FORVM, No. 171-172
März
1968

Dritte Welt contra erste?

Ausschnitte vom Kulturkongreß in Havanna

500 Intellektuelle aus 70 Ländern waren Teilnehmer des Kulturkongresses in Havanna, der am 12. Januar 1968 zu Ende ging. Mit ihm hat Kuba die über es verhängte Blockade zumindest kulturell erstmals durchbrochen. Die nachfolgenden Auszüge aus der Diskussion stammen von J.-P. Sartre und Fidel Castro, ferner von Roberto Fernández Retamar, Leiter des Kulturinstituts „Casa de las Americas“, Havanna, und Luca Pavolini, Chefredakteur der „Rinascità“, Rom, Wochenschrift der KPI.

Jean-Paul Sartre (Paris):

Es ist klar, daß Europa heute nicht mehr als ein Augenzeuge sein kann in diesem ungeheuren Aufbruch dreier Kontinente. Die befreiten Völker müssen selber ihre wirklichen Probleme herausfinden. Für uns, die Bürger Europas, wird dies ein unvergeßliches Erlebnis sein: die kulturelle Emanzipation so lang unterdrückter Völker (um hier nur von der kulturellen Unterdrückung zu sprechen).

Ich bin gewiß, daß wir in Europa hieraus Lehren ziehen könnten, die uns eine Hilfe wären zur Wiederbelebung der sterbenden Kultur unserer eigenen Länder.

Ich frage mich aber auch, was Menschen guten Willens in Europa für die Dritte Welt tun könnten — Menschen, imprägniert mit Europas alter Kultur, die für sie selbst nur noch wenig Hilfe bietet und für die ehemaligen Kolonialvölker ein wirksames, abscheuliches Instrument der Unterdrückung war. Was könnten diese Europäer tun, wenn sie sich in den Dienst der jungen Völker stellen wollen?

Unsere europäische Kultur war schädlich und schändlich, als sie Euch aufgezwungen wurde. Aber in dem Augenblick, da der freie kulturelle Austausch zwischen souveränen und gleichberechtigten Nationen etabliert würde, könnte da unsere europäische Kultur nicht zu einem bescheidenen, vielleicht aber wirksamen Hilfsmittel werden, an ihrem gebührenden Platz, ohne Über-, ohne Unterschätzung? Ein Hilfsmittel, das die befreiten Nationen benützen und wieder beiseitelegen können, wenn sie den Kulminationspunkt ihrer kulturellen und revolutionären Entwicklung erreichen.

Für mich, den Mann der Kultur, wird Kultur erst dann zum Definitionsmerkmal des Menschen schlechthin, wenn er sich befreit hat von Unterdrückung und Ausbeutung. Aber gerade im gegenwärtigen Augenblick unseres Lebens, da die junge Freiheit, heldenhaft errungen im Kampf gegen den Imperialismus, noch bedroht ist; gerade im gegenwärtigen Augenblick, da die titanische Schlacht Vietnams gegen die amerikanischen Invasoren den Beweis liefert, was das Schicksal dieser Freiheit sein könnte, ein Schicksal, das morgen auch Europa treffen könnte — gerade in diesem gegenwärtigen Augenblick könnten gewisse Fehler begangen werden, in der Hitze der Schlacht sehr begreifliche Fehler, die aber für einige Zeit die kulturelle Entwicklung freier Menschen kompromittieren, d.h. die klare Erkenntnis ihrer selbst trüben könnten.

Ich wollte auf dem Kongreß vor allem herausfinden, [*] welche Fehler dieser Art möglicherweise begangen werden könnten. Aber Ihr braucht nicht erst einen Europäer, um Eure eigenen Ziele zu erkennen und gegen mögliche Irrtümer abzuschirmen.

In voller Solidarität mit meinen Brüdern in Afrika, Lateinamerika und Asien wünsche ich Euren Bemühungen allen Erfolg — nicht nur zum Nutzen der drei Kontinente, sondern auch zum Nutzen Europas.

