FORVM, No. 456
Dezember
1991

Die Zerstörung Kroatiens

Rede in Wien, am 19. November 1991, Alte Schmiede*

Ich muß Ihnen, zu meiner Trauer und zu ihrem Entsetzen, gleich im ersten Satz mitteilen, daß ich aus dem einzigen Land der Welt komme, in dem ein brutaler, ungerechter, durch nichts hervorgerufener, ja sogar — welch eine Ironie! — nicht einmal erklärter Krieg geführt wird: ich komme nämlich aus der Republik Kroatien, einem Land, das seit über tausend Jahren existiert und voriges Jahr durch die ersten freien Wahlen der Nachkriegszeit erneuert wurde — wenn es auch immer noch auf internationale Anerkennung wartet, zumindest durch jene Länder, die die Bezeichnung demokratisch verdienen. Ich weiß nicht, wie ich über das Verhältnis Literatur-Politik-Moral beziehungsweise über das Thema »Denkmalzerstörung« sprechen könnte, ohne vorher darauf aufmerksam zu machen, daß in unserem gesegneten Mitteleuropa, das geistig und strategisch tatsächlich eine feste — wenn auch heute ziemlich gespaltene — Einheit bildet, in einer seiner wichtigen Nord und Süd verbindenden Komponenten, in Kroatien, alle 24 Stunden mindestens 20.000 Bomben, Granaten und Raketen aller möglichen amerikanischen, russischen, serbischen und schwedischen Modelle abgefeuert werden.

Zu diesem angesehenen Treffen komme ich direkt aus einem typischen Zagreber Schutzkeller: aus einem jahrelang verwahrlosten und bis vor kurzem mit Gerümpel vollgestopften Holzschuppen, der sich, feucht, kalt und gegen Regen, Kälte und Explosion schlecht geschützt, nur zwei Meter unter der Erdoberfläche befindet. In solchen Schutzkellern, im Reich der Mäuse und Ratten, halten sich zur Zeit in Kroatien mindestens eine Million Menschen fast ununterbrochen auf. In Vukovar und anderen Städten und Dörfern Ost- und Westslawoniens, in Sisak, Karlovac, Slunj, Otočac, Perušić, Gospić, Zadar, Dubrovnik verlassen die Menschen wochenlang nicht solche Keller, in Vukovar monatelang, und gerade da, wo es am schlimmsten ist und wo die Häuser über den Köpfen der Menschen zusammenstürzen, gibt es gewöhnlich weder Strom noch Wasser und oft auch keine Nahrung. Hier spielen sich gleichzeitig Tod und Leben ab: Bei schwachem Kerzenlicht sterben unter der Last der Jahre, dem unbegreiflichen Schrecken und der Krankheit zusammenbrechende Menschen, und gleichzeitig werden Kinder geboren, von denen einige noch nie das Tageslicht gesehen haben. Ich führe alle diese Datails an, weil ich annehme, daß Europa vergessen haben dürfte, was „Schutzkeller“, „Bombenangriffe vom Land, von der See und aus der Luft“, panische Angst vor dem Giftgas, vor einem chemisch-biologischen Überfall sind, mit denen die feindlichen Generale ständig drohen.

Wenn man auf die europäischen Verhandlungsstrategen hören würde, für die es nie genug Tote, Verwundete, von ihren Heimstätten Vertriebene gibt, könnte man am Ende wohl kaum begreifen, was in Kroatien eigentlich vor sich geht. Man konnte bereits hören, daß in Kroatien „Bürgerkrieg“ herrsche, daß „ethnische Konflikte“ ausgetragen würden — was alles eine wenig moralische Lüge ist. Ich wiederhole: In Kroatien herrscht Krieg, ein typischer Eroberungskrieg, in dem sich die schlecht bewaffnete Republik Kroatien verteidigt, da sie von der Republik Serbien mit einem ganzen Arsenal moderner Waffen angegriffen wird. Es gibt hier eigentlich keine Logik, keine Moral und keine Politik für jemanden, der nicht der Meinung ist, daß auch Hitler, Stalin, Napoleon, die Türken und die Mongolen aus „logischen“, „moralischen“ und „politischen“ Gründen die Welt eroberten, fremde Städte und Dörfer in Brand steckten und zerstörten, andere Völker töteten, verfolgten und unterjochten. Die Republik Serbien und ihr „Führer“ Slobodan Milošević haben es darauf abgesehen, Kroatien seine wertvollsten Gebiete wegzunehmen: das fruchtbare Slawonien und das touristisch lukrative Dalmatien, weil sie sich — wie seinerzeit Adolf Hitler — davon wirtschaftlichen Aufschwung versprechen. Jeder vernünftige Mensch muß das für eroberungswütigen Irrsinn halten. Um diesen Plan in die Realität umsetzen zu können, müßte die Republik Serbien mindestens 1,5 Millionen Kroaten vertreiben oder umbringen, da sowohl in Slawonien als auch in Dalmatien die Kroaten die offensichtliche Mehrheit bilden, die, abhängig von der jeweiligen Gemeinde, zwischen 75 und 85 Prozent ausmacht. Dabei ist nicht zu vergessen, daß in diesem „schmutzigen Krieg“ der Republik Serbien neben den Kroaten gleichermaßen Ungarn, Tschechen, Slowaken, Deutsche, Österreicher, Albaner, Moslems und Juden verfolgt werden, ja auch manche Serben, die sich dem Aggressor nicht angeschlossen haben.

