Streifzüge, Jahrgang 2016
September
2016

Die Wanderratten

Ein Gedicht für gestern und heute

Heinrich Heine, Die Wanderratten

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.
Sie wandern viel tausend Meilen,
Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.
Sie klimmen wohl über die Höhen,
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die Lebenden lassen die Toten zurück.
Es haben diese Käuze
Gar fürchterliche Schnäuze;
Sie tragen die Köpfe geschoren egal,
Ganz radikal, ganz rattenkahl.
Die radikale Rotte
Weiß nichts von einem Gotte.
Sie lassen nicht taufen ihre Brut,
Die Weiber sind Gemeindegut.
Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frisst,
Dass unsre Seele unsterblich ist.
So eine wilde Ratze,
Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.
Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe.
Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen – die Zahl ist Legion.
O wehe! wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren!
Der Bürgermeister und Senat,
Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.
Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
Die Glocken läuten die Pfaffen.
Gefährdet ist das Palladium
Des sittlichen Staats, das Eigentum.
Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
Nicht hohlwohlweise Senatsdekrete,
Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,
Sie helfen Euch heute, Ihr lieben Kinder!
Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste
Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.
Im hungrigen Magen Eingang finden
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten.
Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
Behaget den radikalen Rotten
Viel besser als ein Mirabeau
Und alle Redner seit Cicero.

Ratten haben ein schlechtes Image. Das war nicht immer so. Im Mittelalter war es besser, da galten sie als intelligent, geschickt und sozial hochorganisiert. In fernöstlichen Kulturkreisen ist ihr Ansehen bis heute unverändert gut. In Europa erlitt es einen Niedergang, als Ratten als Überträger der Pest erkannt wurden. Doch ist im kollektiven Unbewussten die alte positive Bewertung nie ganz geschwunden, wie z.B. unlängst der französische Film Ratatouille zeigte, in dem eine kulinarisch hochtalentierte Ratte einem jungen Mann zu einer Karriere als Spitzenkoch verhilft. Das Image der Ratte ist also durchaus ambivalent, und das spiegelt sich auch in Heines Gedicht.

Die Ratten sind eine Nagetiergattung, von denen die Zoologie 65 Arten kennt. Heine konzentriert sich auf zwei von ihnen (und kennt wohl auch nicht mehr), die er nicht nach zoologischen Kriterien, sondern nach dem Grad bestimmter elementarer körperlicher Empfindungen klassifiziert: Die hungrigen und die satten. Letztere sind offenbar die Hausratten (Rattus rattus): diese, so Heine, bleiben vergnügt zu Haus; jene, die hungrigen, sind die Wanderratten (Rattus norvegicus): Die aber wandern aus.

Sie werden detailliert und plastisch beschrieben: in ihrem Aussehen, Charakter und Handeln. Sie sind wahrlich keine Schönheiten, denn harte Entbehrungen haben sie gezeichnet, und sie sind zudem von äußerst fragwürdiger Wesensart und Gesinnung: Sie sind sinnlich und verfressen, disziplinlos, sexuell promisk, radikal, gottlos, lassen ihre Nachkommen nicht taufen, pfeifen auf die Unsterblichkeit ihrer Seele, Geld und Gut haben sie sowieso nicht, wünschen aber trotzdem – und vielleicht auch gerade deswegen – aufs neue zu teilen die Welt. Und womöglich nicht einmal teilen, denn so wie sie drauf sind, wollen sie nicht nur ihr Stück am Kuchen oder besser: Käse, sondern die ganze Bäckerei resp. Molkerei. Und das ist nicht nur Maulheldentum, sondern wirklich gefährlich. Denn der Hunger hat sie aggressiv gemacht, sie wandern viele tausend Meilen / ganz ohne Rasten und Weilen, sie fürchten nicht Hölle, nicht Katze, in ihrem grimmigen Lauf hält sie nichts auf, weder Gebirge noch Seen, mögen manche dabei sich das Genick brechen oder ersaufen – egal, die Lebenden lassen die Toten zurück. Verluste spielen keine Rolle, denn ihre Zahl ist Legion, und hier bemüht Heine, um die schreckenerregende Dämonie zu veranschaulichen, eine Geschichte aus der Bibel, in der Jesus aus einem Besessenen einen bösen Geist austreibt, diesen nach dem Namen fragt, und der zur Antwort gibt: Legion heiße ich, denn wir sind unser viele. (Markus, 5,9; „Legion“ bezieht sich dabei auf die römische Heereseinheit, die 3000 bis 6000 Soldaten umfasste.)