Roberto Fernández Retamar (Havanna):

Verantwortung heißt, daß jemand für etwas verantwortlich ist. Das Etwas ist diesfalls die sogenannte „unterentwickelte Welt“, der Jemand diesfalls der Intellektuelle in der sogenannten „entwickelten Welt“. Das ist nicht alles, aber die Hauptsache. Ich beschränke mich darauf: erstens, weil ich kurz sein muß; zweitens, weil die Intellektuellen jener „entwickelten“ Welt uns soviel Aufmerksamkeit schenken; drittens, weil es fair ist, diesen Intellektuellen die Aufmerksamkeit, die sie uns schenken, zurückzuzahlen mit Aufmerksamkeit, die wir ihnen schenken.

Diese Intellektuellen, um deren Verantwortung es geht, haben dieses Etwas, das sie zu verantworten haben, aus der Taufe gehoben. Sie taufen uns, je nachdem, „primitive Kulturen“, „farbige Völker“, „unterentwickelte Länder“, „Dritte Welt“, „proletarische Nationen“. Keiner dieser Namen wird unserer Erniedrigung vollends gerecht, aber sie zeugen vom Enthusiasmus für eine Nomenklatur, auf die man korrekterweise die Antwort nicht schuldig bleiben darf.

Selbstverständlich setze ich voraus, daß wir Intellektuellen unsere spezifische Arbeit auf dem höchsten Niveau zu leisten trachten. Aber unser Problem ist nicht damit gelöst, daß wir sagen: die Verantwortlichkeit der Intellektuellen für die Dritte oder jede sonstige Welt besteht darin, ihre jeweilige intellektuelle Arbeit — ob Gedicht oder Formel — in höchster Qualität zu liefern. Das steht hier nicht zur Diskussion. Es geht vielmehr darum, welchen Nutzen diese Arbeit der Intellektuellen erbringt und für wen sie diesen Nutzen erbringt. Es geht darum, daß die Intellektuellen in die Affairen dieser Welt von heute mit hineinverwickelt sind. Wir verwerfen die billige Attitude von Leuten, die, wenn jemand von Gewehren redet, ihre Kultur zücken.

Reden wir statt dessen von der Verantwortung: Anfang 1960 überraschte mich ein amerikanischer Freund, der die kubanische Revolution bejahte, mit der besorgten Frage nach dem Schicksal amerikanischer Bergbaugesellschaften in Kuba, weil er Aktien dieser Gesellschaften hatte. Dem Mann wurde gar nicht bewußt, daß er, obzwar verbal Anti-Imperialist, faktisch Komplice des Imperialismus war. Es war, als hätte ich das Röntgenbild eines Liberalen vor mir: begeisterter Anhänger — ohne Mühe, bloß mit dem raschen Verstand — einer Ideologie, die es gestattet, für die Besitzlosen dieser Erde zu sein, human bis zum Weinen, und gleichzeitig Kupons zu schneiden von Unternehmungen, derentwegen die Besitzlosen besitzlos sind. Die Aktien waren ihm genügend abstrakt, um zu vergessen, daß am anderen Ende der Kette jene hängen, die die „Schmutzarbeit machen müssen“.

Aber das ist ein zu einfaches Beispiel. Hier genügte das obszöne Wort „Aktie“, um das soziale Gewissen zu paralysieren. Komplizierter war es in Kuba seit 1959. Wir hatten es da nicht nur mit mehr oder minder offensichtlichen Kriminellen zu tun. Da ging es um Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet, weder gemordet noch gestohlen, weder Boden noch Häuser hatten; ihr Geld war scheinbar das Ergebnis ihrer persönlichen Leistungen. Als diese unbewußten Expropriateure ihrerseits expropriiert wurden, verstanden sie natürlich nicht, wann und wie sie ihr „Verbrechen“ begangen hatten.

Desgleichen ging es um Leute, die mit ihren Arbeitern harmonische Beziehungen hatten und natürlich nichts verstanden von der allgemeinen ökomonischen Realität des den Arbeitern vorenthaltenen Mehrwertes. Sie hielten sich für ehrliche Leute, die mitten auf der offenen Straße der Geschichte von Strauchrittern ausgeraubt wurden.