Aber Slobodan Milošević wundert sich samt der bolschewistischen Obrigkeit Serbiens darüber und sagt, Serbien befinde sich in keinerlei Krieg gegen Kroatien, obwohl er sich zumindest daran erinnern könnte, in Den Haag mehrmals Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet zu haben. Aber das sind bekannte Versteckspiele, deren sich auch „Väterchen“ Stalin zu bedienen pflegte. Es geht nämlich darum, daß der Krieg für die Schaffung eines Großserbien, dem — vorerst — nicht nur Teile Kroatiens, sondern auch Bosnien-Herzegowina und Mazedonien einverleibt wären, außer von serbischen Territorialkräften und den „Tschetniks“ genannten Freischärlergruppen, in Wirklichkeit von der sogenannten Jugoslawischen Armee geführt wird, die im Laufe des vergangenen Jahres zur eigentlich serbischen Armee wurde.

Im Laufe des Zerfalls des bolschewistischen Ostreichs, des größten Völkerkerkers der Geschichte, trugen bekanntlich in den ersten Nachkriegswahlen in vier von sechs jugoslawischen Republiken Mehrparteiensystem und Demokratie den Sieg davon. Die Jugoslawische Armee jedoch, der wahre Besitzer und Befehlshaber Jugoslawiens, mit einer eigenen mächtigen Polizei und Wirtschaft, mit eigenem Gesundheitswesen und eigener Landwirtschaft, blieb auch weiterhin eine Hochburg des Bolschewismus, sie gründete sogar in diesen Augenblicken des Umbruchs eine eigene kommunistische Partei.

Wesentlich ist aber etwas anderes: Die große Mehrheit von 80.000 Offizieren bildeten schon damals serbische Generale, Admirale, Hauptleute u.a. Da sowohl in Serbien als auch in Montenegro die kommunistische Führung an der Macht blieb, kam es innerhalb einer sehr kurzen Frist zu vollständiger Interessendeckung. Was Slobodan Milošević als Großserbien festsetzte, bezeichnete die Armee als „Föderatives Jugoslawien“, und sie zogen zusammen in einen Krieg gegen die vier Republiken, der sich von Tag zu Tag weiter ausbreitet. Den Anfang bildete der Angriff auf die Republik Slowenien, wo jedoch Slobodan Milošević und seine Großserben keine Territorialansprüche erhoben, so daß sich die Armee nach den ersten unerwarteten Schlägen zurückzog. Danach geriet in den Brennpunkt des Interesses Miloševićs und der Bundesarmee Kroatien, wo es Mißverständnisse zwischen den befreiten Kroaten und jenen Serben gab, die mit dem kommunistischen Machtzerfall ihre privilegierten Positionen in Kroatien verloren. Die Armee rechtfertigte ihren damals erfolgten Einsatz mit dem Wunsch, eine Pufferzone zwischen den Gegnern zu schaffen, obgleich bis zu dem Zeitpunkt nur ein Mann, und zwar ein Kroate, gefallen war, und sie verwandelte sich immer mehr aus einem falschen Vermittler in den wahren Okkupanten. Gleichzeitig hat dieses ehemalige jugoslawische Heer seine Offiziersreihen von fast allen Albanern, Kroaten, Ungarn, Moslems und Slowenen „gesäubert“, manche haben es auch aus eigener Entscheidung verlassen, als sie sahen, in welche Richtung es immer schneller abdriftet, und heute fliehen aus der Armee auch gewöhnliche Soldaten aller anderen Nationalitäten außer Serben und den proserbischen Montenegrinern. Kein Zweifel, daß es sich heute um ein rein serbisches Heer handelt, was übrigens auch Slobodan Milošević bestätigt, indem er seine gelichteten Reihen mit serbischen Reservisten aufzufüllen sucht.

