, dass der Kapitalismus, rein auf der selbstgenügsamen Abstraktion „Wert“ (bzw. Geld) basierend, zwar die vereinzelte Rechtsperson samt Staat, nicht aber den vereinzelten Besitzer von Produktionsmitteln nötig hat. Für ein Anderswerden nach der Vorstellung der sozialistischen Demokraten (oder demokratischen Sozialisten) hatte dieses System in seiner weiteren Entwicklung durchaus noch Platz.

Die ständig sich steigernde Produktivität führte zu einer Situation, in der die Massen nicht nur als Produzenten, sondern auch als Konsumenten benötigt wurden, An die Stelle der Bilder, die man ins „Morgenrot einer neuen Zeit“ projiziert hatte, traten die handgreiflichen Konsumgegenstände selbst, auf die sich die Menschen, indem sie auf das neue Auto, die Waschmaschine oder den nächsten Urlaub sparten, genauso perspektivisch beziehen konnten wie zuvor auf die „andere Gesellschaft“, jetzt aber zunehmend als „Individualisten“‚ Bei der Vielzahl der angebotenen Markenartikel hatte der freie Wille, jene Fetischkategorie der Demokraten, endlich das ihm gemäße Betätigungsfeld erreicht,

Gleichzeitig kam es zur Versachlichung der Produktionsverhältnisse. Die Entwicklung von Technik und Wissenschaft verlangte nach sachkundigen Arbeitern. Man konnte die teuren und technisch anspruchsvollen Produktionsmittel nicht in die Hände von Analphabeten geben — und die besser ausgebildeten Arbeiter nicht wie „unmündige Knechte“ behandeln. Auch die Betriebsführung versachlichte sich in den weltweit operierenden Unternehmen mit Tausenden von Arbeitern, und sie wuchs mit der Staatsbürokratie, die für die Infrastruktur zu sorgen hatte, zusammen. Forschung, Produktion, Rechnungsführung, Personalwesen, Marketing: das alles muss zweckrational organisiert und verwaltet werden.

Die Figur des individuellen Kapitalisten, der den Charakterschauspieler des Patriarchen und Betriebsfürsten gegeben hatte, wurde zunehmend ersetzt durch anonyme Organisationen wie die Aktiengesellschaft, die GmbH oder die Staatsholding, die von eigens dafür ausgebildeten Angestellten und Funktionären geführt werden. Die Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaften sind aber kein Standesprivileg. Die sozialen Schranken fielen, und im expandierenden Kapitalismus gab es in erheblichem Umfang die Möglichkeit — Stichworte: freie Bahn dern Tüchtigen, vorn Tellerwäscher zum Millionär — zum sozialen Aufstieg, die dem freien Willen ein weiteres Betätigungsfeld eröffnete. Mit Talent, Fleiß und Ehrgeiz können wir an jede Stelle gelangen, die der demokratische Kapitalismus im Angebot hat. Frauen befinden sich inzwischen an der Spitze von Konzernen und Regierungen, ein Schwarzer konnte Präsident der USA werden. Emanzipation, wohin man blickt. Ein schöner Erfolg der Demokratisierung, der die Konkurrenz um die guten Posten und die Angst, keinen abzubekommen, bekanntlich verallgemeinert und in den Kindergarten vorverlegt hat.

Die bittere Wahrheit von Freiheit und Gleichheit

Freiheit und Gleichheit sind also keineswegs ein „Betrug“. Wie man es von den demokratischen Prinzipienverwirklichern immer wieder zu hören bekommt. Sie sind bittere Wahrheit in einer Epoche, in der die Menschen von einer Metaphysik gleichgeschaltet wurden, die ihnen den bornierten Standpunkt des vereinzelten Warenbesitzers aufzwingt. Wie weit dieser Gleichschaltungsprozess gehen würde, konnte Marx zu seiner Zeit natürlich nicht voraussehen. Damals waren die schier unüberwindlichen Standesschranken das Hauptproblem, und die elenden Lebensumstände der Arbeiter, die das System inzwischen samt der Kindersklaverei an seine Peripherie verfrachtet hat. Aber eines war für ihn sonnenklar: dass Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Epoche angehören und einem Verhalten entspringen, das die Menschen auf dem Markt entwickelt haben, wo sie die Produkte ihrer Arbeit, die dadurch zu Waren werden, gegeneinander tauschen. Der Warentausch aber ist ein friedlicher Vorgang; im praktischen Vollzug des Tausches erkennen sich die beiden Partner wechselseitig als frei voneinander und als gleichrangig an, es mag ihnen bewusst sein oder nicht. Als „Warenhüter“, schreibt Marx im „Kapital“, müssen sich die Menschen „zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so dass der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen.“ (Das Kapital, Band I, S. 99)