Das Mindeste, was man dazu sagen muß, ist wohl, daß es nicht einfach ist, einem Menschen begreiflich zu machen, daß er jenseits seines persönlichen Verhaltens — welches nichts als Reflex oder Abbreviatur eines bestimmten kollektiven Verhaltens ist — eine andere, ultrapersonale Verantwortung hat, ob er sie nun kennt oder nicht, und daß daher seine Loyalität gegenüber ungerechten Gesetzen und ungerechter „Moral“ ihn historisch verantwortlich macht für den Bezug von Vorteilen aus dieser Ungerechtigkeit.

Aber schließlich ist auch hier die Sache klar. Nehmen wir demgegenüber einen Intellektuellen kleinbürgerlicher Herkunft, der weder Aktien noch Land besitzt, dessen Ausbildung durch persönliche Opfer erkauft wurde: würde er sich nicht völlig ohne Zusammenhang mit den ausbeutenden Klassen denken? Aber solches Denken, vielleicht noch bestärkt durch die Erinnerung an ein hartes Leben, würde kaum differieren vom Denken des arbeitsamen Landbesitzers, Fabrikbesitzers, Hausbesitzers, die alle, trotz persönlicher Ehrenhaftigkeit, von der Revolution teilweise enteignet wurden, um einen Teil ihres Besitzes dem Volk zu geben. Die Intellektuellen wie diese Besitzer haben ihre Besitztümer — ob geistige oder materielle — dadurch erlangt, daß, unabhängig von ihrem persönlichen Willen und ihrer persönlichen Einsicht, jene Ausbeutung herrschte, durch welche solcher Besitz möglich wurde.

Für die Intellektuellen eines „unterentwickelten“ Landes hat diese Argumentation überwältigende Beweiskraft unter anderem, weil der Blitz der Revolution unsere Geschichte, unser Leben erhellt hat. Anders steht es mit den Intellektuellen der kapitalistischen Länder, weil dort die Revolution weitab von der Tagesordnung liegt.

Die wirkliche Dichotomie zwischen unseren Ländern und jenen lautet nicht: „Unterentwickelte“ und ‚„Entwickelte“, wie diese es pharisäisch erscheinen lassen wollen, sondern: „Unterentwickelte“ und „Unterentwickler“. Diese letzteren sind Länder, die insgesamt — in ihrer ganzen Struktur, nicht nur in einzelnen Elementen — entwickelt wurden, indem wir ausgebeutet wurden.

Der Intellektuelle dieser Länder gelangt zu seinem Wissen, in der Hauptsache, dank der Ausbeutung der „Dritten Welt“.

Was unsere Völker von uns, den Intellektuellen der „unterentwickelten“ Länder mit Recht verlangen, das verlangen wir mit noch mehr Recht von den Intellektuellen der „Unterentwickler“-Länder: daß das Wissen jenen zurückgegeben werde, durch die es ermöglicht wurde.

In jenen Ländern des kräftig etablierten Kapitalismus, in jenen kranken Konsumgesellschaften ist es Mode, „links“ zu sein. Ein neuer Luxus, wie die Freiheit ein älterer Luxus ist.

Aber was heißt in jenen Ländern „links“ sein wirklich? Marx zitieren? Manifeste unterschreiben? Vergnügungsreisen zu Kongressen wie diesem hier?

Wir sagen klar und deutlich: Nein!

Von unserem Standpunkt — ich meine: Vietnam, Kuba, Kongo, usw. — gilt keine der Ausreden, die unsere Kollegen aus „Unterentwickler“-Ländern finden mögen, um sich zu rechtfertigen (etwas, was uns unsere Völker gar nicht erlauben würden).

Ihr lebt von uns!

„Links“ sein in jenen Ländern kann nichts anderes heißen als: sich bewußt werden der Verantwortung als ein Mensch, der seine Kenntnisse erworben hat dank der Ausbeutung, die sein Land gegenüber unseren Ländern beging oder immer noch begeht. Unsere Völker subventionierten und subventionieren immer noch, in Europa und in den USA, Universitäten und Akademien, „kritische Universitäten“ und „Anti-Akademien“, Ismen aller Art, Proteste aller Art, Demonstrationen aller Art.

