FORVM, No. 301/302
Januar
1979

Direktorendirektorium

Schleichendes Berufsverbot in Österreich

In Österreich ist man bisher ohne formales Berufsverbot ausgekommen. Eine in Jahrhunderten von Gegenreform und Gegenrevolution erfahrene Bürokratie braucht das nicht, sie hat subtilere Kontrollmittel. Umso grausamer wirkt sie, weil damit auch das rechtsförmige Verfahren ausgeschaltet ist. In Deutschland beißt der Dissident auf Granit, in Österreich auf Gummi.

Ein Lehrer, der sich gegen seinen Direktor wehren will, geht zur Gewerkschaft. Wen trifft er dort? Direktoren als Funktionäre. Alpenländisches Direktorendirektorium ... Wenn er zur Partei geht, worauf stößt er dort? Proporzrayons! Rühr mir meine Leute nicht an, dann laß ich deine in Ruh.

Wer was Neues versucht, rennt sich am System den Schädel ein. Irgend jemand beschwert sich immer, da können wir dann beruhigt aufatmend die Reform zurückstellen.

Natürlich machen wir jetzt auch ein neues Gesetz, wo alles aufs i-Tüpferl drinsteht, wir müssen mit den Deutschen mithalten. Wir wollen sie sogar übertreffen! Der Bewerber soll nicht nur bei der Aufnahme abgelehnt, sondern jederzeit rausgeschmissen werden können. Europa wächst!

Momenterl, Wahlen kommen ... laß mers reifen. Atom, steh still zu Zwentendorf, Beamter, fürcht dich nit — is ja eh alles in Ordnung.

I. Schlossers rechte Art

Der Fall Vacarescu: Lehrerkillen im alten Stil
Den Hammer sinnvoll geschwungen,
Feile und Meißel tüchtig geführt!
Ein Liedel dazu gesungen,
damit das Werk auch richtig wird.
So ist des Schlossers rechte Art,
wo Arbeit sich mit Freude paart!

So singen die untersteirischen Schlosser, zumindest stellen sich’s völkisch gesinnte Lehrer so vor und lassen s’ den Donawitzer Werkschor intonieren. Das Schlosserlied schallt von einer unscheinbaren 45er Platte, betitelt „Murecker Klänge“ (polyhymnia EP 200.403), produziert von der Berufsschule Mureck im Sommer 1976. Wie konnten diese biederen Töne bewirken, daß ein Schüler ausbüchste und ein Lehrer entlassen wurde?

Der Bua in der Fruah anfoch auf und davon

Die Schallplatte wurde vom agilen Schuldirektor Max Tomka („I bin kein mutloser Mensch, bei Gott net!“) nicht nur an die Handwerksmeister des Einzugsbereichs der Berufsschule, sondern auch an die Schüler vertrieben. Als der Fachlehrer Walter Probst den Schülern der 1c im Frühjahr 1977 das Objekt um 40 Schilling feilbot („Meine Aufgabe war damals als Klassenvorstand nur, zu erwähnen, daß es diese Aktion gibt“), weigerten sich sieben Schüler, auf den Handel einzugehen.

Die Schüler behaupten, sie seien danach vom Lehrer Probst bedroht worden (siehe Kasten), während hinwieder der Lehrer Probst behauptet, die Schüler seien von einem anderen Lehrer, dem Dr. Joachim Vacarescu, zu dieser Darstellung angestiftet worden. Probst: „Es gibt aundere Lehrer, die die Buam do ausfrogn, ausfratschln, und daun kummts no: Paßts auf, und des unterschreibts, daun fliagt der Lehrer aus der Schul auße, so ähnlich geht des herum — ja nix besser als wie: Schüler gehn her und unterschreim jeden Wisch!“ Vacarescu darauf: „Nachdem ich als Lehrer das zur Kenntnis genommen habe, mußte sofort weitermelden. Daß ich gedeckt bin, habe ich von den Schülern das schriftlich verlangt.“

Faktum ist, daß der Schmiedelehrling Robert Maß am 29. März 1977 aus dem Internat der Berufsschule Mureck verschwand. Laut Gendarmerieposten Mureck ist er am 30. März 1977 als abgängig gemeldet worden und 16 Tage später wieder aufgetaucht. An der Schule hat man ihn allerdings nicht mehr gesehen, er verlor auch den Lehrplatz bei seinem Meister. Fachlehrer Probst führt die Flucht seines Schülers nicht auf sein Verhalten zu ihm zurück, er sucht die Schuld anderswo:

... jedenfolls sehr triste Familienverhöltnisse gewesen. Ich hab ihn ersucht, er möge den Klassenvertrauensmannstöllvertreter mochn, damit i ihn a bisserl unter Kontrolle hob. Mir woars natürlich a unaungenehm, wia der Bua in der Früh anfoch auf und davon is, daß ma si hot goa kan Reim mochn können auf die Geschichte, warum der fortgaungen is. Erst von seiner Mutter hob ich daun erfohren, daß es seine Oart is wohrscheinlich, sein Naturell, daß er holt auffoin wüll und geht hoit auf und davon. Is holt schwer mit de jungan Leit! Oba ma kaun natirli net ois glei hinhaun und davaungehn! Die Mutter wor dann bei mir und hot mir donn diese Geschichte erzählt, daß dos nicht dos erste Mol war, sondern das is in seiner Oart drinnen ...

Schuldirektor Tomka erinnert sich später vor dem Arbeitsgericht: „Es ist richtig, daß er [der Schüler Maß] sich, wie andere schlechte Schüler, an den Kläger [nämlich Dr. Vacarescu] angelehnt hat.“ Und bedauernd: „Richtig ist, daß in den Klassen, wo der Kläger unterrichtet hat, kaum Schallplatten verkauft wurden.“ Der Lehrer Vacarescu hat sich also für die Lehrlinge eingesetzt, die, so sagt er, „nicht einmal zehn Groschen in der Tasche haben“, müssen sie doch praktisch ihre ganze Lehrlingsentschädigung für das Internat aufwenden.

Zwischenfall in der Berufsschule Mureck im Frühjahr 1977:
Schallplatten werden an die Schüler verkauft, ein Schüler weigert sich und läuft davon. Die Mitschüler behaupten: Wegen Bedrohung durch den Klassenvorstand.
Der Schuldirektor Ingenieur Max Tomka meint:
„Es worn do keinerlei Probleme. Er hot net amol negative Noten ghabt!“

Displaced person

Das Internat ist der Berufsschule Mureck angeschlossen und wurde seinerzeit von den Lehrlingen selbst gebaut und anschließend von der Gemeinde um zwei Millionen Schilling an die Kammer der Gewerblichen Wirtschaft verkauft. Dorthin kommt jeder der Metaller-Lehrlinge im Laufe seiner Ausbildung dreimal zu einem achtwöchigen Kursus. Während die Lehrlinge in den Großstädten einmal wöchentlich in die Berufsschule gehen, kaserniert man sie in den ländlichen Gebieten einmal jährlich zum Blockunterricht. Da werden sie, pädagogisch nicht sehr sinnvoll, acht oder neun Stunden hintereinander mit Stoff berieselt, schlafen — wie beim Bundesheer — in Stockbetten zu sechst oder acht im Zimmer und sind finanziell, räumlich und disziplinär vollkommen den Lehrern, Heimleitern und Erziehern ausgeliefert.

Die Lehrer in der Schule und die Erzieher (sprich Aufpasser) im Heim sind in der Regel pädagogisch unausgebildete Praktiker. Noten betrachten sie als Disziplinierungsmittel. Die Handwerksmeister sind von alters her das Zulangen gewohnt, Gewalt ist in der Erziehung der Arbeiterklasse immer noch der Weisheit letzter Schluß.

Aus Interesse an diesen Zuständen kam Dr. Joachim Vacarescu 1956 an die Berufsschule Mureck. Der 1914 im damals österreichischen Zipfel Rumäniens Geborene absolvierte 1932 in seiner Heimat die Lehrerbildungsanstalt und war dort bis 1944 Volksschullehrer. Durch den Krieg nach Wien verschlagen, war er 1945 Displaced person. Er ging nach Graz und studierte dort Philosophie. Nach der Promotion 1955 begann er eine staatswissenschaftliche Dissertation über „Die arbeitende Jugend in Österreich“ und ließ sich, zwecks Feldforschung, im Herbst 1956 an der Berufsschule in Mureck als Vertragslehrer für die kaufmännischen Fächer anstellen. Mit Genehmigung des Landesschulrats untersuchte er die Lage der Lehrlinge, sammelte von 500 Berufsschülern Daten mittels Fragebögen.

Da der Landesschulrat die Untersuchung ab einem bestimmten Punkt nicht mehr fördern wollte, es ablehnte, Vacarescu nach Graz zu versetzen, blieb das zweite Studium des Rumänen unvollendet und er selbst in Mureck „hängen“. Täglich mußte er Dutzende Kilometer mit dem Autobus von Graz nach der Kleinstadt an der jugoslawischen Grenze fahren, 800 Stunden Wegzeit im Jahr. Bei seiner Entlassung wurde später sogar gegen ihn angeführt, er hätte Anfang 1977 eine Stundenplanänderung abgelehnt, die seine Wegzeit — durch Warten auf den Autobus — um ein Viertel verlängerte.

Lehrkörper der Berufsschule Mureck,
abgebildet auf der Hülle der Schallplatte „Murecker Klänge“, produziert vom Direktor Max Tomka (Mitte, vor dem Wagen). Vertragslehrer Dr. Joachim Vacarescu weigerte sich, fotografiert zu werden, und behauptet, die Klänge kämen gar nicht aus Mureck ...

Der blutige Schlüsselbund

Als Vacarescu sich nicht mehr bloß theoretisch für die Arbeiterjugend interessierte, sondern sich auch praktisch für die Schüler einzusetzen begann, stieß er mit dem System zusammen — ein Konflikt, für den der Rumäne und Akademiker unter bodenständigen Handwerksmeistern geradezu prädestiniert war. „Ein Lehrer, der sich in die Lage der 15- bis 18jährigen Lehrlinge versetzt und auch für ihre Rechte eintritt bzw. Mißstände und Unzulänglichkeiten aufzeigt, wird wahrscheinlich bei den anderen Lehrpersonen nicht immer beliebt sein“, schrieb der Schlossermeister Reinhard Wundersamer aus Aigen im Ennstal, früher Vacarescus Schüler, an seine Lokalzeitung.

Vacarescu opponierte offen gegen das Faustrecht der Handwerkerpädagogik. Prügelszenen kommen nur selten vor Gericht, es muß schon ein Erwachsener „dahinterstehen“, bevor die Jugendlichen mit der Sprache rausrücken. Aussage des Schülers Andreas Pfister, 19, über ein Ereignis auf dem Schulhof in Mureck am 1. Februar 1971: „Der Herr Fachlehrer stieg mir auf die Zehen, daß ich nicht weglaufen konnte, und schlug mehrmals mit dem Schlüsselbund auf meinen Hinterkopf.“ Erst als der Schüler zu bluten begann, ließ der damals 39jährige Religionslehrer Albert Weinberger von ihm ab. Das Gericht begnügte sich mit einer Geldstrafe von 600 Schilling für den Pädagogen (Neue Zeit vom 10. April 1971).

Der damalige Schulleiter Wilhelm Walzer empörte sich vor Gericht, daß der Schüler von einem Lehrer zur Anzeige animiert worden sei. Der Lehrer war Joachim Vacarescu. Ihm wurden daraufhin vom Direktor sämtliche Überstunden gestrichen. Für den prügelnden Religionslehrer hatte das Gerichtsurteil keine disziplinären Folgen.

Dr. Joachim Vacarescu, 64, vor dem Grazer Arbeitsgericht,
wo er seine Kündigung durch den steirischen Landesschulrat bestreitet. In erster Instanz hat er 1978 verloren, das Urteil zweiter Instanz soll im Jänner 1979 zugestellt werden.

Steirisches Klima — psychosomatisch

Es ist fast unmöglich, von den Zeugen Berichte über solche Vorfälle zu bekommen. Wer was meldet, riskiert seine berufliche Existenz. Als in einem andern Fall zwei Lehrer den vorgesetzten Behörden eine blutig ausgegangene Schülermißhandlung berichteten, geschah dem Prügellehrer nichts, aber die Anzeiger wurden diszipliniert: Der eine durfte gnadenhalber mit 60 in die Frühpension, der andere wurde wegen falscher Verdächtigung beim Staatsanwalt angezeigt, vor Gericht freigesprochen, dann aber mittels Disziplinarverfahren an eine weit entfernte Schule versetzt. Selbst heute hat er Angst, zu reden: „Auch als Pensionist is ma denen noch immer ausgeliefert. Sie ham die Möglichkeit noch und noch, einen zu drangsalieren!“ Dieser Lehrer hat das berühmte steirische Klima gründlich kennengelernt:

Es ist ja unglaubhaft, daß das alles möglich is, daß die überhaupt so durchkommen — i versteh des net! Das stinkt ja zum Himmel, was sich hier in der Steiermark abspielt! Bisher hat jeder die Finger zurückgezogen, weil die eben noch mächtiger sind als wie wir, do hüft olls nix. Hörn S’ zua: Es handelt sich hier um Dreck, Dreck und nochmals Dreck, sog i Ihna gleich. Der Herr Vacarescu hat in allem recht, net woa, das weiß ich, ich kenne seinen Leidensweg.

Die anonymen Briefe, die Nerven, das Herz ... auch dieser Lehrer ging in die Frühpension.

Was da alles hinuntergeschluckt werden muß, kommt als innere Erkrankung, als Fehlhandlung mit verletzendem oder tödlichem Ausgang unten am Sozialkörper wieder heraus. Das steirische Klima ist psychosomatisch. Hinter jedem Baum und Strauch dieser schönen Landschaft scheint ein gnadenloser Machtkampf zu toben.

Da war zum Beispiel der Fall des Lehrers N., der sich an einer steirischen Berufsschule weigerte, in einer neuen, noch nicht kommissionierten Werkstätte zu unterrichten. Durch Wink mit disziplinären Folgen zwang man ihn dazu. Es kam zu einer Explosion, drei Lehrlinge und ein Lehrer starben. Der überlebende N. wurde vom Gericht von jeder Schuld freigesprochen, durch ein Disziplinarverfahren aber vorübergehend aus dem Schuldienst entfernt. Nach einem Autounfall wurde er schließlich nach Mureck versetzt. Dort erlitt er im Sommer 1973 einen Nervenzusammenbruch. Im Dezember 1973 brachte er sich um.

Ein anderer Fall. Zwei Berufsschüler raufen in der Pause mit einem Mädchen, wobei sie auf eine Schulbank zu liegen kommt. Keine schöne Sache, gewiß — aber rechtfertigt dieses pubertäre Gemänner wirklich eine Untersuchung wegen „Vergewaltigungsversuch“? Vacarescu: „Unvorstellbar, daß zwei Buben eine Minute vor Unterrichtsbeginn ein Mädchen in der Klasse vor allen Schülern vergewaltigen hätten wollen!“ Direktor Tomka sieht das auch so, nur vermittet er den Eindruck, die Schüler seien „freiwillig“ von der Schule geschieden. Einer der beiden Lehrlinge, ein Vollwaise, sei dann — so der Direktor — durch einen Unfall in einem Keller in Graz verbrannt; er habe beim Mopedreinigen ungeschickt mit Benzin hantiert. Vacarescu hingegen vermutet einen vertuschten Selbstmord: „Und der andere, der in der Karlau ins Gefängnis ... Ist auch reiner Zufall? Ja, warum hat er die Innung angerufen, und die Lehrverträge wurden von der Innung gekündigt?“

Die Schüler einer Berufsschule bringen die Lage der Arbeiterklasse mit ein. „Sie müssen si vorstelln“, erzählt Direktor Tomka, „daß wir Sonderschüler ham, die oft net amal gscheit lesen und schreim können. Daß zum Beispiel Schüler bei uns ausm Knast kommen und die Schule besuchen, damit s’ net wieder hineinmüssen und so weiter — wir san wirklich lebensnahe!“ Hier hätte die Berufsschule als soziale Fürsorgeanstalt zu wirken. Man hat aber nicht den Eindruck, daß das Problem bewußt angegangen wird — wie überall in den sozialen Diensten in Österreich (keine Nachbetreuung der Häftlinge, keine psychiatrische Ambulanz usw.). Euer Pech, wenn ihr nicht mitkommt, Unterschichtler! Dann eben ab in die Bewahranstalten!

