Drahtzieher im braunen Netz
Erinnert sich noch jemand an Safwan Eid? Der libanesische Bewohner des Lübecker AsylwerberInnenheims wurde Tage nach dem Anschlag, bei dem letztes Jahr zehn Menschen starben, als mutmaßlicher Brandstifter verhaftet. Da waren die drei in der Nähe des Geschehens aufgegriffenen Skinheads schon längst wieder auf freiem Fuß. Ihre angesengten Haare und Augenbrauen hielt die Staatsanwaltschaft zunächst mühsam geheim, um sie später mit dem Anzünden geklauter Autos zu erklären. Von Ermittlungen gegen sie wurde bis heute nichts bekannt. Eid hingegen sitzt noch immer. Dies obwohl ein Gutachten eines Brandsachverständigen die offizielle Version, der Brand sei im ersten Stock des Hauses ausgebrochen, habe also nur von einem Bewohner gelegt werden können, als völlig unhaltbar entlarvt. Ein offensichtlich rassistischer Anschlag auf AusländerInnen wird durch ebenso rassistische Ermittlungen der Behörden des Staates im Sinne seiner eigenen Flüchtlingspolitik vertuscht — und damit legitimiert. Wie einst in Rostock.
Erinnert sich noch jemand an Raimund Friedl? Der Welser wurde von zwei bereits vor Monaten verhafteten Brüdern erschossen. Über die Ermittlungsergebnisse, insbesondere das Motiv für den „Unfall“, schweigt die Staatsanwaltschaft beharrlich. Der Verdacht, daß der Musiker Opfer einer Verwechslung mit dem Journalisten Wolfgang Purtscheller wurde, besteht somit nach wie vor.
Friedl widmet das antifaschistische Autorenkollektiv seinen „aktuellen Überblick über den Neonazi-Untergrund in Deutschland und Österreich“: von Nationalistischer Front, Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front, VAPO und NSDAP/AO über Wiking-Jugend und Junge Nationaldemokraten bis zu Nationalen Infotelefonen und Thule-Netz. Das Handbuch faßt die Aktivitäten der zahlreichen Nazigruppen zusammen, nennt die Akteure, beschreibt die Querverbindungen und ideologischen Bezüge.
Die AutorInnen verzichten weitgehend auf tiefergehende inhaltliche Analysen. Trotzdem ergeben sich aus dem oder gerade aufgrund des akribisch zusammengetragenen empirischen Materials wichtige Zusammenhänge, die für ein Verständnis des trotz einiger Verbote ungehindert weiter agierenden Neonazi-Untergrunds unentbehrlich sind: die untrennbare Verzahnung der deutschen mit der österreichischen Neonaziszene, der ständige Bezug auf die Tradition der auch vom F-Führer hofierten Waffen-SS, die wichtige Rolle, welche die alten „Herren“ (und erstaunlicherweise auch „Damen“) spielen, die im Hintergrund die Fäden ziehen — zumeist ehemalige SS-ler oder BDM-lerinnen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Zu den europäischen Drahtziehern der neonazistischen Internationale gehört das steirische Paar Lisbeth Grolitsch (einst jüngste Gau-Unterführerin im BDM) und Herbert Schweiger (SS-Leibstandarte Adolf Hitler). Die beiden stehen dem Deutschen Kulturwerk europäischen Geistes und dem mit diesem eng verbundenen Freundeskreis Ulrich von Hutten vor. Schweiger sitzt seit zwei Monaten in Untersuchungshaft. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes hatte ihn angezeigt, in seinem jüngsten Buch das Parteiprogramm der NSDAP von 1923 fortgeschrieben zu haben — „zum Teil sogar wörtlich“ (Der Standard, 27.3.96). Grolitsch leitete im September letzten Jahres ein Strategietreffen alter und neuer Nazis in Sachsen, auf welchem nach Berichten eines sich eingeschlichenen Journalisten Fragen wie folgende debattiert wurden: „Waren die Briefbomben richtig, sollen sie fortgesetzt werden, gegen welche Personen sollen sich künftig Anschläge und Terror richten?“ (Der Rechte Rand 39/96).
Das Anfertigen von Netzen gilt gemeinhin als eine Spezialität der „Freiheitlichen“. Wollte man oder frau den Inhalt des gegenständlichen Handbuchs grafisch darstellen, reichte eine A4-Seite bei weitem nicht aus. Ausgebreitet füllte die Grafik zumindest den Wiener Rathausplatz. Ein Problem solcher Netze ist das folgende: Beginnend an irgendeiner Stelle, sagen wir Neonazi X, ist es praktisch immer möglich, einen Pfad durch das Labyrinth an jede beliebige andere Stelle, sagen wir Neonazi Y, zu finden. Doch ob es sich hierbei um eine für die neonazistische Verflechtung bedeutende Verbindung handelt oder ob lediglich X einen Neonazi A kennt, der auf irgendwelchen „volkstreuen Tagen“ auf den Neonazi B gestoßen ist, der wiederum zufällig Kontakt mit Y hatte, ist nur schwer nachzuvollziehen. Ein Weg, dies herauszufinden, ist die inhaltliche Analyse. Einen anderen beschreitet dieses Handbuch: das Netz so zu verdichten, daß die wesentlichen Verbindungen deutlich werden. Der oder die MathematikerIn würde sagen: Hängen X und Y nicht nur einfach, sondern vielfach zusammen, werden jene Zusammenhänge klar, die oben angedeutet wurden.
Trotz mancher kleinerer Fehler, das Buch „Drahtzieher im braunen Netz“ sei zum Lesen empfohlen: all jenen, deren Magen stark genug ist — und den BeamtInnen der Briefbomben-Sonderkommission.
Drahtzieher im braunen Netz. Ein Handbuch des antifaschistischen Autorenkollektivs.
Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1996, ca. öS 250,—