Was die Demokraten also unter den Parolen von Freiheit und Gleichheit seit den Zeiten der Französischen Revolution „verwirklichen“ wollten, ist eine Gesellschaft, in der sich die Menschen zueinander als Privateigentümer verhalten, ein Projekt, das der Entwicklung zum modernen demokratischen Kapitalismus nur förderlich sein konnte. Denn die symmetrische Figur des Warentausches, die konstitutiv ist für den Standpunkt des gleichberechtigten Individuums, kann nur im Kapitalismus zum Bestandteil des alltäglichen Lebens werden. Die Figur W-G-W — ich verkaufe die in meinem Besitz befindliche Ware (W), um mit dern eingetauschten Geld (G) dann meinerseits als Käufer der Waren (W) auf den Markt zu gehen — wird für die Masse der Bevölkerung erst dann zur alltäglichen Realität, wenn sie eingebettet ist in die übergeordnete Bewegung G-W-G’ des Kapitals, wenn es sich bei der eingangs verkauften Ware also um die eigene Arbeitskraft handelt. Als das die gesamte Gesellschaft beherrschende System, das der Kapitalismus im Verlaufe des 20. Jahrhunderts geworden ist, kann er nur funktionieren, wenn das Geld, um dessen „immerwährende“ Vermehrung es geht, auf allen Stationen des gesellschaftlichen Funktionszusammenhanges — sei es als Mittel, sei es als Zweck — zur ausschlaggebenden Instanz geworden ist, an der sich die Entscheidungen der Menschen orientieren.

Der in der modernen Demokratie allgemein verbreitete Standpunkt des privaten Warenverkäufers, der uns selbst mit unseren harmlosesten Bedürfnissen zunächst an das Geld verweist, das wir verdienen müssen, ist das Hauptproblem. Denn vermittelt durch das Geld sind wir der Bestandteil eines weltweit dimensionierten Produktionsapparats, der, vom kapitalistischen Zweck der Geldvermehrung angetrieben, längst schon zu einer Maschine der Zerstörung geworden ist, die sich gerade gegen die elementarsten Dinge, die wir zum Leben brauchen: atembare Luft, fruchtbaren Boden, sauberes Wasser, nicht zu vergessen die Lebensfreude, rücksichtslos verhält. Der Widerspruch zwischen dem privaten Standpunkt des freien Individuums und dem gesellschaftlichen Produktionszusammenhang, in den es eingespannt ist, hat sich zugespitzt bis zur offenen Schizophrenie, er ist dabei zu eklatieren, die Maschine ist bereits ins Stottern geraten, und das könnte für die stoffliche Welt, in der wir leben, durchaus ein Glück sein. Aber die Mehrheit der Menschen, beschränkt auf den Horizont des vereinzelten Warenverkäufers, weiß dieses Glück, weil es die diversen Gelderwerbsquellen bedroht, nicht zu fassen. In dieser Situation die alte Leier von der „Demokratie“ anzustimmen, heißt nun wirklich, den Abwasserkanal zuzuschütten, durch den die trüb gewordene ideologische Brühe vergangener Zeiten abzufließen hätte. Denn die Demokratie ist es ja gerade, die die Menschen gelehrt hat, das Leben nach Kategorien der Quantität, statt nach solchen der Qualität zu beurteilen.

Was wir heute brauchen, um die private Form abstreifen und uns im Namen physisch-realer Bedürfnisse vereinigen zu können, sind gerade keine allgemeinen Gesetze, sondern konkrete Kenntnisse und Fertigkeiten im Umgang mit denje konkreten Situationen und Fragestellungen, die anstehen (So ist etwa die Frage der Energieversorgung per se allgemein, weil sie viele Menschen gleichzeitig betrifft. Aber zum Abschalten der vorhandenen AKWs benötigt man kein allgemeines Gesetz, sondern die Frage muss konkret als solche entschieden werden — und nach Maßgabe nicht von Meinungen, sondern des vorhandenen Wissensstandes.) Der reale produktive Zusammenhang, in dem wir inzwischen leben, macht die Struktur, in der zwischen dem privaten Interesse der Einzelperson und dem vom Staat verwalteten Allgemeininteresse unterschieden wird, hinfällig. Solange die Demokratie als a priori fertiges Konzept daherkommt, als eine Art Patentlösung für alle Probleme, die darin besteht, dass Alle für Alles zuständig sind, ist sie aber nichts anderes als die Fortsetzung jener von Kant propagierten philosophischen „Allgemeinheit“: eben das Monstrum einer metaphysischen Kategorie (der Allgemeinheit), die „unverfälscht“ ins Empirische übertragen werden soll. Da diese Übertragung nicht funktionieren kann, erhebt sich sofort wieder die Frage der Repräsentation, und der alte Streit, wer berechtigt ist, im Namen der „Allgemeinheit“ zu sprechen und zu entscheiden, beginnt von Neuem,

Die Wissenschaftler und Publizisten, die uns — ohne demokratisches Mandat — über die Folgen aufklären, die der kapitalistische Wachstumswahn in den verschiedenen Lebensbereichen nach sich zieht, haben sicher mehr kritisches Potential als eine ideologische Phrase wie die „Demokratie“, die uns mit der unappetitlichen Gebärde angepriesen wird, als sei sie der Schlüssel, der uns „von allen Übeln erlöst“. Überhaupt sollte ein konkret lebendes Individuum mit diesem Allgemeinheits- oder Menschheits- oder Volkszirkus, der immer schon seinen logischen Gegenpart, den „privaten Egoisten“ stillschweigend mit sich führt (und moralisch verurteilt), nichts anfangen können. Natürlich muss es sich für Fragen von gesellschaftlichem Rang interessieren. Aber dieses Muss kommt längst nicht mehr von dem moralischen Imperativ Kants, sondern es ergibt sich schlicht aus den Bedürfnissen und Problemen — man denke an Katastrophen wie die von Fukushima oder Deepwater Horizon —, die das im heutigen Ausmaß vergesellschaftete Dasein mit sich bringt.

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