Das ist nicht bloß Sache der Direktoren, es ginge um einen Neuansatz im System. Dächte man da grundsätzlich neu, dann könnte man den Schülern im Berufsschulinternat wohl nicht soviel abknöpfen, daß denen, die von den Eltern nichts mitkriegen, überhaupt kein Taschengeld bleibt. Ist das nicht geradezu Verleitung zum Automatenbruch?

Lehrwerkstätte der Berufsschule Mureck:
Metallarbeiterausbildung für das südsteirische Kleingewerbe

Kameralistische Sklaverei

Überhaupt erinnert die Einstellung zu den internierten Lehrlingen in einem Punkt an Strafgefangene, Soldaten oder Geisteskranke: Man zahlt ihnen für ihre Arbeit keinen Lohn. In Bundesheerkasernen habe ich beobachtet, wie dort Offiziere ihre Autos gratis in den Werkstätten reparieren ließen, oft genug auch gratis betankten. Von Ex-„Irren“ habe ich gehört, daß Steinhof-Insassen dem Personal in der Außenstelle Ybbs Villen bauen. [1] Auch die Lehrlinge in der Berufsschule erzeugen oft ganz schöne Werte, wie Direktor Tomka erzählt: „Nehma an, irgend a Tor für an Lehrer oder a Fenster, net? Und des wird in der Schulzeit angefertigt, dann wird des vereinnahmt im Materialpreis, selbstverständlich nicht im Lohnpreis. Bis zu 400 Schilling entscheidet der Leiter.“

Das Verfahren ist sogar durch Erlaß der steiermärkischen Landesregierung geregelt: Geschäftszahl 13/559/11/allg. 2/15/1967, betreffend den Verkauf und die Bestellung von Lehrwerkstättenerzeugnissen. Das Werkstück muß in den Lehrplan hineinpassen (in Mureck haben Lehrlinge soeben ein Schwimmbad gebaut; ob das in den Lehrplan von Metallarbeitern hineinpaßt?). Bezahlt wird der Materialwert plus zehn Prozent Betriebskostenzuschlag (für Strom usw.) — nichts für Lohnkosten, wie gesagt. Dadurch bekommt der glückliche Käufer eines solchen staatswirtschaftlichen Ausnahmegutes dieses um ein Drittel oder Viertel des Wertes, den er auf dem freien Markt dafür zahlen müßte.

Alles legal! Bis zu 400 Schilling entscheidet der Schuldirektor, was darüber ist, genehmigt die Landesregierung, Rechtsabteilung 13. Wer kauft die Möbel der Tischlerlehrlinge, die Torten der Zuckerbäckerlehrlinge, die Würste der Fleischerlehrlinge? Beamte des Landes haben den Vortritt, sagt der zuständige Dr. Walter Frisee von der Landesregierung in Graz; er würde aber auch Pfadfinder und Rotes Kreuz bedenken. Direktor Tomka: „Es könnte jo der Foll sein, daß a Lehrer sogt: Darf i ma an Zaun mochn? — dann sogt die Abteilung 13 jo oder nein.“ Ob es dabei nicht gelegentlich zu Übertreibungen komme? Dr. Frisee, gemütlich: „A gewisse Diskrepanz zwischen der theoretischen Regelung und der Praxis wird’s immer gem.“ Und, im vertraulichen Ton: „Wir wollen die ja net alle an die Kandare legen.“

Direktor Tomka sieht es von der menschlichen Seite. Wenn zum Beispiel beim Bäcker ein Maschinenteil bricht, wird die Schule selbstverständlich sofort helfend einspringen. Oder: „A Schüler kummt her, hot mit sein Wogn a Panne und kann net nach Haus fahrn, dann wird ihm von der Direktion die Genehmigung erteilt, daß er diese Soch da hier mochn kann — oder auch nicht, wenn’s zu groß ist.“ Ob das auch bei Lehrern vorkomme? „Ja, natürlich bittschön. Gewisse Dinge wern bei uns überhaupt nicht mehr registriert, das is zum Beispiel Reifenwechsel und Batterielodn.“

Direktor Tomka beteuert, „alle Einzahlungen und alle Auszahlungen laufen ausnahmslos über Konto 734 Durchlaufer und scheinen bei der Rechtsabteilung 13 der Landesregierung auf“. Das gelte auch für die eingangs erwähnte Schallplatte „Murecker Klänge“, deren Reingewinn für Krankenhausfahrten und Schülerschwimmkurse verwendet wurde, und „amol hamma die Gattinnen der Lehrer eingeloden für a Weihnochtsessen“. Vacarescu nennt das „Feiern, saufen und fressen auf Kosten der Lehrlinge“; in seiner Antwort auf das Kündigungsschreiben des Landesschulrats donnert er: „Zigeunerbraten von Lehrlinge bezahlt!“

Auf der Rückseite der bewußten Schallplatte erklingt ein „Landesrat-Peltzmann-Schmiedemarsch“. Wie der Zufall so spielt, ist ÖVP-Landesrat Peltzmann — in der Landesregierung für Wirtschaftsdinge zuständig — auch für die Rechtsabteilung 13 verantwortlich, welche die Geschäfte der Berufsschulen zu überwachen hat, eben auch jenes mit der Platte, auf der ein ihm gewidmeter Marsch eingepreßt ist ... Doktor Frisee von der Abteilung 13, philosophisch: „Wann amoe irgendwos is — wir kennen net alles überwachen, wir machen Stichproben, aber mehr is net drin.“ Ein Lehrer, der mit Interventionen über „Schwarze Kassen“ in den Schulen bereits schlechte Erfahrungen gemacht hat, sagte mir: „Sie verstehen meine Situation, i bin ja amtsverschwiegen, nicht.“

Indem der Staat in seinen Institutionen Schule, Heer, Gefängnis, Psychiatrie die Arbeit der ihm Anvertrauten mit Null bewertet, verhält er sich frühkapitalistisch: Als ob er sein Kapital immer noch mittels ursprünglicher Akkumulation bilden müßte, also mittels gewaltsarner Auspressung der Arbeitskraft. Als ob nicht längst das Staatskapital — siehe die österreichische Grundstoffindustrie — ein eigener wertschöpfender Sektor geworden wäre, der ganz nach dem Profitprinzip funktioniert. Durch das Beharren auf einem absolutistisch regierten Sektor bleibt eine retardierende Zelle in den Gesellschaftskörper eingesprengt, der im Widerspruch zu allem steht, was Freihandel und Liberalismus dem System errangen, und der letzlich ein konservatives, faschisierendes Potential erzeugt.

Schwimmbecken der Berufsschule Mureck,
von den Lehrlingen 1978 gebaut: Berufsfremde Gratisarbeit?

„Du Dreckschwein, schäbiger Chinese!“

Man mußsich einmal anhören, was etwa Berufsschüler in Aufsätzen über ihre Situation zu sagen haben. Der Lehrer Vacarescu hat im Frühjahr 1977 einen solchen Versuch gemacht, und dabei kam folgendes Wortmaterial zutage. Die Schüler berichten, Lehrer hätten sie angebrüllt: „Du Dreckschwein, wärt ihr zu Hause geblieben, ihr blöden Hunde, schäbiger Chinese.“ Oder: „Ihr seid der größte Sauhaufen, der je diese Schule besucht.“ Ein anderer: „Als ich einmal in der Pause vor mich hinpfiff, war ich gleich ein blödes Dreckschwein.“ Ein weiterer: „Am liebsten hatte ich den Herrn Dr. Wakaresko, weil er gemüdlich und nett war“, was ein zweiter mit dem Lob übertrifft: „Er gibt auch sehr gute Noten. Wenn alle Lehrer so wären, würde es mir bedeutend besser gefallen hier.“

Das spezifisch autoritäre Klima in Mureck kommt auch daher, daß man in der Südsteiermark — ähnlich wie in Kärnten — immer schon in den angrenzenden Jugoslawen den Hauptfeind gesehen hat. Das „glückliche“ Verschwinden der slowenischen Minderheit, die der Versailler Vertrag noch schützen wollte, mag an der untergründigen Gereiztheit mitwirken, die ein umgeformtes Schuldgefühl ist. Ein Mann wie Vacarescu mit seinem immer noch merklich fremdsprachigen Idiom fällt in diesem Grenzland automatisch in den Raster des „Fremdvölkischen“, des Feindlichen, zumal wenn er dann auch noch gegen das herrschende lokale Establishment Opposition macht; dieses wird von den Akademikern der Kleinstädte beherrscht, da geben die schlagenden Burschenschafter aus Graz den Ton an, da macht noch der Sprachverein Südmark die Musik. Vacarescu selbst hat den Eindruck, „daß die Murecker heitzutage immer noch leben in der Hitlerzeit. Da hat sich in der geistigen Welt nicht viel geändert.“

Auch die Staats- und Landesspitzen glaubten an die Notwendigkeit einer „völkischen Befestigung“ des Grenzlands, und so hat man nach 1945 die Braunen im Staatsdienst belassen bzw. nur schwach eingefärbt. Die Randlage bedeutet stets industrielle Schwäche, und so kommt es, daß die zünftlerische Handwerkermentalität dort noch das Berufsschulwesen dominiert. Wer in der Schule einen Konflikt hat, fliegt von der Lehrstelle, und auch bei den Lehrern ist die Disziplinargewalt des Establishments kurzgeschlossen. Das Disziplinarrecht als legale Beamtenfeme bietet die Möglichkeit, den Betreffenden im Konfliktfall selbst nach gerichtlichem Freispruch zu eliminieren.

’s Mundwerk holtn, mei Pension is ma lieber

Mannigfache Mittel gibt es, um die Schäflein dem Guten und Schönen zuzuleiten. Wenn der ÖAAB-Lehrerbund seinen Bezirkstag hält, dann kriegen alle frei, die hingehen — seien sie nun Mitglieder oder nicht. So geschehen am 5. Mai 1977 im Bezirk Radkersburg, wo von 27 Angehörigen des Murecker Lehrkörpers 23 teilgenommen haben; unter den 4 „andersfarbigen“ Schafen war natürlich auch Vacarescu, der strafweise eine Klasse acht Stunden in Schriftverkehr unterrichten mußte. Vacarescu sieht darin einen klaren Fall von politischer Pression: „Sie wollten damit den Lehrlingen zeigen, wie stark sie sind.“ Und natürlich auch den Lehrern. Aber die wußten das ohnehin.

Vacarescus Kollege Probst sieht den Fall des Rumänen psychologisch:

... wobei i goa ka Interesse hob, daß da Vacarescu entlossn wird in dem Olter, ober er hot’s jo wahrscheinlich so hobm wolln. Wann si er do hineinschlittert, obwohl ich ihn a poormal aufmerksom gemocht hob. Wann ma holt im Staatsdienst is, muaß ma holt auch hie und do amoi ’s Mundwerk holtn können, ibahaupt wann ma in der Pension dort steht, sogn: Na, mei Pension is ma lieber als irgenda aundere Geschichte! Er hot holt dos net sein lossn können.

Es ist natürlich immer die Taktik der Bürokratie, nicht den Anlaßfall der berechtigten Empörung eines dissidenten Gliedes zur Begründung des Rausschmisses zu nehmen. Man findet andere Dinge, „Verfehlungen“, die lange Zeit hingenommen wurden oder die alle begehen. Dazu hat jede Bürokratie der Welt ihre Vorschriften, den Verhaltenscodex, der stets mehr Regeln enthält, als man befolgen kann. In diesem Sinn ist jeder Lehrer in jedem Augenblick „fällig“, denn irgendeinen Regelverstoß findet man immer. In Mureck ist es z.B. mehrmals vorgekommen, daß man von Lehrern, die bereits Jahrzehnte unterrichtet hatten, sobald sie widerspenstig wurden, plötzlich Prüfungen verlangte, etwa handwerkliche Meisterprüfungen oder im Fall Vacarescu die Ablegung einer Lehramtsprüfung, indem man die rumänische plötzlich anzweifelte.

Vacarescu: „Der Kollege, der kommen will als Zeuge — in kürzester Zeit wird er selber draufzahlen, das will ich nicht. Sehen Sie die Kette bei mir — jeder, der sich für den andern eingesetzt hat, wurde kurze Zeit nachher ... nicht deswegen, haum die irgendwas anderes gefunden ...“

Im Fall Vacarescu war das auslösende Moment für den Rausschmiß das Verschwinden des Schülers Maß am 29. März 1977. Die Auflehnung gegen das Leibeigenensystem der Berufsschulen drohte gerichtsnotorisch zu werden. Die Oberbehörde, der Landesschulrat, schlug zu gegen Vacarescu, auf seiten des Direktors Tomka. Am 31. März 1977 schickte der Landesschulrat dem Lehrer ein ultimatives Schreiben, in dem dieser aufgefordert wurde, zu fünf „Unzukömmlichkeiten“ Stellung zu nehmen, die „Grund für eine Kündigung“ seien.

Einer der Vorwürfe an Vacarescu war, daß er den Schülern seiner Klasse einmal, als er nach einer Krankheit wieder zurückkam, die inzwischen durch andere Lehrer erteilten Noten um bis zu drei Grade verbesserte. Wo käme die Schule da hin, wenn man es den Schülern so leicht macht! Außerdem habe er die Schüler Sportübertragungen anhören lassen, habe sich in der Lehrerkonferenz widerspenstig verhalten, habe seinen Stundenplan als schikanös kritisiert und habe irgendwelche Amtsschriften nicht gründlich genug geführt.

In seiner Erwiderung führt Vacarescu ein Beispiel an, das die Stimmung in Mureck in jenen kritischen Tagen beleuchtet:

Am 25. März 1977 kam ich mit zwei Minuten Verspätung in die 1b-SO-Klasse. Der Direktor wartete auf mich, und schreiend fragte er mich vor den Schülern, wann der Lehrer in der Klasse sein müsse. Ich blieb in der Klasse sprachlos. Ein 16jähriger Schüler sagte mir, er und seine Klassenkollegen wissen, was sich in der Schule abspielt. Ich bin zwei Minuten später gekommen, der Direktor hätte am 22. März zwei Unterrichtsstunden in der Klasse gehabt, er blieb aber nur drei Minuten, und die übrige Zeit — 97 Minuten — sind die Schüler allein geblieben.

Angemessen & ehrenhaft

Quod licet lovi, non licet bovi. Am 26. Juli 1977 kündigte der Landesschulrat den 64jährigen Vertragslehrer Dr. Joachim Vacarescu per Jahresende 1977, nach 22jähriger Dienstzeit, ein Jahr vor seiner Pensionierung. Juristisch gewitzt wurden den ursprünglichen „bürokratischen“ Kündigungsgründen noch national-disziplinäre hinzugefügt, die bei Gericht unbedingt einschlagen mußten. Vacarescu hätte Kollegen und Vorgesetzte beleidigt und außerdem „herabsetzende Bemerkungen über die österreichischen Staatsbürger und die Schule gemacht“. Solche waren laut Stadtschulrat: „Die Österreicher sind Feiglinge und faule Hunde“, „Die Steirer sind genauso falsch wie die Kärntner“, „Die Schule ist schlechter als die Karlau“ (Grazer Gefängnis). Gipfelpunkt: „Der Kläger grüße seinen Direktor nicht.“

Vacarescu ging vor das Arbeitsgericht und wurde am 22. Mai 1978 in erster Instanz abgewiesen (das Urteil zweiter Instanz ist Ende 1978 noch nicht zugestellt). Das Gericht fand, Vacarescus Ausdrucksweise lasse die „schuldige Achtung gegenüber seinem unmittelbaren Vorgesetzten“ vermissen, es konstatiert „eine gewisse Überheblichkeit des Klägers“, um zu schließen:

Diese negativen Pauschalurteile des Klägers über Österreicher und auch über die Schule, an der er zu unterrichten hatte, sind unverantwortlich. Durch diese Äußerungen könnte das Bild, das sich heranwachsende Staatsbürger von ihrem Vaterland und seinen Bewohnern machen, in unangemessener Weise negativ beeinflußt werden.