Die Hausratten sind ob der Gefahr ratlos, Panik greift um sich, man greift zu den Waffen, / die Glocken läuten die Pfaffen. Die Gefahr ist immens, denn gefährdet ist das Palladium. Das Palladium, griech. Palladion, war im antiken Troja das Bildnis der Pallas Athene, der Schutzherrin der Stadt; hier ist es das Allerheiligste des sittlichen Staats, also – und da ist eine Anspielung auf Hegel versteckt – des nach ethischen Prinzipien eingerichteten bürgerlichen Staats, und dieses Heiligtum ist keine Göttin wie weiland in Troja, sondern ein wichtiges Gut. Dieses ist nicht Leben oder Freiheit oder was sonst die Menschenwürde ausmacht, sondern es ist das für den Staat der Hausratten oberste aller Güter: das Eigentum. Und es ist sinnreich, dass beide Begriffe, Palladium und Eigentum, ein Reimpaar bilden, ebenso wie die Waffen sich auf Pfaffen reimen, die jene nach gutem Brauch zuvor gesegnet haben. Denn eine Hand wäscht die andere, und wenn dies mit Weihwasser geschieht, dann kann Gottes Segen nicht ausbleiben.

Doch nichts mehr hilft. Da hat sich die Hausrattengesellschaft ein Strafgesetzbuch geschaffen, das mit vier Fünfteln seiner Paragraphen dem Schutz ihres Eigentums dient, doch schert das die Wanderratten nicht im Geringsten. Für die abgedroschenen Appelle an Wohlverhalten, gesellschaftlichen Konsens, Sozialpartnerschaft zeigen sie nur Verachtung. Nicht einmal Militär mit schwerer Artillerie imponiert ihnen. Die Werte, die ihnen die Hausrattengesellschaft zu bieten hat, verschmähen sie, es interessieren sie nur solche, welche die Gestalt von Suppen, Braten, Würsten, Knödeln und in Butter gesottenen Fischen annehmen, so, als kämen sie in einer Art Zeitsprung just aus Brechts Dreigroschenoper: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Who is who?

Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ist natürlich aufgegangen, dass es sich um eine Fabel handelt, also um eine Erzählung, in der zwar Tiere auftreten, die aber von Menschen handelt. Und die unterhaltsam über etwas belehren will: Fabula docet et delectat. Klar ist, dass es sich bei den Hausratten um die braven Bürger handelt, die es zu Wohlstand und vielleicht auch mehr gebracht haben, die sich zu dessen Sicherung (und gegen die Verlierer in ihrer Gesellschaft) einen administrativen, repressiven und ideologischen Apparat geschaffen haben und nun das mehr oder minder schwer (eher letzteres) Erworbene gefährdet sehen.

Heine starb 1857 im Pariser Exil. Die Wanderratten sind eins seiner letzten Gedichte; wie der offene Schluss nahelegt, ist es wohl unvollendet geblieben. Wen die furchteinflößende Metapher von den Wanderratten meint, darauf haben einige Jahre zuvor zwei Autoren mit einer ähnlichen Schreckensmetapher einen Hinweis gegeben: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet. Es ist der Beginn des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und Engels aus dem Jahr 1848.

Wie steht Heine zum Kommunismus? Heine beginnt seine literarische Karriere als Romantiker, er verkehrt in Berlin in den intellektuellen Salons der Rahel Varnhagen und anderer emanzipierter Frauen. Bald aber erkennt er, wie fragwürdig die Romantik mit ihrer Fixierung auf das Innerseelische ist, und dass sie die Augen vor der Realität verschließt. Als Jude selbst früh von Diskriminierungen gedemütigt und mit scharfem Blick für alles Unrecht ausgestattet, erkennt er die Realität der politischen Unterdrückung der bleiernen Zeit der Metternich’schen Ära und des zum Himmel schreienden sozialen Elends der Arbeiterschaft. Er wendet sich von der Romantik ab, bezeichnet sich spöttisch einmal selbst als „entlaufenen Romantiker“ und sucht den Kontakt zu kritischen Intellektuellen, lernt Marx, Engels, Lassalle, den Kreis der Frühsozialisten um Saint-Simon kennen, arbeitet an Marx’ Zeitschriften Vorwärts! und den Deutsch-Französischen Jahrbüchern mit. Aus Anlass des Aufstands der schlesischen Weber dichtet er sein zornentbranntes Weberlied, das Marx in 50.000 Exemplaren in den Aufstandsgebieten verteilen lässt und das unverzüglich von der preußischen Regierung verboten wird. (Sieh dazu meinen Aufsatz Heine und die Menschenware in Streifzüge 66.)