Nicht wenige Intellektuelle in diesen Ländern wissen das; Jean Paul Sartre [**] in Frankreich, Peter Weiss in Schweden, Noam Chomsky in den USA, um einige zu nennen. Aber in ihrer Mehrzahl wollen die Intellektuellen — schon die der sogenannten „Linken“, zu schweigen von den professionellen Unverantwortlichen — eine saubere Trennung zwischen ihrem Besitz an Wissen und der rauhen Realität der Ausbeutung unserer Völker; sie weigern sich, die Tatsache anzuerkennen, daß es eine unabweisliche Beziehung gibt zwischen dem Elend der „Dritten Welt“ und der Blüte ihrer Kunst und Wissenschaft.

Gewiß ist es ungewöhnlich, daß ein westlicher Schriftsteller sich ein Gewehr nimmt und nach Afrika geht, um dort Geld zu machen mit allen Mitteln, wie dies der ehrliche Rimbaud tat. Die heilige Arbeitsteilung macht aus den einen Kolonialisten, Plantagenbesitzer, Kaufleute und Bankiers, aus den anderen Lehrer, Wissenschaftler, Künstler. Aber diese selbe heilige Arbeitsteilung macht aus ihnen allen, ohne Ausnahme, Teilhaber an unserer Ausbeutung. Nur daß die Intellektuellen die glückliche Veranlagung haben, die Verantwortung zu ignorieren, die sie an dieser gemeinsamen Unternehmung tragen.

Sobald diese Verantwortung erkannt und anerkannt wird, wird es für uns möglich, mit den Intellektuellen der „Unterentwickler“-Länder in einen neuen Dialog zu treten. Der bisherige Dialog schwankte auf unserer Seite zwischen zwei einander ausschließenden Extremen: Scheinheiligkeit, die nur das überseeische Echo eines westlichen Monologs der Selbstberühmung war; und, als empörte Antwort darauf, der abrupte Abbruch aller Gespräche, ein für uns gleichfalls erniedrigender Zustand.

Das ändert sich, sobald wir alle begreifen und akzeptieren, daß Wissenschaft und Kunst in den ausbeutenden Ländern auch den ausgebeuteten Ländern gehören, weil sie diesen Ländern ihre Existenz verdanken; wir verlangen, die Summe des Wissens auf diesem Planeten möge unseren ausgepowerten Ländern überlassen werden — nicht in den Formen des Paternalismus, sondern als Rückgabe dessen, wessen wir beraubt wurden.

Zwar sieht es so aus, als würden wir ohne Stückeschreiber und Maler von draußen auskommen, aber wir brauchen gute Ökonomen, Physiker, Kybernetiker. Das wird für uns der Maßstab sein: Intellektuelle auf der Linken, Intellektuelle, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind, müssen in den „Unterentwickler“-Ländern jene sein, die solche Rückgabe des uns Gehörigen in konkreter Praxis durchführen: als Wissenschaftler und Techniker, welche die Übel lindern, die in unseren Ländern jener Kolonialismus verursacht hat, der sie zu gelehrten Männern machte; als Lehrer, die jene Bildung verbreiten, ohne die keine nationale Unabhängigkeit möglich ist; gelegentlich sogar als Philosophen: ich denke an unseren exemplarischen Genossen Régis Debray.

Luca Pavolini (Rom):

Man kann von Verantwortung der Intellektuellen in den industrialisierten Ländern unmöglich sprechen, ohne Hinblick auf die spezifischen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen dieser Länder. Man muß fragen, welche spezifische Rolle das Gesellschaftssystem dieser Länder dem Intellektuellen zuweist. Nur durch solche gründliche Analyse können wir in der Diskussion über unsere Verantwortung jene abstrakte Vorstellung eines „Kompromisses“ loswerden, welches wir im Westen mit dem herrschenden System angeblich geschlossen haben.