Was soll man sich für ein Bild von dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Arnold Dieber machen, der dieses verfaßt hat? Er beruft sich allerdings auf ein Gesetz, das auch nicht viel besser ist als das steirische Klima, in dem er es anwendet. Es ist das Vertragsbedienstetengesetz aus 1948, und dort heißt es im § 5 Abs. 1 Allgemeine Dienstpflichten:

Der Vertragsbedienstete ist verpflichtet, die ihm übertragenen Arbeiten und Verrichtungen fleißig und gewissenhaft nach bestem Wissen und Können zu vollziehen. Er hat seinen Vorgesetzten und Mitbediensteten mit Achtung zu begegnen, die dienstlichen Anordnungen der Vorgesetzten zu befolgen, sich sowohl im Dienste wie außerhalb des Dienstes seiner Stellung angemessen und ehrenhaft zu betragen. Er hat das Dienstgeheimnis, auch nach Ende des Dienstverhältnisses, treu zu bewahren, die Dienststunden genau einzuhalten, nötigenfalls seine Tätigkeit auch über die Dienststunden auszudehnen und vorübergehend außerhalb des ihm zugewiesenen Pflichtenkreises andere dienstliche Arbeiten auszuführen.

Versuche das mal einer ohne Wimpernzucken! In und außer Dienst angemessen und ehrenhaft betragen! Die Zuchtordnung im Kaiserstil soll ja mit dem neuen Beamtenrecht reformiert werden (siehe S. 40ff). Aber auch wenn nichts stehenbleibt als das Wort Pflicht — wer kann sich ausmalen, wie ein Grazer Richter das auslegen mag ...

Der biedere Direktor Max Tomka bringt den Casus auf eine abschließende Formel, auf die sich die Steirer mit den Kärntnern wahrscheinlich leicht einigen könnten:

Jetzt hamma wieda unsa Ruah, jetzt is kein Vacarescu mehr da. Alles, was hier in der letzten Zeit geschehen ist, war vollkommen richtig. Leider Gottes ans: Zwölf Jahre zu spät!

II. Ingenieure der Seele

Dieser Widerstreit zwischen den Mächten der Keuschheit und der Liebe — denn um einen solchen handle es sich —, wie gehe er aus? Er endige scheinbar mit dem Siege der Keuschheit. Furcht, Wohlanstand, züchtige Abscheu, zitterndes Reinheitsbedürfnis, sie unterdrückten die Liebe, hielten sie in Dunkelheit gefesselt ... Und welches sei denn nun die Gestalt und Maske, worin die nicht zugelassene und unterdrückte Liebe wiedererscheine? So fragte Dr. Krokowski und blickte die Reihen entlang ... Da sagte Dr. Krokowski: In Gestalt der Krankheit! Das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe.

Thomas Mann: Der Zauberberg

Krankheit kommt nicht vom Leib, sie kommt vom Kopf. Das Herz pocht vor Angst um die Zukunft: Infarkt. Wir keuchen unter der täglichen Mühsal entfremdeter Arbeit: Asthma. Wir grämen uns über unsere kaputten Beziehungen: Magengeschwüre. Die sozialen Leiden, die wir hinunterschlucken müssen, verwandeln sich in körperliche. Eine Medizin, die nur den physischen (somatischen) Defekt repariert, kann uns nicht helfen, weil sie uns wieder in das krankmachende Milieu entläßt; da kommen wir bald wieder: Drehtürmedizin.

Es gibt eine Richtung, welche die psychischen Faktoren mit einbezieht: die psychosomatische Medizin. Sie ist in Österreich noch fast unbekannt. Verglichen mit etwa der BRD sind wir da noch 10 oder 15 Jahre zurück. Gegenwärtig gibt es in ganz Österreich nur 16 „psychosomatische Betten“, und zwar in der Klinik von Professor Ringel in Wien (man könnte hinzufügen, daß in der Stadt Freuds erst seit 1972 ein Lehrstuhl für Tiefenpsychologie existiert — für Hans Strotzka; Sigmund Freud hatte es nie weiter gebracht als zum Titularordinarius).

Hinter Bäumen süßes Träumen:
Patiententurm der Rehabilitationsanstalt Hochegg, Niederösterreich

Psychosomatiker im Wald

Allerdings behaupten Insider der medizinischen Szene, daß es Mitte der 70er Jahre noch 60 bis 80 weitere psychosomatische Betten gegeben hätte, versteckt tief im niederösterreichischen Wald, hinter der buckligen Welt, neben dem Semmering, gleich nach Grimmenstein: im Rehabilitationszentrum Hochegg der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten. In der sanft geschwungenen Mittelgebirgslandschaft des Wechselgebiets sieht man gelegentlich ein, zwei Dutzend Gestalten mittleren Alters und beiderlei Geschlechts im Trainingsanzug gemächlich dahinwandern: Es sind Patienten aus Hochegg auf „Terrainkur“. Herzkranke lernen wieder gehen, Bronchitiker wieder atmen, Asthmatiker kriegen wieder Luft.

Diese intern Erkrankten kosten die Kasse am meisten. Die Bronchitiker sind am jüngsten, im wesentlichen zwischen 20 und 40, da kommen dann 20, 30, 40 Jahre Rente heraus! Es sind Menschen, die im Staub arbeiten müssen, auch pathologische Raucher, die husten gleich ein halbes Jahr hindurch, sammeln Krankenstände. Herzkranke und Asthmatiker sind im Schnitt 10 bis 20 Jahre älter und kosten etwas weniger. Die Privatangestelltenversicherung hat noch drei weitere Rehabilitationszentren, Hochegg aber ist das jüngste (Eröffnung am 29. September 1972) und das modernste. In Bad Aussee ist ein weiteres in Bau.

„Modern“ ist Hochegg wohl nicht in der Architektur; die eher konventionell-rechtwinkelig nach dem Schachtelprinzip angelegte Betonburg wirkt einfallslos, man hat bloß versucht, den beängstigenden Eindruck eines Spitals durch den anödenden eines Hotels II. Klasse zu ersetzen. Während man unten in der riesigen Eingangshalle mit japanischen Grastapeten und Kupferplatten auftrumpft, hat man im Personaltrakt gespart: es gibt dort 13 Quadratmeter große Zimmer, in denen das ganze Jahr hindurch Arbeitsmenschen wohnen müssen. Im Speisesaal war von Anfang an eine Hierarchie eingeführt: Die Ärzte hatten Bedienung, viel Platz, Blumen und Mineralwasser, das Personal hatte Selbstbedienung, Drängerei, keine Blumen und kein Mineralwasser. Daß man am Anfang für 240 Patienten nur sechs Duschen eingebaut hatte, gemahnt noch ein bißchen an den Geist der Franz-Josef-Ära: damals vergaß man in der Wiener Roßauer Kaserne die Klos ...

Das Moderne in Hochegg waren die dort angewandten neuen Methoden, über die physikalische und Bewegungstherapie hinaus: Entspannungstechniken, autogenes Training, Gesprächstherapie nach Rogers, themenzentrierte Interaktion, Gestalttherapie nach Perls, Gruppendynamik. Diese Methoden erfassen den ganzen Menschen, nicht nur seine Physis. Es ist doch klar: Wenn jemand alle sechs Monate einen Unfall baut, dann ist das kein Zufall, da ist mit Einschienen und Zugipsen nichts gemacht. Er sieht eben keine andere Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, um dem Streß zu entfliehen. Man muß auf seine Arbeitssituation eingehen, seine Familie. Ein Rehabilitationsarzt muß neben der medizinischen Versorgung des Symptoms auch Psychologie und Sozialhilfe (einschließlich Berufsberatung!) betreiben, er ist also nur zu einem Drittel Arzt im klassischen Sinn. Wenn jemand mit einem Tick zu ihm kommt, den er sich von der immer gleichen Arbeitsbewegung am Fließband geholt hat, muß der Arzt dem Patienten behilflich sein, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen.

Managerkrank! Ein Schlagwort der Nachkriegszeit, das inzwischen als Ideologie entlarvt wurde. Die Krankheit hat sich nämlich demokratisiert, die meisten Managerkranken sind Arbeiter. Der Arbeiter managt seinen Arbeitsplatz, die Hausfrau Wohnung und Familie, das Kind seine Schulaufgaben, und je mehr Streß da herrscht, um so mehr innere Erkrankungen gibt es.

Der potentielle Herzinfarktler mengt Leistungsbewußtsein mit Gewissenhaftigkeit bis zur Überforderung. Nach dem Infarkt traut er sich weder einen Spaziergang zu, noch Autofahren, noch Sex. Bei der Bewegung im Gelände, im Schwimmbad lernt der Patient seinen Körper wieder benützen, schafft sich einen neuen Erfahrungsspielraum. Diskutieren, Malen, freies Musikmachen in Gruppen lockert die psychophysische Starre auf, bringt neues Selbstbewußtsein.

Mittelgebirgslandschaft als Therapie:
Umgebung von Hochegg

Sex und ex

Warum ist dieses schöne und vielversprechende Modell einer Medizin im Geist von Ivan Illich seit 1976 wieder abgebaut worden, warum hat man den leitenden Arzt, der dieses Neue in Hochegg eingeführt hat, aufs Abstellgleis geschoben und fünf Sportlehrer rausgeschmissen? In einem Brief an den Chefarzt beklagte sich eine Patientin über die allgemeine Verschlechterung des therapeutischen Klimas in Hochegg in den letzten Jahren: „Eine freundliche Leitung in Richtung Selbstbestimmung der Patienten ist einem rigiden Bedürfnis nach bürokratischer Einteilung und Bestimmung gewichen, der Akzent hat sich generell auf Dominanz der mechanischen Apparatur zuungunsten der menschlichen Therapeutik und des Kontaktes verlagert.“

Wenn man die Antwort in den vorgeschobenen Entlassungsgründen, in den Aussagen vorm Arbeitsgericht oder in den Interviews der Chefs sucht, wird man nicht recht schlau: dichter Nebel. Ich möchte — scheinbar ganz extrem — mit einer Anekdote beginnen:

Die Oberschwester, 49, römisch-katholisch, alleinstehend, mit ihrer Schwester im Ort Pitten wohnhaft, übernachtete eines Tages auf ihrem Zimmer im Angestelltentrakt von Hochegg. Ein Stationsgehilfe, der das Zimmer daneben bewohnte, schnaxelte gerade seine Freundin, tirolerisch ausgedrückt. Es entspann sich folgendes:

OBERSCHWESTER (auf den Gang eilend, an die Nachbartür klopfend): Herr ... machen Sie sofort auf oder ich hole die Gendarmerie!

STATIONSGEHILFE (unterbricht, geht so, wie er ist, zur Tür): ?

OBERSCHWESTER: Bei Ihnen schreit seit einer Stunde ein Mädchen um Hilfe. Was machen Sie da?

STATIONSGEHILFE: Geschlechtsverkehr.

OBERSCHWESTER: Nein, ich habe deutlich gehört: Bitte Hilfe, bitte Hilfe!

STATIONSGEHILFE: Das stimmt nicht, bitte kommen S’ herein und reden S’ mit dem Mädchen.

OBERSCHWESTER: Nein, das mach ich nicht.

STATIONSGEHILFE (dreht sich um): Du ..., hast du um Hilfe gschrian?

DAS MÄDCHEN (lacht): Naa!

Die Folgen waren für den Stationsgehilfen weniger lustig: Er verlor sein Zimmer, muß jetzt jeden Tag sofort nach Dienstschluß das Gelände verlassen und bekam außerdem einen schlechteren Arbeitsplatz zugeteilt.

Wie ich die Geschichte gehört habe, ist mir die schön im Lokalkolorit empfundene Erzählung aus dem I. Band von Freuds Gesammelten Werken eingefallen, wo der junge Doktor Freud die stämmige jungfräuliche Sennerin Katharina in einem Schutzhaus in den Hohen Tauern stracks von ihren Anfällen beklemmender Atemnot befreit (befreit zu haben glaubt — damals ging Hysterieanalyse noch mit Schwung!), indem er aufdeckt, daß sie als Kind den Beischlaf ihrer Eltern durch die offene Tür beobachtet hatte. Die „Erinnerung traumatischer Gewalt“ wird mit jedem entsprechenden Sexualreiz stimuliert, solange das sexuelle Geschehen nicht ins Ich gehoben, also bewußt wird (ebenda, S. 194). An diesem Punkt krankt der österreichische Konservativismus nach wie vor.

Genau dort krankt es auch in Hochegg: Die Gruppengespräche endeten, so wird berichtet, wo das Sexuelle anfing. Das ist dann für die Heilung eine Schranke, wenn Wilhelm Reich recht hat, der sagt, daß Angstpanzer und Libidostauung nicht nur (laut Freud) Ursachen für Hysterie, sondern auch für somatische Krankheiten sind, bis hin zum Krebs.

Sorgt für Sauberkeit in Hochegg: Primararzt Dr. Walter Nissel
Bild: G. Mayer

Zufällig kann ich die Fehlerquelle orten. Der Primararzt von Hochegg, Dr. Walter Nissel, hat zusammen mit dem Jesuiten Alois Jäger eine Broschüre über Familienplanung [2] verfaßt (mit kirchlicher Druckerlaubnis), wo er die Frauen, die keinen Orgasmus kriegen, vertröstet: „Die liebende Frau wird sich dann an der Freude des Mannes erfreuen und Glück und Zufriedenheit im Einssein erfahren“ (S. 27). Weiß man heute nicht, daß die mangelnde Stimulation der Klitoris durch die üblichen Sexualpraktiken Ursache der meisten „Frauenleiden“ ist? Da gäb’s in Hochegg sicher genug aufzuklären. Aber nein, man verdrängt das Problem.

Nissel bekämpft den Volkstod

Hochegg-Primar Walter Nissel müht sich in seinem Familienplanungsbüchlein ab, den katholischen Ehefrauen die Pille — trotz Pauls VI. Pillenenzyklika — zu erlauben, falls sie Knaus-Ogino nicht schaffen. Voraussetzung ist freilich der Wurf von drei Kindern, sonst wäre das „ein ganz gewöhnliches Versagen aus Opferscheu“ (S. 16). Nissel:

Die günstigsten Bedingungen für die Erziehung der Kinder beginnen bei einer Familie mit drei bis vier Kindern: ... Es könnten unter bestimmten Voraussetzungen gesundheitlicher oder erzieherischer Art in einer Familie also auch sieben oder zehn und mehr Kinder wohl verantwortet werden (S. 18).

Theoretisch würden zwei Kinder zwar die Eltern ersetzen. Aber nicht alle Kinder erreichen das Erwachsenenalter, andere sind durch Krankheit an einer Eheschließung gehindert ... So ergibt sich für die einzelne Familie ... die Forderung nach wenigstens drei Kindern (S. 20).

... daß Mann und Frau nach kluger Erwägung im Vertrauen auf die Vorsehung die Verantwortung für die Kinder auf sich nehmen (S. 24).