Um der Verfolgung zu entgehen, begibt er sich nach Paris ins Exil. Als er nach zwölf Jahren 1844 nach Deutschland zurückkehrt, hat er, als er die Grenze überquert, ein Erlebnis, das er in seinem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen beschreibt: Ein Mädchen singt mit wahrem Gefühle und falscher Stimme eine fromme Weise, und er stellt fest: Sie sang das alte Entsagungslied, / Das Eiapopeia vom Himmel, / Womit man einlullt, wenn es greint, / Das Volk, den großen Lümmel. Die Weise, stellt er sarkastisch fest, sei ihm allzu bekannt, und hält dagegen: Ein besseres Lied / O Freunde, will ich euch dichten, / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. Denn der Reichtum der Erde ist ungerecht verteilt, weil eine herrschende Klasse ihn auf Kosten der unteren Klassen sich aneignet: Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, / Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder. / Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen.

Man mag seine Vision naiv nennen, weil sie unpolitisch ist. Aber am Beginn jeder Revolution steht eine Utopie, und poetischer kann man die kommunistische Idee einer von Not und Unterdrückung befreiten Gesellschaft einander gleicher Menschen nicht ausmalen.

Doch vor der befreiten Gesellschaft steht die Revolution. Als Heine bei einem Aufenthalt auf Helgoland im Sommer 1830, da war er 33 Jahre alt, vom Beginn der Juli-Revolution in Paris erfährt, begrüßt er sie enthusiastisch. In seinen Briefen aus Helgoland, die er zehn Jahre später als zweites Buch seiner Denkschrift für Ludwig Börne veröffentlicht, schreibt er unter dem Datum vom 10.8.1830:

Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen … Blumen! Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Und auch die Leier, reicht mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied singe … Worte gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten … (DHA, Bd. 11, S. 50)

(Ein vordergründig zufälliges, historisch aber symbolisches Zusammentreffen ist zu konstatieren: Friede den Hütten, Krieg den Palästen – mit diesem Fanal beschließt Georg Büchner 1834 die Vorrede zu seiner aufrührerischen Denkschrift Der Hessische Landbote, unabhängig von Heine, dessen Brief Büchner noch nicht hat kennen können.)

Heines Begeisterung für die Revolution ist die eines Schwärmers. Doch bleibt er es nicht; dafür ist sein politischer Blick zu scharf und hellsichtig. Zwei Jahrzehnte später ahnt er sehr wohl, was eine kommunistische Umwälzung der Gesellschaft mit ihrer Radikalität und ihrer materialistischen Ausrichtung sowohl für die von ihm geliebte europäische Kultur im Allgemeinen als auch für ihn selbst im Besonderen bedeuten könnte. Welchen Preis würde er selbst dafür zahlen müssen? So schwankt er zwischen der Anerkennung der objektiven gesellschaftlichen Notwendigkeit und dem Hinnehmen der unvorhersehbaren Folgen für seine persönliche schriftstellerische Existenz.

Rattus communisticus horribilis

Er beschreibt seine Furcht im Jahr 1855, dem Jahr vor seinem Tod, im Entwurf seiner Vorrede zur französischen Ausgabe der Lutetia; (es handelt sich um Berichte, die er ab 1854 für die Augsburger Allgemeine Zeitung über Politik und Kultur in Frankreich schreibt):

Dieses Geständnis, dass den Kommunisten die Zukunft gehört, machte ich im Tone der größten Angst und Besorgnis, und ach! diese Tonart war keineswegs eine Maske! In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit, wo jene dunklen Iconoklasten (i.e. Bilderstürmer) zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt, sie zertrümmern alle jene phantastischen Schnurrpfeifereien (i.e. ausgelassenen Spielereien), die dem Poeten so lieb waren; sie hacken mir meine Lorbeerwälder um und pflanzen darauf Kartoffeln. (…) Und ach! mein „Buch der Lieder“ wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten. (…) Ach! das sehe ich alles voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist. Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt derselbe auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann. In meiner Brust sprechen zwei Stimmen zu seinen Gunsten, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen. (…) Denn die erste dieser Stimmen ist die der Logik. (…) Und kann ich der Prämisse nicht widersprechen: „Dass alle Menschen das Recht haben zu essen“, so muss ich mich auch allen Folgerungen fügen. (…). Die zweite der beiden zwingenden Stimmen, von welchen ich rede, ist noch gewaltiger als die erste; denn sie ist die des Hasses, des Hasses, den ich jenem gemeinsamen Feinde widme, der den bestimmtesten Gegensatz zu dem Kommunismus bildet und der sich dem zürnenden Riesen schon bei seinem ersten Auftreten entgegenstellen wird – ich rede von der Partei der sogenannten Vertreter der Nationalität in Deutschland, von jenen falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht und die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen. (DHA, Bd. 13/1, S. 294 f.)