Nur so wird die Diskussion konkret und gerät auf das Thema unseres Kampfes gegen dieses herrschende System.

Es ist offenkundig, daß in den industrialisierten Ländern die Unabhängigkeit des Intellektuellen, wie er sie sieht und will, immer mehr eingeengt wird. Die Zahl der Intellektuellen wächst proportional zu den wachsenden Bedürfnissen einer technisch hochentwickelten Gesellschaft, und proportional damit verstärkt sich auch der Druck der Hochfinanz, alle Intellektuellen in die Rolle abhängiger Lohnempfänger zu drängen: die Logik des Systems treibt zur Vernichtung der sogenannten „freien Berufe“. Der Intellektuelle findet sich heute gegenüber der Monopolfinanz in der gleichen Rolle wie zur Zeit, da er ein Leibeigener seines Feudalherrn war.

Daher ist der Intellektuelle heute konfrontiert mit Ausbeutung, Entfremdung, Kampf für seine Emanzipation in neuen und spezifischen Formen. Das gilt ganz offensichtlich für Intellektuelle innerhalb der Organisation der kapitalistischen Produktion. Es gilt aber auch für jene Intellektuellen, die dem Monopolkapital auf raffiniertere Weise untertänig werden, in der Big Publicity, in den Verlagen, in den Zeitungsredaktionen. Die subtilste Form der Unterwerfung besteht in der Illusion der Intellektuellen, sie seien Teilhaber der Macht, ja selber Machthaber: auf diese Weise maskiert die neokapitalistische Technokratie die fortdauernde Macht des Big Enterprise; der Kapitalist bleibt Boß, aber im Dunkeln.

Der Zug zur totalen Integration der intellektuellen Arbeit in das herrschende System zeigt sich sehr bedeutsam in den Versuchen, die Universitäten in bloße Werkzeuge dieses Systems zu verwandeln; man will sie nach den Bedürfnissen der privaten Monopole reorganisieren, man will ihnen jede Autonomie nehmen: die Freiheit, ihre eigene Struktur zu bestimmen, die Freiheit von Forschung und Lehre.

Diese Versuche laufen parallel mit jenen, durch welche die totale Integration der Arbeiterklasse in das neokapitalistische System als „unvermeidlich“ hingestellt wird. Um das zu erzielen, soll den Intellektuellen die Möglichkeit genommen werden, in den hochentwickelten Industrieländern eine wirksame revolutionäre Rolle zu spielen. Die Logik des Systems fordert die totale Integration der Intellektuellen, wenn die totale Integration der Arbeiterklasse gelingen soll.

Nun ist der Zug zur Integration ein gemeinsames Kennzeichen aller Typen der Gesellschaft. Wir müssen daher die spezifischen Methoden untersuchen, mit welchen die herrschenden Klassen diese Integration bewerkstelligen wollen, und im Zusammenhang damit auch die spezifischen Methoden, um gegen diesen Integrationsprozeß Widerstand zu leisten: so daß der Arbeiterklasse die eigene Kampfkraft erhalten bleibt, d.h. das eigene Bewußtsein; und das wiederum heißt: daß die Intellektuellen ihr eigenes Denken, ihre Autonomie in Forschung und Lehre verteidigen und weiterentwickeln.

Das sind sehr schwierige, aber absolut notwendige Aufgaben.

Direktiven aus Kuba?

Und darum glaube ich: jenes Theoretisieren, welches behauptet, daß es, so einfach aus dem Ausland, Direktiven geben könne für die Kampfweise der Intellektuellen in den hochentwickelten Ländern — jenes Theoretisieren sollen wir nicht akzeptieren, selbst wenn es mit der besten Absicht geschieht.