Die Verwaltung weiß es von jedem

Nach außenhin ist man liberal, indem man Männlein & Weiblein unsepariert in den beiden sechsstöckigen Patiententürmen wohnen läßt. Ein aufgeregter Patientenbrief (von der Verwaltung abgestempelt am 3. April 1975): „Lassen Sie in den ‚neuralgischen Fällen‘ zwischen 22 und 24 Uhr die Zimmerfluchten und einzelne Zimmer kontrollieren — Sie werden wahrscheinlich eine erhebliche Zahl leer oder doppelt besetzt finden. Schauen Sie sich im Trakt II bei den 400er Nummern einmal etwas um!“ Bei derlei Gymnastik gab’s in Hochegg, wie man hört, sogar schon zwei tote Infarktler — aber das soll ja auch anderswo vorkommen ...

Das lebhafte Treiben läßt eine Nachhut von Frustrierten zurück, in die sich unser Briefschreiber — sichtlich in der Mentalität des unterlegenen Leistungssportlers — einreiht: „Die zweite Phase und Belastung entsteht für die Unbeteiligten, die unfreiwillig fallweise zum ‚Voujeur‘ werden — die Schalldämmung ist nicht so exakt, daß solche Ereignisse der Geschlechtsverbindungen nicht wahrnehmbar sind — aber auch visuell im Tagesablauf ist der Eindruck nicht zu übersehen, das hier der Partnertausch ein akzeptiertes Verhalten zu sein scheint.“ In diesem Notschrei trifft sich der frustrierte Kurgast mit Primararzt Nissel, der nämlich schrieb: „Auf dem Gebiet der Sexualität wird heute von vielen Seiten mit aller Macht Freiheit verlangt und dies nicht selten als Deckmantel für Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit verwendet“ (S. 45).

Was also tun? Unser Frustkurant schlägt Geschlechtertrennung bei der Unterbringung vor (hatte der Architekt solches im Sinn, als er die beiden Patiententürme durch ein Riesenhotelfoyer trennte?); als Ergänzung ein Lupanar, genannt „Gästehaus“, mit der „Möglichkeit, den Gatten zu ‚empfangen‘“; Kurzurlaub für Patienten, „damit nicht der Wald und die Autos zur Notunterkunft werden“. In der Praxis scheint die Forderung bereits insofern verwirklicht, als die Ehe- oder sonstigen Partner häufig in den Gasthäusern der Umgebung Zimmer mieten, wodurch der tertiäre Sektor des Gebiets einen erfreulichen Aufschwung nimmt.

Das Paradoxe der Situation ist unserem Gewährsmann nicht entgangen: „Es scheint mir nicht richtig, den Patienten gegenüber den eigenen Gatten asketisch abzuschirmen (womöglich aus Schonungsgründen) und auf der anderen Seite den Ehebruch stillschweigend zu sanktionieren.“ Wahr Wort! Wenn man nicht drüber redet, wird eine Art Leistungsdruck geschaffen. Männerüberschuß und Behinderungen bewirken dann ein überdurchschnittliches Frustrationspotential. Warum läßt die Leitung das also zu? Sie gewinnt dadurch ein Kontrollmittel! Indem man die Sexualität verdrängt, besetzt man sie mit Schuld und Angst: Exzedenten werden vom Primar gestellt, verhört und eventuell heimgeschickt (daß man „sich diese auffälligen Frauen zu einem Gespräch in die Kanzlei holt“, hatte unser anonymer Briefschreiber einseitigerweise gefordert). Primar Nissel verlangt, „sich nicht von spontanen Regungen der Triebe beherrschen zu lassen“ (S. 85 seiner Broschüre).

Auch die Angestellten können mit dieser Peitsche unter der Fuchtel gehalten werden. Die Verwaltung weiß von jedem, wann er von wem Besuch bekommt, und der Chefarzt hält es ihm bei Bedarf vor. Jeder Besuch muß theoretisch dem Verwalter gemeldet und von ihm genehmigt werden. In der Praxis wird davon nur in Konfliktfällen Gebrauch gemacht.

Die Verdrängung liefert den Schlüssel zum Funktionieren des konservativen Systems: Sex wird als Thema aus der Gesprächsgruppe abgeschafft, geht in den Untergrund (wird dadurch Strafanlaß). Indem aber die Gruppe der Ort ist, wo das gefährliche Thema Sex auftauchen könnte, wird diese selbst verdächtig, es muß also letztlich jede Gruppentherapie eingestellt werden. Die Personen, die solche „gefährlichen“ und „verdächtigen“ Dinge einführen und betreiben, sind anrüchig und müssen endlich verschwinden. Überhaupt müssen alle Reformen weg, die das gewohnte Bild einer medizinischen Anstalt stören.

Das Thema Sex ist ein Schlüssel zur Familie. Wenn Primar Nissel das von vornherein verdächtig macht und abwertet, indem er sagt, „daß dem Untergang hochentwickelter Kulturen durch eine Überbewertung des isolierten Lebensgenusses der Weg bereitet worden ist“ (S. 45), so schneidet er der Psychosomatik eine wesentliche Nabelschnur zur sozialen Realität ab. Analog dem Verdrängungsmodell Sex in der Anstalt/Sex in der Familie funktioniert das Affirmationsmodell Hierarchie in der Anstalt/Hierarchie im Betrieb, in welchem der Patient arbeitet. Ist jemand krank vor Unterdrückung, kann man das nicht heilen, wenn man nicht zugleich die Hierarchie in der Krankenanstalt auflockert. Tut man das aber, so kommt man notwendigerweise mit der sozialen Realität draußen in Konflikt. Die Hierarchen in der Anstalt versuchen daraufhin, alles Antiautoritäre wieder hinauszudrängen: Der zweite Nabelstrang zur gesellschaftlichen Realität wird unterbunden.

Nur nicht zu sehr auflockern!

Die Idee war, daß die Patienten in Hochegg eine neue Einstellung zu ihrer Arbeit kriegen sollten, die sie krank gemacht hat. Die Arbeit selbst ändert sich nicht (allenfalls geschieht Arbeitsplatzwechsel). Die Rebellion des eigenen Körpers wird beherrscht durch ein bewußtes Verhalten zur Arbeit, das entweder ein Akzeptieren ermöglicht oder eine Strategie der Überwindung von Widersprüchen an die Hand gibt. Da wird’s natürlich heikel, weil hier mündet’s in die Politik.

Politisierung durch Kassentherapie? Da hört sich für die Unternehmer der Spaß auf. Es kam vor, daß Chefs von Patienten in der Blechturmgasse anriefen und sagten: Hörn S’, der Herr sowieso war zwanzg Jahr bei uns im Betrieb, und jetzt wora apoa Wochn bei Ihna om und reißt dauernd die Goschn auf!

Die Lehrer, die in Hochegg waren, wußten sofort, worauf es hinauslief: auf antiautoritären Unterricht! Die Funktionäre der verstaatlichten Industrie sagten: Um Gottes willen, wenn so ein Betrieb bei uns einreißen würde — wo kämen wir da hin? Seufzend, in vornehm-näselndem Schönbrunnerdeutsch, [3] resümiert Chefarzt Dr. Erich Oswald in der Blechturmgasse: „Wissen Sie, in an aundern Land kann ma vielleicht die Schritte rascher machen. In Österreich kann man sie nicht. Wir sind ein konservatives Land und müssen uns erst — und ich nehme mich nicht davon aus, i mecht mi jetzt net da hochspün, net woa —, wir müssen die Schritte kleiner gehen. Wir müssen vorsichtiger sein und dann erreich ma vielleicht mehr.“

Man lud sogar Bosse, die sich beschwert hatten, nach Hochegg ein — was leicht ging, sind sie doch alle managerkrank. Einzelne kamen und lernten dort einen neuen Stil der Teamarbeit, den sie in ihrem Betrieb einführten — was letztlich sogar die Produktivität förderte, die Leute waren mehr an ihrer Arbeit interessiert usw. Also wirkt das partnerschaftliche Modell systemfördernd! Also war der Konflikt nur ein Zusammenstoß mit der überholten Betriebshierarchie in Österreich, die immer noch absolutistisch funktioniert.

Was war denn schon groß geschehen in Hochegg ? Es wurde ein bißchen gleichberechtigter Umgang mit den Patienten geprobt, einige Ärzte zogen die Mäntel aus, erklärten ihren Schutzbefohlenen ein wenig von dem Apparate- und Medizinzauber, den sie vorhatten, und man versuchte, die Kontakte durch gemeinsame kulturelle Aktivitäten zu erweitern, wobei Ärzte, Personal, Patienten und Besucher nicht mehr streng getrennt blieben: Die Wiener „Komödianten“ spielten, gingen anschließend mit den Angestellten in die Sauna. Die Filmakademie führte Filme vor. Einmal war ein Popkonzert, da sagte ein Patient: Laßts mir den Beethoven in Frieden!

Der bunte Durcheinanderwirbel war vielen nicht recht. Das Verwaltungspersonal, auch im weißen Mantel, fürchtete um seine abgehobene Mittelstellung, wenn die Ärzte sich auf die Patientenebene begaben. Wer hätte dann noch vor Empfangsschaltern und Leitstellenboards „Habt acht“ gestanden? Auch unter den Patienten gab es die Autoritätsfixierten, denen es schon auf die Nerven ging, daß die meisten gar nicht krank aussahen und die Dörfler sich über die „Gratisurlauber“ mokierten. Aus einem Patientenbrief an die Anstalt: „... gibt es hier eine Unzahl von Personen, die nicht hierher gehören und den Aufenthalt auf Kosten der Gemeinschaft ihre Auswüchse finanzieren lassen.“

Die Hierarchie läßt sich schon in der Kleidung der Hochegger erkennen: Arzt und Verwaltungsangestellter in Weiß, Schwester mit Häubchen, Sportlehrer und Patient im bunten Trainingsanzug, Arbeiter in einer schmutziggrün gefärbten Arbeitsuniform. Bei Vollbelag gibt’s 240 Patienten und fast genausoviel Personal: 120 aus dem medizinischen Bereich (davon 16 Ärzte, der Rest Schwestern und Therapeuten), knapp 100 aus dem administrativen Bereich (Verwaltungsangestellte, Stubenmädchen, Serviererinnen, Küchenpersonal, Hausarbeiter).

Die Brutanstalt, der Zauberberg

Wie funktioniert die Gruppendynamik, wenn mehr als 400 Menschen, meist auch in der Freizeit, auf 24 Hektar Wald und Wiese mit Zaun herum zusammengesperrt sind? Sexbrutanstalt, Hahnenkämpfe, Klassenkampf? Unvermeidlich entspann sich ein Machtgerangel zwischen konservativen und progressiven Gruppen um das Schicksal des Experiments, das Hochegg ja zweifellos darstellt. Die Auseinandersetzungen bewirkten, daß alle Gruppen sich in einen progressiven und einen konservativen Flügel spalteten. Bei den Ärzten dominierte zunächst das fortschrittliche Element in Gestalt des Dr. Ernst Heftner, der von allen als Motor der Neuerung anerkannt war. Die Sportlehrer, rund ein halbes Dutzend, verantwortlich für die Durchführung der Bewegungstherapie im Gelände, im Schwimmbad und im Turnsaal, galten als „Heftners Team“. Zum selben Lager zählten die medizinisch-technischen Assistentinnen und Fachkräfte, geschult im Umgang mit Röntgen- und sonstigen Apparaten, einige Masseure, Schreibkräfte aus der medizinischen Abteilung.

Anders die Krankenschwestern, die für den Umgang mit Menschen ausgebildet sind. In Hochegg gibt’s keine bettlägerigen Patienten, die Schwestern müssen also administrative oder technische Funktionen mit übernehmen, was sie verunsichert. Eine Krankenschwester, die Patienten auf einen Spaziergang ins Gelände begleiten soll, kommt sich deplaziert vor. Im übrigen sind Schwestern gewohnt, gläubig zum Arzt aufzublicken, sie bilden daher das konservative Potential, die „Massenbasis“ für den konservativen Ärzteflügel; dieser wird vom Primar Dr. Walter Nissel angeführt, welcher in seinem Eheberatungsbüchlein den Paaren empfiehlt, ihr Vertrauen nur einem Arzt zu schenken, über dessen „weltanschauliche Haltung sie hinreichend informiert sind“ (S. 16) und der darauf besteht, daß in Sexualdingen neben dem Arzt „auch die Stimme der Kirche zu hören ist“ (S. 112).

Zum konservativen Flügel gehört auch die Verwaltung, die im Fichtenwald von Hochegg noch einen eigenen Tafelwald mit Ver- und Gebotsschildern hochzieht. Die Verwaltungsangestellten spielen in dem Spiel nicht mit; es ist dem progressiven Flügel nicht gelungen, sie als Verbündete anzusprechen. Die ständig wechselnde Patientenschar enthielt Elemente beider Strömungen.

In der Architektur der Anlage kann man ebenfalls ein konservierend-hierarchisches Element erkennen. Die räumliche Trennung der Wohneinheiten für die verschiedenen Gruppen schafft Über- und Unterordnung. Am besten wohnen die Ärzte, in einem Flachbau und zwei dreigeschossigen Häusern. Der Primar will nicht, daß Personal zu den Ärzten auf Besuch kommt, Arbeiterkinder sollen auch nicht mit Ärztekindern in der Sandkiste vor dem Haus spielen, wo die Primarärzte wohnen ...

Arzt mit fortschrittlichen Ideen: Dr. Ernst Heftner
Bild: G. Mayer

Stockung, Feuerung

Dr. Ernst Heftner, 56, o.r.B., war seit Mai 1971 in Hochegg. Ursprünglich Narkosearzt, kam er über das Problem der Schmerzbehandlung zur Psychosomatik. Er drang zwar durch Weiterbildung in das Gebiet der Psychotherapie ein, blieb aber, nach der Meinung seiner Mitarbeiter, gruppendynamisch und politisch naiv. Seine Freunde meinen, daß er Gruppen, Funktionen und Verantwortungen nicht klar strukturiert hat, er überforderte oft Leute mit Aufgaben, die er ihnen übertrug, war in seinen Projekten nicht konsequent, und im täglichen Ablauf der Therapie kam es zu Fehlern und Stockungen.

Jeder Hochegg-Patient bekommt einen Leitplan (Zeitplan), eine Karte, wo der Arzt (der etwa 30 bis 40 Patienten betreut) die Therapien einträgt, die der Patient zu absolvieren hat, nebst den Medikamenten, der Diät usw. Eine nichtärztliche „Leitstelle“ besorgt die Zeiteinteilung. Durch ein Zuviel an Therapien kommt es zu Überlastungen. Das organisatorische Grundübel in Hochegg ist, daß es keinen Zeitplan gibt, der die Therapien aufeinander abstimmt und auch die Pausen einplant. Chefarzt Oswald weiß es: „Nehmen wir z.B. an, der geht also schwimmen, muaß nach dem Schwimmen raus, sich abtrocknen, ins Gwand hineinschmeißn und in die Terrainkur gehn ... Da könnte der Therapeut sagen: Des is also net angezeigt, weil des überfordert ihn. Die Verantwortung dafür liegt beim Arzt, beim leitenden Arzt.“ Wenn der Sportlehrer merkt, daß ein Patient nicht mehr mitkommt, ist der Schaden eigentlich schon eingetreten. Die Rückmeldung an den vorgesetzen Arzt schafft sofort einen hierarchischen Konflikt — der Arzt denkt sich: Muß ich mich von einem Turnlehrer ausrichten lassen? Die Sportlehrer waren die Meckerinstanz. Dort kristallisierten sich die Fehler des Systems.

Es kam zu einer Eskalation, die zum Rausschmiß von fünf Sportlehrern führte. Als Kurt Zanoll am 11. Oktober 1977 als erster gefeuert wurde und die Sache vor das Arbeitsgericht kam, führte die Pensionsversicherung als einen der Hauptgründe die Beschwerde eines Patienten an, „daß die medizinische Therapie in Frage gestellt sei, wenn die Sportlehrer ... den Patienten laufend lautstark mitteilen, sie verstünden die Aufgaben besser als die Ärzte“. Pflicht wird Fehler. Die Stimmung verschlechterte sich. Die Oberschwester will im Vorbeigehen am Gang gar gemurmelte Kraftworte des bulligen Tirolers gehört haben ...