Fausts zwei Seelen – Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! – werden zerrissen zwischen Irdisch-Sinnlichem und Transzendent-Geistigem. Es sind die Qualen einer Kunstfigur, die, vermittelt, wohl auch die des Autors Goethe selbst widerspiegeln. Hier spricht Heine unmittelbar von sich selbst; und selten hat ein Dichter so schonungslos sein Herz offenbart: so wahrhaftig, so ergreifend. Und so politisch.

Rattus rattus triumphans

Den Wanderratten gelingt es, in einem Teil der Welt die Macht zu erringen und eine Gesellschaft nach ihren Prinzipien aufzubauen. Die bricht allerdings nach nicht einmal einem Jahrhundert zusammen: durch innere Widersprüche, äußeren Druck, eigene Fehler.

Dagegen war das System der Hausratten erfolgreicher. Mit scheinbar friedlichen Mitteln, meist mit Betrug und verdecktem Zwang, wenn es aber nottat, auch mit Gewalt, haben sie die halbe Welt sich unterworfen: Sie haben die Länder der anderen Rattenvölker unter sich aufgeteilt, durch willkürliche Grenzziehungen die angestammten Siedlungsgebiete zersplittert und so die Sprengsätze für künftige ethnische Konflikte gelegt; sie haben sie millionenfach versklavt, haben deren Bodenschätze geplündert, die Meere leergefischt, die traditionelle Wirtschaftsweise zerstört und sie zur Produktion zugunsten der Bedürfnisse der eigenen Rattenart gezwungen. Damit haben sie ihren eigenen Wohlstand auf eine früher kaum vorstellbare Weise vermehrt und sind stolz auf ihre Werte – die ökonomischen, politischen, moralischen – die sie den andern Rattenarten so überlegen gemacht haben. Sie haben dafür den Begriff Globalisierung erfunden und damit versprochen, an ihrem Glück die gesamte Rattenheit teilhaftig werden zu lassen. Und in der Tat, sie werden beneidet, denn sie leben gleich den von den alten griechischen Göttern geliebten Heroen im Elysium: auf einer Insel der Seligen. Doch an ihren Küsten regt sich etwas Unerwartetes, Angstmachendes.

Rattus migrans ante portas!

Durch ökonomisch-genetische Mutation ist eine neue Art von Wanderratten entstanden. Die politische Zoologie hat für sie den Terminus Rattus migrans geprägt. Was zu Heines Zeiten im nationalen Maßstab drohte, kehrt nun in internationaler Dimension wieder.

Diese Ratten sind die Verlierer des von den Hausratten erschaffenen globalen Systems. Sie sind ähnlich unansehnlich wie jene Wanderratten von damals. Nicht nur sind ihre Gesichter von Not, Verfolgung, Krieg und Armut gezeichnet, nicht nur sind sie Habenichtse, hungrige, zerlumpte Elendsgestalten – sie sind auch von dunklem Aussehen, und das macht sie in besonderer Weise fremd und bedrohlich. Und wie die alten wünschen auch die neuen Wanderratten aufs neue zu teilen die Welt – zumindest einen Anteil des auf ihre Kosten erworbenen Wohlstands sich zurückzuholen. Und darum wandern (sie) viel tausend Meilen / ganz ohne Rasten und Weilen (…) sie schwimmen durch die Seen – wobei es sich nun nicht mehr um Binnengewässer, sondern um ein veritables Meer, das Mittelmeer, handelt – und auch wenn gar manche (Ratte) ersäuft oder bricht das Genick, die nackte Not treibt sie weiter: Die Lebenden lassen die Toten zurück.

Apocalypse now

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.
Mit dem Vergnügen der Satten hat es ein Ende:
Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe. (…)
O wehe! Wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren.

Was tun? Die Hausratten schließen in Panik den Brenner. Doch wird das nichts helfen. Denn wenn zahlreiche Exemplare der schwerfälligen Spezies Loxodanta africana (vulgo: Elefant), obendrein mit Hannibal und dessen gewaltigem Heer im Gefolge, die Alpen über eisige Pässe zu überqueren vermochten, so wird das für Rattus migrans ein Leichtes sein.

Textausgabe: Das Gedicht und die weiteren Texte werden zitiert nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA), hsgg. von Manfred Windfuhr in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut, 15 Bände, Hamburg 1975 ff.; das Gedicht in Bd. 3/1, S. 334 ff. Die Schreibung des Gedichts wie der folgenden Texte erfolgt der leichteren Lesbarkeit halber nach heutiger Rechtschreibung und Interpunktion.

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