Heute ist auf unserem bedeutenden Symposion, — zu dem wir uns aus verschiedenen Teilen Europas versammelt haben, und das uns die Erkenntnis vermittelt, daß wir keine Fiktion sind, sondern daß die Schriftsteller trotz allem auch weiterhin bestehen, — die Rede von Denkmalzerstörung, wahrscheinlich als einem Symbol aufgezwungener Regime. Ich werde mich auch diesmal aus einem anderen Blickwinkel an dieser Diskussion beteiligen.

In Kroatien werden in diesen schrecklichen Monaten Anno Domini 1991 vor allem — lebende Menschen zerstört. Im Eroberungskrieg des serbischen Militärs und der serbischen Tschetniks sind bisher 50.000 Menschen umgekommen, darunter die meisten aus der Zivilbevölkerung. Gleichzeitig wurden fast 200.000 Menschen, vor allem Kinder, Frauen und Alte, verwundet. Flugzeuge — die nur der Eroberer besitzt — nehmen mit der Leidenschaft afrikanischer Kopfjäger kroatische Bauern auf ihren Äckern und in Weingärten unter Beschuß.

Anfang August verfaßte ich ein Gedicht über die Zerstörung von 54 katholischen Kirchen in Kroatien. Bis zum heutigen Tag ist ihre Zahl auf 126 gestiegen. Hinzu kommt auch eine Reihe zerstörter Klöster.

Am Allerseelentag hallten auf allen kroatischen Friedhöfen Explosionen aus serbischen Kanonen und Minenwerfern wider.

Gerade heute, am 11. November, sind die Besatzer dabei, mit 8.000 Raketen und Granaten systematisch Dubrovnik zu vernichten, eine unter UNESCO-Schutz stehende Denkmalstadt, ein einmaliges urbanistisch-architektonisches Ganzes mit Bauresten noch aus dem 5. Jahrhundert. Dieselbe Spezies bärtiger Barbaren zerstört alltäglich auch den historischen Stadtkern des antiken Zadar, erhaltene Denkmäler aus dem Mittelalter, der Romanik, Renaissance, dem Barock.

In meiner Geburtsstadt Karlovac, die während voller vier Jahrhunderte unversehrt geblieben ist, zerstören serbische Armee und Freischärler von ihren Stützpunkten aus Haus für Haus mit Projektilen, wobei ihnen die Tatsache, daß jedes dieser Häuser ein Teil der kroatischen Geschichte ist, besonderen Genuß zu bereiten scheint.

Auf die Barock- und Sezessionsstadt Osijek und die umliegenden Dörfer haben sie bisher über 100.000 Bomben, Minen und Granaten abgeschossen, weil sie Osijek schon längst in die Landkarte Großserbiens eingezeichnet haben, obwohl dort 90.000 Kroaten, 38.000 Ungarn, Deutsche und andere — und nur 28.000 Serben leben, also nicht einmal ein Viertel der Stadtbevölkerung. Deshalb möchten sie die Kroaten, Ungarn und andere vertreiben, um, sei es auch durch ein Verbrechen, das „Serbentum“ der Stadt zu beweisen.

Es wäre schwer, in diesem Augenblick festzustellen, wie viele Hunderte von Kulturdenkmälern die Eroberer aus Serbien zerstört oder dauerhaft beschädigt haben, man darf dabei aber auch die Schulen und Krankenhäuser nicht vergessen, ja auch die ärmlichen Hütten, die für manche alles sind, was sie auf dieser Welt besitzen.

Gestatten Sie mir am Ende, Ihnen als Schriftstellern gegenüber, noch eine Großtat dieser neuzeitlichen Barbaren zu erwähnen: In Vinkovci haben die serbischen Soldaten aus ihrer Kaserne die Stadtbibliothek mit 70.000 Büchern in Brand gesteckt und dann die Feuerwehrleute mit Maschinengewehren und Kanonen am Feuerlöschen gehindert.

Natürlich haben auf diesem Scheiterhaufen neben Dante, Shakespeare, Dostojevskij, Rilke und den Schriften alter und neuer kroatischer Schriftsteller auch Bücher serbischer Verfasser gebrannt.

Barbaren machen sich aber nichts aus Büchern. Wenn sie sich Fragen stellen könnten, hätten sie schon längst Messer und Gewehr weggeworfen.

Inzwischen müßte sich Europa die Frage stellen, wie die Aggression auf Kroatien sofort zu stoppen wäre. Denn ist nicht auch nur die Möglichkeit des Verbrechens an einem der europäischen Völker die Negation Europas schlechthin?

* West-Östlicher Diwan: Literatur, Politik, Moral, zweiter Abend, Gestürzte Denkmäler, von Heidi Pataki aufgebaut

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