Die Sportlehrer mußten also ausbaden, daß die ärztliche Leitung organisatorisch versagte. Chefarzt Oswald meint, das gehöre zum laufenden Betrieb, dazu hätte jeder Sportlehrer eine 15 Seiten lange Dienstanweisung: „Wenn es stimmen sollte, ist der Primararzt dafür verantwortlich, und es wäre Aufgabe jedes Therapeuten, es is ma Wurscht, von wem, darauf hinzuweisen: Bitte hier kollidieren zwei Dinge, die meiner Meinung noch nicht vereinboar san.“ Die Sportlehrer meldeten es, das wurde als Kritik ausgelegt, und sie kamen dafür zum Handkuß. Ein halbes Dutzend fescher junger Burschen unter 80 unbemannten Frauen! Die Sportler redeten zurück, während in den anderen Arbeitsgruppen die Pannen abgebogen wurden dort dominierten die Frauen, die gelernt haben, sich anzupassen.

Primararzt Nissel, von mir in seinem Büro in Hochegg auf seinen Gegensatz zu den Sportlehrern angesprochen, blickt mich mit flackernden, gletscherblauen Augen an und unterstreicht seine Worte mit fahrigen Bewegungen: „Die wollen ja nur eine Sporthochschule machen!“ Es würden keine Sportlehrer mehr eingestellt, er mache das jetzt mit Heilgymnasten und Heilmasseusen. Die sind wahrscheinlich braver. Zwei wären schon da, nächstes Jahr kämen noch drei. Ob das heiße, daß die restlichen drei Sportlehrer entlassen würden? Chefarzt Oswald in der Blechturmgasse winkt ab; für Hochegg gebe es gar kein ausgebildetes Personal, die Anstalt selbst muß einschulen: „Die (Patienten-)Gruppe muß so determiniert sein, daß der letzte noch grod in der Mittn mitkommt. Das heißt, das muß der Sportlehrer umlernen, des kennans oba an aundern aa lernen.“

Erfolgserlebnis für Schwerbehinderte:
Patienten klettern auf der Rax

Der 17. Zwerg von links

Ist der Konflikt mit den Sportlehrern nur ein Stellvertreterkonflikt ? Sollte hier gezeigt werden, daß man untergeordneten Chargen eben keine Verantwortung übertragen kann, weil das schief gehen „muß“?

Kurt Zanoll, der typische Tiroler mit dem harten Schädel, lebhaft, mit funkelnden Augen, findet, daß die Ärzte an den Unzukömmlichkeiten schuld sind. Die Patienten „san Stunden vor den Ordinationen gsessn, ham nix gfriastickt, und dann hamsas durch die Therapien ghetzt“. Als Sportlehrer hätte er zwei Jahre Ausbildung hinter sich und wüßte genau, was man einem Patienten zumuten dürfe und was nicht. Im Gegenteil, die Sportlehrer hätten die Leute eher eingebremst, als die einen Leistungswahn entwickelten.

Zanoll hat sich eifrig weitergebildet, fuhr wochenlang zur Schulung nach Deutschland, Jugoslawien ... Aus seinen Trainingswochen in der Rehabilitationsanstalt Ohlstadt bei Garmisch destillierte er ein Modell, wie man den Ablauf in Hochegg regeln könnte: Fixpunkte im Tagesprogramm, weniger Zersplitterung usw. Die Leitung ging nicht darauf ein.

Chefarzt Oswald: „Jeder Laie, und das konzediere ich, hat nun auch amoi an guaden Gedanken, warum nicht, ja — aber letzten Endes miassen ja doch die Fochleit, in dem Foi der Medizin, die Verauntwortung hobm, und die’s Gewerbe erlernt ham. Naja, wei sonst kennan Sie si jo aa an, wos was i, an Hüfsoabeita nehmen, der die Zeitung mocht, oder ii mar an, der die Medizin macht, ja? Also, nicht daß ich abstreite, daß jemand einen guten Gedanken bringen kann — aber nur an Gedanken, eine Idee. Und wenn aner a guader Vorgesetzter is und er hört, da is ein guter Gedanke, dann soll er’s aufnehmen, dann soll er’s auch verwerten — für des bin i. Daß es hier menschliche Schwächen gibt, des möcht i net obstreiten. Es gibt hoid Menschen, die nehmen’s nicht entgegen, aber das ist eine menschliche Schwäche, und das kann ich nicht dienstrechtlich verfolgen, i kaun eam hextens sogn: Geh bitte, hean S’ doch den amoi aun, aa waun es der 17. Zwerg von links is, aber er kann ja trotzdem eine gute Idee haben, ja?“ Es scheint, daß sich Chefarzt Oswald bei seinem Primar Nissel nicht recht durchsetzen kann, obwohl Nissel mit aufgehobenen Händen beteuert: „Ich bin ihm in jeder Beziehung untergeordnet!"

Überhaupt sind die Vorgänge auf der Kommandobrücke nicht sehr durchsichtig. Alle Chefposten sind, nach altem österreichischem Dualitätsprinzip, mit zwei Leuten besetzt. Oswald hat einen schwarzen Vize, Nissel einen roten, aber die spielen keine Rolle in unserem Stück. Die Ärzte in Hochegg bilden eine kuriose Auswahl. Wer wird Arzt in der nö. Einschicht? Ausgeflippte, die sonst nirgendwo mehr ankommen, oder Neuerer, die sonst nirgends durchkommen. Da hab ich kuriose Geschichten gehört, es würde aber, glaube ich, vom Problem ablenken, wenn man die Darstellung von dieser Seite her aufzöge. Die Meldungsschreiberei nach Wien offenbart ein wahres Schlangennest ... Im übrigen ist der anarchische Wahnsinn ja in jede Bürokratie eingebaut.

Heftner paßte in die Hierarchie von Hochegg nicht recht hinein; vor dem Arbeitsgericht erzählte er im vergangenen September: „Ich wurde als Facharzt für Anästhesie aufgenommen und wurde in weiterer Folge zum Leiter der Rehabilitation und medizinischen Administration bestellt. Diese Position ist versandet, ohne daß ich dieser Position enthoben worden wäre. Ich wurde zu Sitzungen nicht mehr zugezogen. Jetzt mache ich hauptsächlich Psychotherapie.“

Chefarzt Oswald meint dazu, das Konzept sei gut gewesen, „aber: nicht zugeschnitten auf eine einzelne Person, der Name ist Ihnen bekannt, also Doktor Heftner. Das heißt also nicht, Herr Redakteur, wenn der Oswald von der Sozialversicherung weggeht und als Chefarzt heit nimmer do is, jo daun bricht die gaunze Sozialversicherung zsamm — den Sotz mecht i net hean! Und ich möchte ihn auch nicht hören: Waun der Doktor Heftner weggeht, gibt’s ka psychosomatische Medizin.“ Andererseits ist Oswald aber sehr stolz auf Hochegg: „I woa jo dea, dea des Gaunze in die Szene gsetzt hot und des ausbodn kaun, doß die olle mitanaunda rafm, jo des hob i davon!“ Könnte es vielleicht sein, daß Spiritusrektor Oswald den Heftner deswegen nicht zum Primar von Hochegg gemacht hat, weil dann mehr Glanz auf den Untergebenen gefallen wäre, etwa beim Herumführen der Besucherdelegationen aus dem Ausland?

Die Sportlehrer und die Patienten hatten jedenfalls den Eindruck, daß Heftner der Chef von Hochegg sei, obwohl es immer Primarärzte gegeben hat. Mindestens war er de facto der dritte Primar und hatte als Personalchef und Koordinator der Arbeitsgruppen auch am meisten zu sagen. Er bekam es aber nie schriftlich. Anfang 1976 hat man Heftner der Personalverantwortung per Dienstanweisung enthoben, wenig später wurde einfach sein Taferl mit der Aufschrift „Leiter der Rehabilitation“ abmontiert. Heftner dazu (als Zeuge vor dem Arbeitsgericht): „Man ist von der Gruppenarbeit wieder zu einem autoritären Führungsstil zurückgekehrt.“ Wehrte er sich? Keine Spur: „Nach diesem Zeitpunkt habe ich mich bewußt herausgehalten, da die Änderung des Führungsstils an sich schon Konfliktsituationen in sich geborgen hatte.“ Die Große Gereiztheit war auf dem Zauberberg ausgebrochen.

Tafelwald in Hochegg, Fernsehkamera zur Überwachung des Eingangs:
Hierarchie wird sichtbar

Stellvertreterkrieg

Nach dem Rückzug des Helden kamen seine Knappen ins Schußfeld, die Sportiehrer. Über die Entlassungsgründe erfährt man von den Verantwortlichen nur Vages. Die Betreffenden hätten zuwenig gearbeitet, zu lange Pausen gehalten usw. Die Sportlehrer verteidigen sich glaubwürdig mit dem organisatorischen Chaos („Is jo nix einteilt worn!“). Kurt Zanoll wurde z.B. entlassen, als er seine Mittagspause überzog, um seine Freundin im Spital vor einer Operation zu besuchen. Dr. Heftner bestätigte ihm aber in einem Brief von Ende 1977, daß der wahre Entlassungsgrund tiefer geht: „Durch seinen vorbehaltlosen Einsatz für die Aufgaben der Bewegungstherapie war es im Rahmen der Umstellung von der Gruppenarbeit auf die zentral gelenkte autoritäre Führung zu Spannungen gekommen, die ihn seine Stellung gekostet haben.“ Zanoll ging zum Arbeitsgericht. Er nannte Zeugen. Vier von diesen, ebenfalls Sportlehrer, wurden wenig später, am 28. Mai 1978, ebenfalls gekündigt. Es war eine autoritäre Überreaktion. Sie waren eh schon brav & willig. Was tat der Betriebsrat? Er stimmte zu. Im Falle Zanoll sagte der Betriebsratsobmann im Juni 1978 vor dem Arbeitsgericht: „... hat es sich um eine fristlose Entlassung gehandelt, das geht den Betriebsrat nichts an.“ Basta! Dadurch versperrte er den Weg zum Einigungsamt. Vor dem Arbeitsgericht kann Zanoll nur mehr 80.000 Schilling erstreiten. Die vier Gekündigten klagten nicht, sie waren entmutigt bzw. hofften auf Wiedereinstellung durch ihr Wohlverhalten — was ihnen aber nicht viel genützt hat: Zanoll ist jetzt arbeitslos und lebt von einer Notstandsunterstützung. Ein anderer wurde Versicherungsvertreter. Ein weiterer ist Erzieher in Pottendorf. Der vierte will sich in Wien umschulen, er arbeitet momentan als Hilfspfleger. Berufe verloren, Familien gespalten. Nur einer kam als Bewegungstherapeut in Laas/Kärnten unter; Frau und Kind bleiben aber in Grimmenstein, er muß 300 km pendeln.

Der Betriebsrat, der auch im zweiten Entlassungsfall zugestimmt hatte („I hob Schweigepflicht!“), bekam im Herbst 1978 einen Denkzettel: Eine Namensliste kandidierte und errang zwei Mandate (statt 4:1 SPÖ/ÖAAB steht es jetzt 3:2, der ÖAAB ist ganz verschwunden).

Solidarität begann sich zu regen. Der Diplompfleger Wilhelm Wernbacher sammelte nach der Entlassung der vier in Hochegg Unterschiften für ihre Wiedereinstellung. Er bekam 20, davon vier Ärzte. Das geriet ihm selber zum Unheil. Nach dem Unfalltod seiner Frau hatte er nämlich für ein Kind von drei oder vier Jahren zu sorgen. Chefarzt Oswald: „Es war für ihn nicht möglich, in dieser, naja, etwas abgelegenen Gegend das Kind unterzubringen und gleichzeitig seinem Beruf nachzukommen ... Wir haben ihm gsogt: Wann er des net kann, muß er hoid oiso die Konsequenzen daraus ziehn.“ Konsequenzen woraus? Da differieren die Erinnerungen an das Gespräch. Oswald verstand die Kündigung als Konsequenz aus der Kindesunmöglichkeit in Hochegg, Wernbacher als Konsequenz aus dem Unterschriftensammeln. Oswald prophetisch: „I persönlich hob mit ihm gsprochen und hob ihm also gsogt: Herr Wernbacher, des wern S’ mit ihnan Kind do net auf gleich kommen.“ Etliche alleinstehende weibliche Bedienstete in Hochegg konnten und können es.

Kurz darauf erhält Wernbacher eine spätere Dienstzeit, aufgrund derer er sein Kind nicht mehr vom Kindergartenbus abholen kann, wenn es am Nachmittag zurückgebracht wird. Auf einmal türmte sich Hindernis auf Hindernis vor dem entnervten Pfleger auf, bis er schließlich per Ende Juli 1978 selber kündigte. Jetzt hofft er auf eine Lehrerstelle an der Pflegerschule der Gemeinde Wien.

Bienenzüchter & Feuerwehrmann

Die Solidarität zog Kreise. Im August 1978 kam es in der Gruppe „Kritische Medizin“ in Wien zu einer Diskussion, aus der ein „Solidaritätskomitee Hochegg“ [4] entsprang. Die Sache kam in die Medien (Radio/Musicbox, profil 27/1978), und zu der Solidaritätsveranstaltung im Gewerkschaftshaus in der Treitlstraße am 17. November 1978 erschienen immerhin 93 Menschen. Eine Solidaritätsadresse an die Angestelltenversicherung trägt bereits rund tausend Unterschriften.

Diese Aktivitäten sind den Etablierten natürlich höchst verdächtig. Primar Nissel, der Arzt mit der „weltanschaulichen Haltung“, raunt: „Des kummt von ganz bestimmter Seite, Sie wissen eh!“ Ein kommunistisches Komitee soll es da geben, der Dr. Vogt soll dahinterstecken usw. Chefarzt Oswald ist nicht ganz so ängstlich: „Vielleicht hot da Doktor Heftner versucht, in wenigen Johren das aufzuholen, was wir seit mehreren Jahrzehnten an Mangel haben, und vielleicht hat er dazu an foischen Weg gewählt. Und wenn sich hier Gruppen und Grüppchen dafür engagieren, is dos zwoa von ihrem Standpunkt legitim und nicht amoi so schlecht, nur die Tendenz is net richtig, weil die Tendenz zerstört den Aufbau der psychosomatischen Medizin im gesamten. Weil jeder wird sogn: Um Gottes wün, hobts gheat, wos en Oswald passiert is? Mochts des jo net, sonst hobts die olle — Etikett haßt immer ‚Die Verrucktn‘ am Hois.“

Der Kommunismusvorwurf ist freilich kurios, wenn man weiß, daß z.B. Zanoll 1975 auf dem 3. Platz der ÖAAB-Liste für den Betriebsrat kandidiert hat (ohne allerdings bei der ÖVP zu sein); ein anderer der Entlassenen ist Bienenzüchter und Feuerwehrmann, wieder ein anderer spielt Gitarre bei der lokalen Band „Sirs“; ein weiterer geht gerne in die Berge und ist gar stolzer Reserveoffizier des Bundesheeres. Der Primar seinerseits hatte keine Hemmung, seine weltanschauliche Haltung nach außen zu tragen, indem er bei der letzten Präsidentenwahl Untergebene zu überreden versuchte, den ÖVP-Kandidaten Lugger zu wählen.

Die kulturellen Aktivitäten in Hochegg konzentrieren sich in der letzten Zeit auf den Ternitzer Stadtchor, der Volkslieder zum besten gibt und daraufhin vom Verwalter zu einem Umtrunk eingeladen wird. Überhaupt Alkohol. Je weniger psychologische Betreuung stattfindet, um so mehr halten sich die Patienten an die Gasthäuser der Umgebung. Trinken ist noch immer die verbreitetste psychosomatische Behandlungsmethode in Österreich. Schon 1976 wurde die Ausgehdauer von 22 auf 20 Uhr verkürzt, was zur Folge hatte, daß die Ausflügler dasselbe Quantum schneller tranken. Das wird natürlich auch wieder zum Disziplinierungsinstrument: Primar Nissel schmeißt Säufer raus.