Wir bejahen in internationalistischer Gesinnung die Pflicht des Intellektuellen zum gemeinsamen Kampf mit allen revolutionären und antiimperialistischen Kräften in der Welt, vor allem Seite an Seite mit den unterentwickelten Ländern, die um ihre Emanzipation ringen. Das ist das eine. Aber etwas ganz anderes wäre es, wenn wir, zugunsten dieses Kampfes, den Kampf in unseren eigenen Ländern preisgeben sollten, samt den damit verknüpften kämpferischen Kompromissen, und statt dessen warten sollten, bis die Freiheitsbewegung in der sogenannten Dritten Welt so weit entwickelt ist, daß sie Bedingungen für revolutionäre Aktionen auch in jenen Ländern geschaffen hat, in welchen der Kapitalismus bereits in einem fortgeschrittenen Stadium ist. Das wäre das Ende der Kompromisse, gewiß; es wäre aber auch das Ende des Kampfes, den die Intellektuellen der entwickelten Länder unter spezifischen Bedingungen führen.

Meines Erachtens würde dies auch nicht den Bedürfnissen der „Dritten Welt“ entsprechen. Diese Völker brauchen nicht nur unsere Solidarität und unsere diesbezüglichen Deklarationen nach außen. Sie brauchen ebensosehr unseren logischen, positiven, konkreten Kampf innerhalb der Hochburgen des Imperialismus. Denn dieser Kampf zielt auf Schwächung und schließlich Niederlage des Imperialismus.

Selbstverständlich ist die aktive Solidarität zugunsten der „Dritten Welt“ ein sehr wesentliches Problem. Der Intellektuelle hat hier die Pflicht, jeden möglichen Beitrag zu leisten: direkte Hilfe als Lehrer, Publizist, Volksbildner, Techniker, wann immer dies notwendig ist, wann immer die um Emanzipation und Entwicklung kämpfenden Länder solche Hilfe verlangen; desgleichen indirekte Hilfe durch Austausch von Informationen, Erfahrungen u.dgl. (Diesfalls meine ich nicht nur den Austausch von ökonomischen und soziologischen Kenntnissen, sondern speziell von politischen Kenntnissen: Formen der Machtausübung, der staatlichen Organisation, der demokratischen Strukturen.)

Ich meine, daß man sich nicht auf moralische Appelle beschränken kann. Hier möchte ich Kritik äußern. Hier gibt es die Gefahr des bloßen Moralisierens, wenn man nämlich sagt, „daß die Intellektuellen der kapitalistischen Länder, deren hohe Entwicklungsstufe weitgehend durch Ausbeutung der Kolonialvölker erreicht wurde, moralisch verpflichtet sind, ihre Kollaboration anzubieten“ (Resolution des vorbereitenden Seminars, Kommission II).

Es besteht gar kein Zweifel, daß die Entwicklung der westeuropäischen Länder durch Ausbeutung der Kolonien zustandekam. Desgleichen besteht kein Zweifel, daß die Intellektuellen Westeuropas mit der Emanzipationsbewegung der „Dritten Welt“ zusammenarbeiten müssen.

Aber die zitierte Stelle enthält die Gefahr, daß zwei sehr verschiedene Gruppen von Intellektuellen auf gleiche Stufe gesetzt werden: jene, die das System akzeptieren, an seiner Stärkung mitarbeiten, und jene, die gegen dieses System kämpfen und für dieses System jede Verantwortung ablehnen.

Man darf doch nicht vergessen, daß, gemäß der eben vorgebrachten Analyse, unsere Intellektuellen, in ihrer großen Mehrzahl, ob sie es wahrhaben oder nicht, gleichfalls zu den Ausgebeuteten gehören.

Die Revolution in den unterentwickelten Ländern setzt gewaltige kulturelle Energien frei; Kuba ist hiefür ein strahlendes Beispiel. Nichtsdestoweniger muß die Revolution zur gleichen Zeit — mit den historisch richtigen und je nach nationalen Bedingungen möglichen Methoden — auch in den vitalen Zentren des kapitalistischen Ausbeutersystems vorwärtskommen. Die Imperialisten leben in unseren Ländern.