„Strengstes Rauchverbot!“
Die Heizanlage von Hochegg zieht Rauchschwaden über die Patiententürme
Verbotstafel am Eingang des Heizhauses

Psyche — brauch ma des?

Was wird das weitere Schicksal der Psychosomatik in Hochegg sein? Gegenwärtig wird ein neuer Pavillon gebaut, das „Freizeitzentrum“, in dem sich alles, was gut und schön ist, abspielen soll: Bewegung, Kreativität, Psychotherapie in runden Gruppenräumen ... Es sollte die Krönung von Heftners Konzept werden, er hat es auch architektonisch mitgeplant. Kommen da jetzt bloß ein paar Tischtennistische rein? Heftner wird jetzt schon „patientenmäßig ausgetrocknet“, wie es ein Hochegger ausdrückt. Chefarzt Oswald sagt: „Man soll die Dinge nicht auf eine Person oder auf mehrere Personen sozusogn zuspitzen und sogn: Nur die san die Stars oller Unternehmen, und wenn’s die nicht mehr gibt, bricht alles zusammen.“ Ist das der Abgesang für Heftner?

Heftner selbst hat Angst: „Der Chefarzt erklärt mir dauernd, daß ich die Medien informiere und daß das ein Entlassungsgrund wäre. I kann ja nur die Wahrheit sagen — und das ist furchtbar schwer jetzt.“ Also habe ich darauf verzichtet, ihn zu befragen. Beim Personal hörte ich mehrmals Äußerungen über Heftner wie: „I man, ma kann ihn sicher koitstön, aber vü mehr kann ma eh nimma mochn, kummt mir vua. Und i man, des is jo des, wos uns net gaunz kloa is: Vua wos hot dea Aungst?“

Chefarzt Oswald sucht, sagt er, mit einem vom Ringel-Institut ausgearbeiteten Behandlungskonzept einen Weg, „daß beide Teile zueinander finden“. Wer Reformwerke als Personalmüllhalden betreibt, kann sie wohl nicht sehr ernst meinen. Oswald stöhnt: „I muaß an Konsens finden.“ Liebenswert österreichisch — nur: Was bleibt bei einem Konsens mit Nissels „weltanschaulicher Haltung“ von der psychosomatischen Medizin übrig? Deswegen konnte ich Oswalds Appell „eher leisetreten!“ (er gebrauchte wirklich das Wort) auch nicht befolgen. Die Chefetage wird sich endlich dafür entscheiden müssen, die Reform durchzusetzen, nicht immer nur das Fußvolk opfern. Man sollte ihr dabei helfen.

Hier könnte ich an sich aufhören, das ist ein schöner agitatorischer Schluß, der so richtig reingeht: Linke feuern sozialdemokratische Reformatoren an. Im Grunde aber glaube ich, das ist zuwenig. Es liegt an der Institution, nicht an Personen. Würde man die drei Protagonisten des Hochegger Dramas — Oswald, Nittel und Heftner — auswechseln, dann käme es in wenigen Jahren wieder zum gleichen Konflikt: Die Überschneidungen, die Kompetenzstreitereien, Hierarchiedenken sind im System eingebaut. Das verhindert Spontaneität, Offenheit, Solidarität und erzeugt Angst.

Die einzige Lösung scheint mir in der Selbstverwaltung solcher Institute zu liegen — unter Mitbestimmung aller Beteiligten, besonders der Patienten (die hatten schon bisher die besten Einfälle, gibt man in Hochegg zu). Der Kapitalismus wird die Medizininstitutionen bald nicht mehr zahlen können, Ivan Ilichs Triumph zeichnet sich bereits ab. Der Staat selbst wird bald auf gemäßigte Mitbestimmungsmodelle à la Herdecke einschwenken müssen.

III. Schweinerei in Favoriten [*]

1. Akt: Eine Sexstunde

Es ist 8 Uhr, Freitag, 24. November 1978, Deutschstunde in einer Klasse der 6. Schulstufe (12 Jahre) in der Integrierten Gesamtschule Wien 10, Wendstattgasse. Der Lehrer Günther Biechl, Jahrgang 1953 aus Bischofshofen im Salzburgischen, Absolvent der Wiener Pädagogischen Akademie im Juni 1978, las den Schülern und Schülerinnen folgenden Text aus einem Sexualkundelehrbuch vor:

Eckehard Kunz:

Was hat Frau Pohl im Zimmer ihres Sohnes Klaus gesehen?

Herr und Frau Pohl arbeiten beide in der Buchhaltung der Firma Wittling & Co. Sie haben dort beide ihren Beruf gelernt und sich in der Firma hochgearbeitet. Wegen eines Ausfalls ihrer Buchhaltungsmaschine bekommen sie montags zwei Stunden eher frei, die sie an einem anderen Tag nacharbeiten müssen.

Nach Dienstschluß gießt Frau Pohl noch die Blumen im Büro. Dann wäscht sie sich noch einmal die Hände. Sie beeilt sich, denn ihr Mann wartet schon unten im Fabrikhof auf sie.

Familie Pohl wohnt in dem nahen siebenstöckigen betriebseigenen Mietshaus. Sie gehen zu Fuß nach Hause. Unterwegs unterhalten sie sich über ihren vierzehnjährigen Sohn Klaus. Sie stellen fest, daß er in der letzten Zeit in der Schule nachgelassen hat. „Überhaupt ist er ganz anders geworden“, sagt Frau Pohl. Darauf Herr Pohl: „Naja, er ist jetzt eben in der Pubertät.“

Beim Aufschließen ihrer Vierzimmerwohnung hören sie leise Musik. Im Korridor entdecken sie an der Garderobe eine Jeansjacke, die nicht ihrem Sohn gehört. Sie könnte zu einem Jungen oder Mädchen passen. Frau Pohl stürmt in das Zimmer ihres Sohnes, stößt einen Schrei aus und kommt sofort zurück in den Korridor. Bleich und verstört ruft sie: „Schweinerei!“

Herr Pohl nimmt sie in die Arme und fragt beunruhigt: „Was ist denn los?“

Was hat Frau Pohl im Zimmer ihres Sohnes Klaus gesehen? [5]

2. Akt: Protokoll

Nach Lesung und Durchbesprechung des Textes in Arbeitsgruppen entspinnt sich folgende Diskussion: [6]

EINE SCHÜLERIN: Bei Klaus sitzt ein Mädchen im Bett, das nur einen Slip anhat. Klaus duscht sich gerade. Als die Mutter hereinkommt, schämen sich beide sehr.

ZWISCHENRUFE: Brauch ich mich doch nicht zu schämen! Spea i afoch des Zimma zua ...

EIN SCHÜLER: Klaus und seine Freundin bumsten [7] gerade.

Lachen

EINE SCHÜLERIN: Klaus und seine Freundin küßten sich.

EIN SCHÜLER (berichtet Vermutungen aus seiner Arbeitsgruppe): Klaus liegt mit seiner Oma nackt im Bett ...

ZWISCHENRUFE: So a Bledsinn! Tua hoid gscheit ...

DER SCHÜLER: Aber das haben der K. und der S. so gesagt! — Es ist ein langhaariger Bub beim Klaus im Zimmer. Die Eltern wollen nicht, daß Klaus mit ihm zusammen ist. Sie machen zusammen Aufgaben. Dabei spielen sie laute Musik, die Hefte liegen herum, das Zimmer ist unaufgeräumt ...

EIN SCHÜLER: Ich wollte noch sagen, daß Klaus und Beppi, seine Freundin, nackt gewesen sind und auf dem Boden herumgekugelt sind und eben gerade Geschlechtsverkehr gemacht haben, und daß eben die Mutter von Klaus erschrocken ist und geschrien hat.

LEHRER BIECHL: Es haben also die Mädchen der ersten Gruppe gefunden, daß ein Mädchen bei Klaus im Bett sitzt, welches bloß einen Slip anhat, und Klaus sich gerade duscht, und die Mutter kommt herein, sieht das, wird bleich und schreit „Schweinerei“!

EIN SCHÜLER: Warum ist das eine Schweinerei, es hat doch jeder eine Freundin?

EINE SCHÜLERIN: Naja, aber sie hat halt nur einen Slip angehabt ...

EIN SCHÜLER: Aber das machen doch die Großen auch so. Wenn sie eine Freundin haben, ziehen sie sich doch auch aus beim Bumsen!

Lachen

EINE SCHÜLERIN: Wenn die Eltern aber das so wollen, daß er das nicht macht!

EIN SCHÜLER: Aber die Eltern ...

EIN SCHÜLER (er ist der Diskussionsleiter): Du sollst nicht einfach dazwischenschrein, sondern warten, bis ich dich aufrufe.

DER SCHÜLER: Ja also, die Eltern — die haben doch auch alle so angefangen.

LEHRER BIECHL: Wenn ihr die Eltern wärt, wie hättet ihr denn darauf reagiert?

EIN SCHÜLER: Einfach nicht beachten, zuerst halt. Später dann hätt ich, äh, hätt ich mit ihnen geredet. Daß das halt noch nicht sein sollt und so. Genau aufgeklärt hätt ich sie. Aber erst hinterher, am nächsten Tag oder so.

EIN SCHÜLER: Machts weiter! (Lachen) Machts weiter, hätt i gsagt; laßts euch nicht aufhalten. (Lachen)

EINE SCHÜLERIN: Die beiden hätten den Eltern vorher etwas sagen sollen.

EIN SCHÜLER: Aber die beiden haben doch gar nichts getan! Halt ausgezogen war das Mädchen. Sie können ja auch gespielt haben, irgendwas. Da hätt die Mutter ja vorher fragen können, was sie denn da tun.

EIN SCHÜLER: Aber wenn das so ist, wie es bei R. ist, daß die beiden gebumst haben, dann ist das schon richtig, wenn die Mutter schreit, sonst kommt da ja alle fünf Wochen eine!

Lachen

LEHRER BIECHL: Meinst du, daß sie dann öfter bumsen würden, wenn die Mutter sich nicht aufregt?

ZWISCHENRUFE: Is ja eh leinwand! Tat i aa ...

DER SCHÜLER: Na klar! (Lachen) Und da könnte das doch alle fünf Wochen eine andere sein.

EIN SCHÜLER: Jo, bei dia vielleicht!

Lachen

DER SCHÜLER: Na, und dann kriagts no an Gschroppm.

EIN SCHÜLER: Donn nimm i hoid a Presavadiv.

EIN SCHÜLER: Jo, an Olla!

EINE SCHÜLERIN: An Olla?

LEHRER BIECHL: Ja, das ist dasselbe wie ein Präservativ, eine spezielle Firma halt. Man kann das Präservativ, ein dünner Gummischutz, über das Glied ziehen, dann kann der Samen nicht in die Scheide. Das ist eines der möglichen Empfängnisverhütungsmittel. Welche gibt es da noch?

EIN SCHÜLER: Die Pille!

EINE SCHÜLERIN: Man kann auch abtreiben.

LEHRER BIECHL: Ja, wenn es wirklich erforderlich scheint. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, z.B. das Errechnen der Tage, an denen das Ei nicht befruchtungsfähig ist, oder so eine kleine Spirale, die die Frau in ihre Gebärmutter eingelegt bekommt und die dann eine Befruchtung verhindert.

EIN SCHÜLER: Ja gut, aber sie hat auch, die Mutter hat auch Schweinerei geschrien, wie sie den Langhaarigen im Zimmer gesehen hat!

LEHRER BIECHL: Der eine findet halt, daß das eine Schweinerei ist, dem andern ist das wieder egal. Das ist eben von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe verschieden.

EIN SCHÜLER: Es gibt ja oft auch alte Leute, die sich scho aufquagln, wenn zwei auf der Straße miteinander schmusen.

EIN SCHÜLER: Naja gut, die zwei Buben können ja auch schwul gewesen sein.

Lachen

ZWISCHENRUFE: Jo wia soi denn des gehn?

DER SCHÜLER: Jo oaschfickn, du Dodl!

Aufregung

LEHRER BIECHL: Klar, das gibt es auch, daß ein Bursch einem anderen sein Glied in den Hintern hineinsteckt und sie so ihren Geschlechtsverkehr ausüben. Du hast aber selbst gesagt: „... wie das normal Bub und Mädchen tun.“ Normal ist das, was üblich ist, was die meisten tun, was man tut oder tun soll. Schwulsein gehört sich eben nicht (die meisten wollen das scheinbar nicht). Das würde also sehr wohl erklären, warum die Mutter so reagiert.

EIN SCHÜLER: Aber wir haben doch gar nicht gesagt, daß sie so etwas tun, sie machen nur die Aufgabe zusammen.

EINE SCHÜLERIN: Dann will eben die Mutter nicht, daß ihr Sohn mit ihm die Aufgaben macht. Er soll sie allein machen.

EINE SCHÜLERIN: Oder auch der Klaus ist einmal von der Mutter vom anderen rausgeschmissen worden.

EIN SCHÜLER: Ja, und wenn sie wirklich Homos sind, hätte ich was dagegen.

LEHRER BIECHL: Wie würdest du das überprüfen? Aufpassen, ob sie sich angreifen, berühren? Wäre dir das Beweis genug? Oder warten, bis sie miteinander ins Bett gingen? Wäre das ein Beweis ? Oder würdest du sie gleich sicherheitshalber auseinanderbringen und den Freund rausschmeißen?

EIN SCHÜLER: Herr Biechl, Frage an Sie: Würden Sie ihn rauschmeißen?

LEHRER BIECHL: Wenn ich meinen Sohn mit einem Freund in seinem Zimmer antreffe, und ich kenne diesen Freund noch nicht, würde ich ihn um seinen Namen fragen, was sie denn da so machten, und würde sie weiterhin in Ruh lassen.

DER SCHÜLER: Wenn sie aber miteinander ins Bett gehen?

LEHRER BIECHL: Wenn sie miteinander ins Bett gehen, wenn es ihnen Spaß macht, dann sollen sie das auch. Sicher haben schon viele von euch lustige Dinge erlebt, wenn sie mit einem Freund oder einer Freundin in einem Bett gelegen sind.

Stille in der Klasse, betroffene Gesichter, Nachdenken.

LEHRER BIECHL: Viele Eltern würden das vielleicht nicht wollen, es gibt eben auch solche. Umgekehrt würde ich aber auch nie zwei dazu zwingen, miteinander ein Bett zu teilen. Wem es Spaß macht, der soll, die andern eben nicht. Ich seh schon, F., du bist mit dem nicht zufrieden. Aber „Schweinerei“ ist eben nicht für jeden dasselbe. E. hat gefunden, daß er nicht findet, daß Küssen auf offener Straße eine Schweinerei wäre, obwohl etliche Leute das sagen. Etliche von euch haben dann gemeint, daß es keine Schweinerei wäre, wenn ein Mädchen und ein Bub miteinander bumsen. Dennoch habt ihr auch gesagt, daß es Erwachsene gibt, die das nicht wollen, die eben „Schweinerei“ schreien, wenn sie das sehen. Sie möchten gern, daß die das geheim, unentdeckt, im Finstern, im Verborgenen tun. Naja, und ich für meinen Teil finde eben auch nichts daran, wenn zwei Buben zueinander nett sind und sich nicht immer prügeln. Sexualität ist bei manchen Leuten vielleicht eine Schweinerei schlechthin, bei anderen wieder hat sie mit Schweinerei nichts zu tun. Schließlich hat ja auch eine eurer Arbeitsgruppen mit Schweinerei nichts Sexuelles verbunden, sondern eben Unordnung im Zimmer oder einen unerwünschten Freund, der zu Besuch da ist.

Einige wollen noch weiterreden, doch die Zeit ist vorbei. Daher schlage ich vor, daß wir bei Gelegenheit darüber weiterreden. Es soll halt, wer will, auf einem Zettel die Geschichte aufschreiben, die er (sie) in seiner Arbeitsgruppe herausgefunden hat, und ergänzen, was die Eltern daraufhin unternehmen.

EINE SCHÜLERIN (nach der Stunde zum Lehrer): Das war heute eine schöne Stunde!

3. Akt: Versetzung

Am darauffolgenden Montag wird der Lehrer Biechl in den Stadtschulrat befohlen, wo man ihm kurzerhand seine Versetzung an die Hauptschule Kempelengasse in Wien 10 mitteilt. Der Landesschulinspektor meint, der Vater eines Mädchens hätte im Stadtschulrat angerufen und sich beschwert: Seine Tochter sei noch nicht so weit. Es gebe eh schon, deutet der Landesschulinspektor Biechl gegenüber an, einen Kampf gegen das Experiment „Integrierte Gesamtschule“, und da wäre es besser, wenn jedes Aufsehen vermieden würde und Biechl in die Hauptschule ginge. Über das Vorgefallene solle er schweigen, auch seinen Kollegen gegenüber (im Parlament war gerade Budgetdebatte; man hatte Angst, die ÖVP-Abgeordneten könnten den Fall zu einem Angriff auf die Schulreform benützen).

Der Lehrer Biechl legt schriftlich Berufung gegen seine Versetzung ein. Als er Anfang Dezember seine neue Stelle in der Hauptschule antritt, warnt ihn der Direktor: Wenn er neue Wege einschlagen wolle, müsse er das in der Konferenz vorbringen, damit man vorher darüber reden könne.

4. Akt: Auskunft

Die involvierten Vorgesetzten des Lehrers Biechl verweigerten auf höhere Weisung jede Auskunft: Direktor Rottenberg, Bezirkschulinspektor Prosi, Landesschulinspektor Sretenovic. Sie verweisen mich an den Pressesprecher des Stadtschulrats, Direktor Andreas, mit dem ich am 5. Dezember sprach — er wiederum behauptete, nicht konkret informiert zu sein. So bleibt uns für die Details nur die Version des geopferten Lehrers.

Biechl müsse die Versetzung — da sie mit finanziellen Nachteilen verbunden ist — doch als Strafe empfinden? Andreas: „Des kann natürlich sein, daß er jetzt einen Verlust hat — aber dafür wird er auch weitaus weniger Arbeit haben, weil dort (in der Gesamtschule) die Arbeit ja viel qualifizierter und schwieriger is.“

Warum man ihn versetzt hat? „Naja, weil er den Unterricht in einer, sagn mer, naja, in einer etwas sehr ungeschickten Weise geführt hat, er is ja Anfänger — bitte nichts gegen Anfänger, es gibt also sehr tüchtige Anfänger, und es liegt auch gegen ihn sonst gar nix vor, aber er hat den Sexualkundeunterricht also in einer Form vorgenommen, wie er also nicht ganz zweckmäßig erschien.“

Was denn da unzweckmäßig gewesen sei? „Es kann also ein Unterricht auch einmal irgendwie in Bahnen geraten, wo er des also nicht, sagen wir — es wurde nicht sehr vom Positiven aufgezogen, das ganze Thema, sondern es is ihm irgendwie sehr ins Negative geraten.“

Darf man also keine Sexualausdrücke verwenden? (Ein Vater hatte sich beschwert, warum seine Tochter sich Ausdrücke wie bumsen und ficken anhören müsse.) „Ja sicher, im Gegenteil, da darf i Ihna eines sagen, daß der Stadtschulrat sogar a Interesse daran hat. Wir sind an sich sehr froh darüber, wenn Sexualkundeunterricht auch von jungen Lehrern betrieben wird, nur soll es also mehr vom Positiven her bezogen sein, nicht? Es muß a gewisse Qualität drinnen sein.“

Und was wäre positiv, was negativ? „Was weiß ich, wenn a Stunde den Inhalt, weiß ich, ‚Schweinerei‘ oder was hat, dann is des also net sehr positiv aufgezogen, etwa nicht?“

Wie der Lehrer solche Konflikte vermeiden könne? „Er muß die Eltern vorher über das Ausmaß und über das Thema informieren.“

Gut, aber wie? „In der Regel is ein Elternabend, der is alljährlich, am Anfang des Jahres.“

So steht’s auch in einem Erlaß des Unterrichtsministeriums. Aber wie soll der Lehrer alles zu Anfang des Jahres schon wissen? Dazu sagte mir Dr. Sommergruber, im Stadtschulrat Referent für die Lehrerarbeitsgemeinschaften über Sexualkunde: „Schaun Sie, da haben wir doch die Möglichkeit, daß wir Klassensprechabende machen. Die hat er ja jederzeit.“

Ein solcher Erlaß ist natürlich ein offenes Messer, in das der Lehrer zwangsläufig hineinrennen muß: Wenn sich ein Elternteil beschwert, hat der Lehrer halt nicht ausreichend informiert, nicht den Konsens gesucht, wie es der Stadtschulratspräsident Schnell verlangt. Wer keine Scherereien will, wird also von den Bienen reden ...

Natürlich hat der Lehrer absolute Freiheit im Rahmen der Vorschriften. Sommergruber: „Der Lehrer ist an sich autonom, sobald er in der Klasse steht — methodisch und didaktisch! Aber es gibt halt immer mehr Vorschriften, als man befolgen kann ...

5. Akt: Reflexion

In der „Integrierten Gesamtschule“ werden die Klassen in den Hauptfächern Englisch, Deutsch, Mathematik in drei Leistungsgruppen aufgespaälten: I. I. III. Die beste Gruppe soll der Mittelschule, dem früheren Gymnasium (jetzt „Allgemeinbildende höhere Schule“ genannt) entsprechen, so daß der erfolgreiche Schüler nach Absolvierung der Gesamtschule ohne weiteres in die Obermittelschule eintreten kann. Die Idee dieses Schulversuchs ist, Hauptschüler an Gymnasiasten „heranzuführen“ — durch Anhebung der Gesamtleistung der Hauptschüler sollen mehr Chancen geschaffen werden. Der fortschrittliche Inhalt der Schulreform wird nicht durchgeführt. Der Selektionsdruck steigt, eine kleine Minderheit von Hauptschülern wird in der Gesamtschule zu Akademikern hochgepeitscht, auf Kosten der Mehrheit, die minder qualifiziert zurückbleibt.

Das blieb vom sozialdemokratischen Reformziel übrig, daß alle Schüler im Pflichtschulalter denselben Schultyp besuchen sollen. Anstelle eines Tutorensystems, wo die Besseren den Schlechteren helfen, tritt ein gnadenloser Konkurrenzkampf der Leistungsgruppen, aus denen man schon während des Jahres „absinken“ kann, wenn man bei den „Tests“ versagt. Für Gefährdete gibt es dann „Stützkurse“. Lehrer Biechl hielt z.B. einen solchen an dem Tag, als man ihm seine Versetzung mitteilte zwischen 7 und 8 Uhr früh! So zeitig mußte ich nie in die Schule gehen ...

Die Gesamtschule ist eine Aufstiegsmaschine für Arbeiterkinder in den Mittelstand. Es gibt in Wien nur eine Gesamtschule, an der auch Mittelschullehrer unterrichten (sie kriegen für die gleiche Arbeit mehr bezahlt als die Hauptschullehrer). Die „Professoren“ wollen den Schultyp nicht, und die Eltern aus der Mittelschicht schicken ihre Kinder eh in die AHS, nur wenn sie ein Kind für zu schwach halten, kommt’s in die Gesamtschule.

Der alte Lueger-Mittelstand, in Wien durch die ÖVP vertreten, sieht sich durch Gesamtschulaufsteiger in seinen ständischen Privilegien bedroht und giftet gegen die Gesamtschule. Die SP fürchtet um Wechselwähler aus der Mittelschicht und steigt auch für die ermäßigte (technokratische) Leistungsreformvariante nicht mehr auf die Barrikaden. Schon die Erinnerung an Reformruinen ist ihr peinlich. An den Reizstellen der Moderne im Unterricht (Sex, Politik, Zeitgeschichte) werden nur mehr Rückzugsgefechte geführt.

6. Akt: Obszöne Politik

Dr. Sommergruber: „Wir befinden uns ja derzeit in derselben Situation bei der politischen Bildung, wo jetzt auch der Erlaß herausgekommen ist. Und wir sind genau in derselben Situation wie damals zu Beginn, als der Sexualerziehungserlaß kam. Nämlich: Die Lehrer ham eine gewisse Scheu, an die Dinge heranzugehn. Früher war’s doch so: Die Eltern ham gewartet, daß der Lehrer aufklärt, und der Lehrer hat gewartet, daß die Eltern zhaus die Kinder aufklärn. Verstehen Sie, ma schiebt gern den Schwarzen Peter dem andern zu, nicht? Des is a heikle Gschicht, die gaunze Sexualerziehung, dessen bin i ma kloa.“

7. Akt: Rückzug

Der Lehrer Biechl fühlt sich an seinem neuen Arbeitsplatz zunehmend unwohl, weil beobachtet. Direktor Schimek übergibt Biechl zum Einstand ein „Lehrerhandbuch“ (Notizbuch zum Eintragen von Noten) mit sechs Geboten, die er ihm eigenhändig hineinschrieb. Die letzten beiden lauten:

5. Schwerpunkte: Erziehung zu Höflichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung, vernünftige Umgangssprache.
6. Schrift — „Rechtschreibgewissen“.

Was das ist? Direktor Schimek kommt z.B. in die Klasse, liest das Wort „glotzen“ an der Tafel; er weist Biechl darauf hin, daß man doch besser „sehen“ sage. Biechl verliert die Nerven und kündigt dem Wiener Stadtschulrat von sich aus per 20. Dezember 1978.

IV. Ärmel geschont

1 Schritt zurück, 2 Schritte vor im Beamtendienstrecht

... in einer durchaus diskreten Weise

Ich habe mich schon oft gewundert, warum man den Ausschluß der Radikalen aus dem öffentlichen Dienst mit Paragraphen bewerkstelligen muß und habe das immer für eine typisch deutsche Übertreibung gehalten. In Österreich macht man das dezent, ganz informell — und es hat auch geklappt. Sektionschef Ludwig Adamovich, Leiter des Verfassungsdienstes (Rechtsabteilung) im Bundeskanzleramt, drückt es mit der Nonchalance aus, die ihm als Sproß einer alten Beamtenfamilie eigen ist:

Man braucht also in Österreich keinen Radikalenerlaß wie in der BRD, sondern man wird von vornherein, wenn sich jemand für eine offene Stelle bewirbt, kontrollieren oder nachschaun, wer dieser Mensch ist. Das geschieht ohnehin in einer durchaus diskreten Weise und man wird, um es nochmals zu sagen, sicherlich nicht sagen können, daß Leute, die sich zu einer bestimmten Richtung bekennen, von vornherein überhaupt aus dem Bereich der Betrachtungen ausscheiden. Man wird nur, vermute ich, in bestimmten Fällen Anlaß haben, sich manches ein bißchen zu überlegen. [8]

Die Deutschen treiben einen Riesenaufwand mit Verfassungsschutz, Überprüfung der Wohnadressen der letzten fünf Jahre, wenn man das Bundesland wechselt, wird neu geschnüffelt — und der Effekt ist doch nur ein Promille: Tausend von über einer Million bisher Überprüfter wurde nicht eingestellt. Dabei will Frau Noelle-Neumann unter den heutigen westdeutschen Studenten 61 Prozent Radikale ausgemacht haben! („Von der Idee her halte ich den Kommunismus für gut.“) Ein Versagen der Polizei?

Als in Österreich bei den letzten Personalvertretungswahlen drei Prozent Listen links von der SPÖ gewählt hatten, verlangte der ÖVP-Abgeordnete Alfred Gasperschitz, Vorsitzender der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten, im Dezember 1975: „Beamte bzw. Staatsbürger, die sich nicht zum demokratischen Staatswesen Österreichs bekennen,“ haben im Staatsdienst nichts zu suchen ... Man muß den Anfängen wehren. Auch wenn die Gruppen noch klein sind und wenn man noch nicht so richtig weiß, wohin sie tendieren.“

Der Vorstoß des Obmanns der einzigen schwarz regierten Teilgewerkschaft des ÖGB wurde von der Sozialdemokratie zunächst empört abgeschmettert. SPÖ-Zentralsekretär Karl Blecha sagte Gasperschitz ins Gesicht, daß er „in Wirklichkeit keine lebensfähige, durch Gegensätze gekennzeichnete freiheitliche Demokratie wünscht, sondern daß er in Wirklichkeit eine gleichgeschaltete Formation von Unmündigen anstrebt“. In einer Umfrage sprach sich damals nicht einmal ein Viertel der Befragten für einen Radikalenerlaß aus. Er würde immerhin 20 Prozent der österreichischen Lohnabhängigen betreffen.

Wie bitter enttäuscht war Österreichs demokratische Öffentlichkeit, als im Herbst 1978 der Regierungsentwurf zur Kodifikation des neuen Beamtenrechts bekannt wurde! Zwar geben alle Beteiligten die Notwendigkeit einer Modernisierung zu, weil die geltende Beamtendienstpragmatik noch aus der Monarchie stammt — aber die wörtliche Übernahme bundesdeutscher Formulierungen ließ Schlimmes ahnen. Hier eine Synopse der Texte (einschließlich des zweiten Entwurfs, wo alles Heikle herausoperiert wurde — darauf kommen wir noch):

Rettung vor Pflichten — 3x Beamtendienstrecht

Dienstpragmatik vom 25. Jänner 1914 (novelliert)
II. Abschnitt/Allgemeine Pflichten

§ 21. Der Beamte ist verpflichtet, der Republik Österreich treu und gehorsam zu sein und die Staatsgrundgesetze sowie die anderen Gesetze unverbrüchlich zu beobachten. Er hat sich mit voller Kraft und allem Eifer dem Dienst zu widmen und die Pflichten seines Amtes gewissenhaft, unparteiisch und uneigennützig zu erfüllen, jederzeit auf die Wahrung der öffentlichen Interessen bedacht zu sein sowie alles zu vermeiden und nach Kräften hintanzuhalten, was diesen abträglich sein oder den geordneten Gang der Verwaltung beeinträchtigen könnte.

§ 22 (1) Der Beamte ist verpflichtet, den dienstlichen Anordnungen seiner Vorgesetzten Gehorsam zu leisten und bei deren Durchführung die ihm anvertrauten Interessen des Dienstes nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen.

Dienstrechtkodifikation
Regierungsentwurf vom Juni 1978
Art. I, 6. Abschnitt, Allg. Dienstpflichten

§ 1 (1) Der Beamte muß sich durch sein gesamtes Verhalten zur demokratischen Grundordnung der Republik Österreich bekennen und für ihre Erhaltung eintreten. Er ist zur getreuen Beachtung der geltenden Rechtsordnung verpflichtet und hat seine dienstlichen Aufgaben (§ 22 Abs. 1) aus eigenem mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln gewissenhaft, unparteiisch, uneigennützig, gerecht und mit Fleiß zu besorgen. Er steht in einem besonderen Treueverhältnis zur Republik Österreich.

(2) Der Beamte hat insbesondere bei Ausübung seiner Rechte (Art. 7 Abs. 2 B-VG) und des Rechtes auf freie Meinungsäußerung (Art. 13 StGG) auf seine Stellung im Dienst der Republik Österreich und auf die Pflichten seines Amtes Bedacht zu nehmen und darauf zu achten, daß das Vertrauen in eine sachliche Wahrnehmung seiner Aufgabe erhalten bleibt; er hat durch sein Verhalten diesem Vertrauen gerecht zu werden und alles zu unterlassen, was letzterem abträglich ist.