Ist eine solche Revolution möglich? Ein wirklich internationalistisches Denken kann daran nicht zweifeln. Der Kampf ist ein Kampf. Seine Einheit ergibt sich daraus, daß die Unterentwicklung in Euren Ländern die Folge des entwickelten Systems in unseren Ländern ist, aber auch die Bedingung für die Fortdauer dieses Systems. Diese Ambivalenz führt bei Euch zu Armut und unerträglichen Lebensbedingungen, bei uns zur Schaffung des höchstentwickelten Systems der Entfremdung und Entmenschlichung, das es je in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft gegeben hat. Der Sturm gegen dieses System sollte von allen Seiten unternommen werden, logischerweise jeweils mit den für die betreffenden Seite geeignetsten Kampfmethoden.

Fidel Castro (Havanna):

Wir wollen unsere Zeit nicht damit verbringen, herauszufinden, wieviele Intellektuelle in der ganzen Welt in Bewegung geraten sind. Es genügt uns, daß es immer mehr werden.

Wir haben erlebt, daß gewisse sehr wichtige Ereignisse — gewisse Aggressionen, gewisse andere Verbrechen — mehr Protest, größere Bewegung, stärkere Abwehr bei den Intellektuellen hervorgerufen haben als bei politischen Organisationen, von denen wir dies eigentlich eher erwartet hätten (Beifall). Wir entdeckten angebliche Vorhuten weit hinten in der Nachhut (Beifall).

Wir wollen niemanden kränken. Aber unser Standpunkt ist nun einmal der Standpunkt von Opfern der Aggression, von Revolutionären im Kampf gegen den Imperialismus. Wenn wir jemanden, von dem wir annehmen, daß er zur Vorhut gehört, tatsächlich in der Vorhut sehen, ist das für uns die natürlichste Sache der Welt. Aber wenn wir jene, von denen wir dies nicht annahmen, weit vorne im Protest und Kampf entdecken, so gehört ihnen unsere Bewunderung.

Ein jüngstes Beispiel, das uns sehr nahe geht: der Tod unseres heldenhaften Genossen Ernesto Guevara (Ovation).

Wenn man fragt, was ein Revolutionär ist oder sein sollte, wo könnte man ein besseres Beispiel finden? Und doch: wer waren jene, die in Bewegung gerieten, seinen Namen und sein Beispiel in Europa hochhielten? Wo war der Eindruck seines Todes am tiefsten? Gerade bei den Intellektuellen (Applaus)! Nicht bei den Organisationen, nicht bei den Parteien. Sondern bei jenen anständigen Intellektuellen; sie fühlten mit, sie begriffen, sie wurden Ché gerecht. Mit ihnen vergleichen wir jene, die niemals verstehen, warum er starb, und niemals fähig sein werden, zu sterben wie er (Applaus).

Ideen kann man nicht töten

CIA und Pentagon fürchten den toten Ché noch mehr als den lebendigen (Ovation). Das ist ein mächtiges Beispiel, was ein Beispiel bedeuten kann. Ein mächtiges Beispiel, daß man Ideen nicht vernichten kann. Einfach deswegen, weil Menschen Menschen sind, und ihre Ideen höher stellen als alles andere, einschließlich des Lebens.

Immer mehr Intellektuelle wenden sich der Sache der Gerechtigkeit zu. Ihre Solidarität mit Vietnam wächst; immer mehr in den USA wenden sich gegen die barbarische Aggression. Immer mehr Intellektuelle in der Welt unterstützen die Bewegung der Neger in den USA, kämpfen gegen die Einkerkerung von Régis Debray. Wir wissen alledem die gebührende Anerkennung zu geben.

Eine weitere Sache hat uns sehr beeindruckt. Eine Gruppe katholischer Priester legte dem Kongreß die folgende Resolution vor:

Wir, katholische Priester, Delegierte des Kulturkongresses in Havanna, sind der Überzeugung:

  • daß der Imperialismus heute, insbesondere in der Dritten Welt, ein Faktor der Unmenschlichkeit ist, der die individuelle, kulturelle und überhaupt menschliche Freiheit zerstört und einen Zustand der Unterentwicklung fördert, der von Tag zu Tag akuter und bedrückender wird;
  • daß unbeschadet vorhandener Differenzen zwischen Christentum und Marxismus in ihren Vorstellungen von Mensch und Welt, der Marxismus die exakteste wissenschaftliche Analyse der wahren Natur des Imperialismus bietet und den wirksamsten Antrieb zur revolutionären Aktion der Massen;
  • daß der christliche Glaube jene Form der Liebe ist, die sich in wirksamer Hilfe für alle Menschen äußern will;
  • daß der Priester Camilo Torres Restrepo, indem er für die Revolution starb, uns das hervorragendste Beispiel eines christlichen Intellektuellen gab, der dem Volk dient. [1]
    (Applaus)

Diese Erklärung ist ein Zeichen für die Verbreitung revolutionärer Ideen in der Welt, sogar in der Kirche. Immer mehr revolutionäre Kämpfer kommen von dort.

Eine Yankee-Nachrichtenagentur berichtete kürzlich über diese Bewegung im katholischen Klerus Lateinamerikas. Natürlich wurde sie mit Kuba in Verbindung gebracht, und mit mir. Sogar der päpstliche Nuntius in Kuba [2] wurde beschuldigt (Gelächter), desgleichen der päpstliche Nuntius in Kanada, der nach Kuba kam, um ihn als Bischof zu investieren. Es gab aus diesem Anlaß einen Empfang, an dem ich teilnahm; für die CIA-Leute war das sicher ein Verschwörer-Konzil (Gelächter).

In der Tat gibt es neue Entwicklungen. Wir, als Revolutionäre, als Marxisten-Leninisten, müssen sie analysieren. Nichts ist antimarxistischer als Dogmen, nichts antimarxistischer als versteinerte Ideen. Und es gibt Ideen, die im Namen des Marxismus vorgetragen werden und wahre Fossilien sind.

Der Marxismus hatte geniale Denker: Marx, Engels, Lenin, um nur die hervorragendsten Begründer zu nennen. Aber der Marxismus muß sich weiterentwickeln, er muß ausbrechen aus einer gewissen Starrheit, er muß die heutige Wirklichkeit interpretieren, vom objektiven, wissenschaftlichen Standpunkt. Er muß sich als revolutionäre Kraft benehmen, und nicht als pseudo-revolutionäre Kirche (Beifall).

Wie könnten wir, die wir sehen, wie Teile des Klerus zu revolutionären Kräften werden, uns damit abfinden, daß revolutionäre Kräfte sich als pseudo-revolutionäre Kirche etablieren (Beifall)?

Wir hoffen, daß wir wegen solcher Gedanken nicht der Exkommunikation verfallen noch auch der Heiligen Inquisition (Gelächter).

Es gibt eine gewisse Unterentwicklung auf dem Gebiet der politischen Ideen, der revolutionären Ideen. Da herrscht enorme Konfusion, eine enorme Krise der Doktrin — und genau in dem Moment, da revolutionäres Fühlen, revolutionäre Gesinnung sich ausbreitet.

Niemand kann behaupten, daß er im Besitz der alleinigen Wahrheit ist, niemand, daß er — in dieser komplizierten Welt — schlechthin recht hat. Wir haben hier unsere Wahrheit, aus unserer Erfahrung, für unsere Verhältnisse. Aber wir wollen keine Schulmeister sein. Wir haben kein Monopol auf Revolution.

Die Imperalisten werden sagen: dieser Kongreß ist ein Vietnam der Kultur. Sie werden sagen: die Guerillas verbreiten sich nun unter den Intellektuellen. Das heißt nichts weiter als: die Intellektuellen werden militant.

[*Sartre wollte am Kongreß teilnehmen, war aber dann durch eine schwere Arthritis daran gehindert.

[**Vgl. den voranstehenden Text.

[1Die Erklärung ist unterzeichnet von Monsignore German Guzman (Kolumbien), Professor Alberto de Escurdia (Mexico), Carlos Zaffaroni, Schriftsteller und Theologe (Uruguay), Roger Blanquart OP (Frankreich). D. Red.

[2Monsignore Cesare Zacchi, vormals Nuntius in Wien. — D. Red.

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