(3) Der Beamte hat sich im Rahmen der Gesetze den Parteien gegenüber hilfsbereit zu verhalten und sie im Bereich seiner dienstlichen Aufgaben zu informieren und zu beraten.

Revidierter Entwurf
von Anfang Dezember 1978
Allgemeine Dienstpflichten

§ 1 (1) Der Beamte ist verpflichtet, seine dienstlichen Aufgaben unter Beachtung der geltenden Rechtsordnung aus eigenem mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unparteiisch, uneigennützig und gewissenhaft zu besorgen.

(2) Der Beamte hat in seinem ganzen Verhalten darauf bedacht zu nehmen, daß das Vertrauen der Allgemeinheit in die sachliche Wahrnehmung seiner dienstlichen Aufgaben erhalten bleibt.

(3) Der Beamte hat die Parteien, soweit es mit den Interessen des Dienstes und dem Gebot der Unparteilichkeit der Amtsführung vereinbar ist, im Rahmen seiner dienstlichen Aufgaben zu unterstützen und zu informieren.

Deutsche Wehr, Importware

Die deutschen Anleihen sind unverkennbar, vor allem im Begriff der „demokratischen Grundordnung“, der drüben „Freiheitlich-demokratische Grundordnung“ genannt wird (FdGO). Der federführende Staatssekretär im Bundeskanzleramt Dr. Franz Löschnak gab das auf einer Veranstaltung der Österreichischen Hochschülerschaft am 13. Dezember 1978 unumwunden zu: „Solche Dinge wern ja in vielschichtiger Arbeit amoi irgendwo kreiert, und jene, die den Grundentwurf amoi gmocht ham, ham oiso offenbor Anleihen beim deutschen Beamtenrecht gemacht.“

Daß dieses Zitat aus dem Bonner Grundgesetz im österreichischen Rechtssystem ein Fremdkörper wäre, betonte auf derselben Veranstaltung der Wiener Verfassungsrechtler Professor Theo Öhlinger. Das Bonner Grundgesetz von 1949 statuiere eine werthafte, streitbare Demokratie, die nach dem Saint-Just-Wort verfahre: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ (KPD-Verbot 1956). Die österreichische Verfassung von Kelsen und Renner (1920) konzipiere hingegen eine „neutrale“ Demokratie. Sie will keine inhaltliche Wertordnung sein, sondern nur Verfahrensordnung für die Politik. Ausnahmen seien nur bei den NS-Verbotsgesetzen nach dem Krieg gemacht worden, aber bei den Berufsverboten — so Öhlinger — „geht es um eine andere Richtung“.

Berufsverbote sind blind gegen rechts und scharfäugig gegen links. Mit Faschisten kommt der konservative Beamte eher aus als mit Kommunisten. So sagte der Sektionschef Hackl vom österreichischen Patentamt, darauf angesprochen, daß er in 13 Jahren vier Diensteide schwor, und ob ihm das nicht Probleme gemacht habe:

Nein, gar nicht. Bitte schön, die Sache ist so, es ist der Diensteid ja eine Konsequenz aus der Tatsache, das Gesetz sieht das und das vor, und zu sagen, daß man auch dem Hitler gehorsam ist, das ist unvermeidlich, das ist keine große Sache.

Und die Entnazifizierung? Wie stand’s damit? Hackl:

Sehr lange hat die Sache nicht gehalten. Bitte Leute, die ausgeschieden worden sind, haben zum Teil in der Wirtschaft, in der verstaatlichten Industrie sehr anständige Posten erhalten, die haben gar keine Lust mehr gehabt, als Beamte weiterzuarbeiten. Andere sind dann nach einiger Zeit wieder genommen worden und haben eine ganz normale Beamtenlaufbahn mitgemacht, ohne daß es irgendwelche Unstimmigkeiten zwischen ihnen und dem Dienstgeber oder Kollegen gegeben hätte.

Die Spitze gegen links erkannte auch eine Gruppe sozialistischer Beamter, die am 30. August eine Protestresolution verfaßten und immerhin 150 Ministeriale aus dem engsten Parteikader zur Unterschrift bewegen konnten. Ihre zweifellos wirkungsvollsten Argumente, am Schluß des Papiers vorgebracht, waren rein praktisch-parteitaktischer Art: Die sozialistischen Minister würden sich bei Neueinstellungen von Parteigenossen dem Veto der überwiegend schwarzen Personalvertreter ausliefern, und in den sechs ÖVP-dominierten Ländern hätte der Entwurf die sowieso schon bedrängte Situation für Sozialisten mutwillig verschlechtert.

SP-Programm verfassungswidrig?

Selbst das Bekenntnis zum neuen SP-Programm von 1978, so erkannten die Linksbeamten, könnte einem Staatsdiener unter dem neuen Gesetz zum Mühlstein werden, denn die von der SPÖ erhobene Forderung nach Beseitigung der „Selbstsucht der kapitalistischen Profitwirtschaft“ wäre, an deutscher Praxis gemessen, im Widerspruch zu FdGO. Die FdGO wird nun einmal als Status quo interpretiert, jeder Angriff auf den Kapitalismus ist in den Augen westdeutscher Richter auch ein Angriff auf die FdGO. Einer der Unterzeichner der parteiinternen Resolution, der Assistent der Wiener juristischen Fakultät Dr. Manfred Matzka, warnt in einem Gutachten, daß durch die Einführung des Begriffs „Demokratische Grundordnung“ eine „Verpflichtung des Beamten zu einem inneren ‚Bekenntnis‘“ entstünde, während sich eine korrekte Norm nur auf ein „äußeres Verhalten“ beziehen könne, nämlich ob der Beamte die Gesetze einhalte oder nicht.

In der Tat hat das westdeutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einer Entscheidung aus 1975 den Beamten einen solchen inneren Jubel über den Kapitalismus zur Pflicht gemacht: „Die politische Treuepflicht — Staats- und Verfassungstreue — fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung ... Der Staat — und das heißt hier konkreter, jede verfassungsmäßige Regierung und die Bürger — muß sich darauf verlassen können, daß der Beamte in seiner Amtsführung Verantwortung für diesen Staat, für ‚seinen‘ Staat zu tragen bereit ist, daß er sich in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt ...“

Ein solches besonderes Treueverhältnis, so schlußfolgerten die dissidenten SP-Beamten, bedeute „immer auch ein explizites Streikverbot“. Streikteilnehmer könnten diszipliniert werden, Anstifter kämen vor Gericht.

Die große Wende

In der ersten Dezemberwoche sprang Löschnak über seinen Schatten und strich den Entwurf radikal zusammen — genau nach den Wünschen der Protestresolution (siehe Kasten). Es fiel die FdGO, es fiel die Beschränkung der Meinungsfreiheit der Beamten, es fiel die besondere Treuepflicht, es fiel das „Standesansehen“, es blieb allerdings „das Vertrauen der Allgemeinheit in die sachliche Wahrnehmung seiner dienstlichen Aufgaben“ — und dort könnte man, wenn man will, jede Art von Teufel verstecken.

Es ist schon kurios, zu sehen, wie die Verfasser etwa den jetzt geänderten Absatz 2 motivieren, der die Meinungsäußerung des Beamten einschränkte. Staatssekretär Löschnak befürchtet, es könnten sich die Beamten vor die Fernsehkameras drängen und damit die Ministerverantwortlichkeit unterlaufen! Sollten hier Gratisauftritte für Regierungsmitglieder gesichert werden?

Die Bestimmung über „das Vertrauen der Allgemeinheit“ in die Sachlichkeit des Beamten sieht Löschnak durch folgendes Beispiel überzeugend motiviert:

Do denkens hoit amoi on den Foi eines Schandameriepostenkommandanten aner klanen Gemeinde, der sehr liab immer von Montog bis Freitog seinen Dienst versieht, voikommen korrekt, ober Samstog/Sonntog is er hoit, weil er dem Alkohol ergeben ist, total voi, und bei der Gelegenheit gibt er hoit immer zum Beispü seine antisemitischen Eißerungen von sich ... Is oiso des ein Grund, um hier Beschränkungen vorzunehmen, ja oder nein?

Nein, meint Löschnaks Parteifreund Matzka, der die Ausübung von Grundrechten nicht durch einfache Gesetze eingeschränkt wissen will. Antisemitismus wird sowieso durch Gesetz mit Strafe bedroht, dazu braucht man kein Beamtenrecht.

Irgendwie scheint mir dieses Beispiel ein anderes zu verdecken. Man könnte einem Marxisten z.B. Aufreizung zum Klassenhaß vorwerfen! Jede solche Einschränkung kann sich im Grunde zu einem Berufsverbotsparagraphen auswachsen. Es kommt immer auf die Praxis, auf die Handhabung an.

Was das Formale betrifft, so ist es auf dieser Ebene zumindest nicht schlechter geworden, eher besser. Von dorther droht also im Augenblick keine Gefahr. Die könnte aus einer verschärften Praxis kommen aber das ist dann keine juridische Frage, sondern eine politische. Der Professor Öhlinger hat ganz recht, wenn er sagt: „Wir stehen in Österreich vor dem Problem, daß wir hier ein illiberales Klima haben, das im Widerspruch zur Verfassung steht. Das kann man nicht vom Recht her ändern.“

Staatssekretär Löschnak jedenfalls spiegelt sich im Glanz seines Rückzugs und konnte vor den Studenten im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes am 13. Dezember als Biedermann auftreten:

Wir sind tatsächlich erst durch massivste Einwendungen im Begutachtungsverfahren darauf aufmerksam geworden, daß ma mit diesen Diktionen, die zum Teil nicht verfassungskonform sind, wenn i aun die Grundordnung denk — des räum i jo eh ein, bitte i waß net, wie weit i no in meiner Selbstentblößung gehn soll (Lach sturm) — und aa, daß oiso in diesen Diktionen zum Teil nicht verfassungskonforme Dinge drin gsteckt san, und daß man do auch, selbst wenn man nicht sehr bösen Willens ist, eine Grundlage für einen Radikalenerlaß ableiten kann.

Die Studenten waren sichtlich erleichtert und dankbar. Löschnak verließ den Hörsaal als Sieger.

Piola-Rückzieher

Na bitte. Man versteht sich. Im Frühjahr wird gewählt, da kann die SPÖ doch nicht ihre jungen Aktivisten vor den Kopf stoßen, die würden sonst inaktiv — wie bei den Wiener Gemeinderatswahlen im vergangenen Oktober bereits erlebt, mit durchschlagenden Verlusten. Auch soll ja gegen den Bürgerblock eine überzeugende Mitte-Links-Front aufgebaut werden, da braucht man auch die Radikalen. So werden allen kontroversiellen Gesetzentwürfen, die noch anstehen, die Zähne gezogen: Medienrecht, Beamtenrecht, sogar ein Atomsperrgesetz wurde im Parlament einstimmig beschlossen (obwohl Androsch hartnäckig darauf besteht, daß Zwentendorf als Reservekapazität erhalten bleiben muß ...).

Bleibt noch die Frage, was mit dem Gesetz weiterhin geschieht, denn noch ist es ja nicht einmal dem Parlament zugeleitet; was jetzt nach links konzediert wurde, kann im Zuge der Gesetzwerdung wieder nach rechts konzediert werden — da gilt es wachsam zu bleiben! ÖVP-Gasperschitz macht kein Hehl daraus, daß die ursprünglichen Formulierungen nach seinem Herzen waren.

Im übrigen kommt es ja auf die Praxis an, nicht nur auf die Paragraphen. Und da gibt es ja in Österreich eine lange Tradition, wie man mit Nonkonformisten fertig wird, ohne die Verfassung beugen zu müssen, das zeigen unsere Beispiele zur Genüge. Das „Komitee zum Schutz vor politischer Diskriminierung am Arbeitsplatz“ hat 1978 eine Broschüre herausgegeben, [9] wo rund dreißig Fälle aus dem letzten Jahrzehnt kurz dargestellt werden; untersucht hat das Komitee doppelt so viele, ereignet haben sich natürlich noch mehr.

Wenn die wirkliche Bedeutung der deutschen Berufsverbote nicht im Einzelfall liegt, sondern in der Einschüchterungswirkung, die von der Prozedur insgesamt ausgeht, dann scheint so etwas in Österreich bisher nicht notwendig gewesen zu sein. Einerseits ist die autoritäre Kruste noch weniger aufgeweicht als anderswo im Westen, wo auch die Industrialisierung weiter fortgeschritten ist; zum andern ist die Linke hier schwächer als selbst in Westdeutschland.

Es war ein typisch österreichisches Paradoxon, daß man hier mit der Berufsverbotewirtschaft in einem Augenblick angefangen hat, wo man in Deutschland gerade davon runterkommen will. Da man hier früher zu den Urnen geht als dort, kam der Rückzieher nun um so dramatischer: wie Piola, Ball vom Fuß über den Kopf gezogen, im Fallen ...

Die Sache ist aber mit der günstigen Wendung vom Dezember nicht ausgestanden. Warum? Die Arbeitslosigkeit steigt, der Druck in Richtung Deflationspolitik, Austerity wächst — wer weiß, wie lange die Sozialdemokratie das noch mitmachen kann; da fiele sie dann auch als Adressat entsprechender Kampagnen — wie eben im Herbst — aus. Kreisky wird vis-à-vis Bürgerblock irgendeine Öffnung zur Mitte hin versuchen — wer weiß, ob da nicht auch in puncto Zucht & Ordnung Konzessionen an den Bürgergeschmack herauskommen. Und was wird im Fall einer Koalition der Bürgerparteien geschehen?

Die alte Weisheit der Arbeiterbewegung und neuerdings der Bürgerrechtler lautet: Man hat nur die Rechte, die man sich in offener Feldschlacht erstreitet. Was am Papier steht, nützt nichts, wenn wir uns schlechter behandeln lassen, als sogar das Gesetz es vorsieht. Das Rezept lautet also: Wenn der Diskriminierungsfall eintritt nicht den Kopf einziehn, sondern aufstehn, Solidarität suchen, in die Öffentlichkeit gehen.

[1Siehe den Bericht von „Hans D.“ (Pseudonym): Irrenpflege, NEUES FORVM Aug./Sept. 1977

[2Alois Jäger/Walter Nissel: Familienplanung aber wie? Verlag Herold, Wien 1972 (mit Druckerlaubnis des erzbischöflichen Ordinariates Wien)

[3Oswalds Wienerisch darf nicht im breiten Ottakringerisch gelesen werden — es ist wirklich vornehm.

[4Das Hochegg-Komitee ist erreichbar via Karl-Heinz Marenke, A-1060 Wien, Windmühlgasse 24/2, Tel. 57 48 094 (Unterschriftenlisten, Spenden, Kurzdokumentation)

[*Die Zeichnungen in diesem Abschnitt stammen aus einer katholischen Privatschule in Wien; wir entnahmen sie dem Buch „Schülersexualität“ von Julius Mende und Georg Dobrovich (Joseph-Melzer-Verlag, Frankfurt 1971)

[5Dorothea Assig u.a.: Sexualität ist mehr. Eine Unterrichtsreihe zum Thema Sexualität, Jugenddienst-Verlag, Wuppertal 1976, S. 63

[6Das Protokoll der Schulstunde wurde vom Lehrer Biechl aus den Aufzeichnungen eines Schülers und seinen eigenen Notizen am selben Tag zusammengefügt. In dieser Form drucken wir es vollständig und unverändert.

[7In Wien sagt man pudern, nicht bumsen. Ich finde diese Verarmung des Wienerischen bedauerlich. Hier zeigt sich, wie verderblich die deutschen Filme und Illustrierten auf unsere Jugend wirken!

[8Fernsehsendung von Elisabeth Spira („Allzeit getreu: Zur Reform des Beamtendienstrechts“), teleobjektiv, FS 2, 22. November 1978, 20 Uhr

[9Diskriminierung in Österreich, gegen Spende erhältlich c/o Uwe Bolius, Margaretenstraße 67/2/18, A-1050 Wien

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