Robert Zöchling
Oktober
1989
Gefangene in Nicaragua

Durch Strafvollzug in die Gesellschaft einbeziehen!

Nicaragua befindet sich immer noch im Krieg. Dennoch hat dieses Land in Sachen Reform des Strafvollzugs und Alternativen zur Haft größere Fortschritte aufzuweisen als etwa Österreich. In Nicaragua sucht man nach Strafformen, die dem Täter und seinen Bedürfnissen angepaßt sind — und nicht „dem Delikt“.

Als 1979 die Revolution siegte, nahmen die Sandinisten 7.000 Mitglieder der somozistischen Nationalgarde fest. Obwohl diese Männer froh waren, daß sie noch lebten, hatten sie nicht die geringste Absicht, mit dem neuen System zu kooperieren. Eine Revolution, die nicht die Besiegten an die Wand stellt, ist mit einem wirklichen Problem konfrontiert. Viele dieser „Guardias“ wurden trotzdem bald freigelassen und haben sich der Konterrevolution angeschlossen. Trotz dieser Erfahrung ist es ein Ziel der Regierung, die revolutionären Wertvorstellungen auch im Strafvollzugssystem anzuwenden. Eines der ersten Gesetze der Sandinisten war daher auch jenes, das die Todesstrafe abschaffte.

Die Ablehnung des Rachegedankens

Da sich Nicaragua im Moment im Krieg befindet, steigt natürlich die Zahl der Häftlinge durch die gefangengenommenen Konterrevolutionäre. Nach Aussagen von Vertretern des Innenministeriums würde die Zahl der Gefangenen sogar noch schneller wachsen, wenn die somozistischen Ex-Gardisten nicht weiter freigelassen und die Konterrevolutionäre durch das Amnestiegesetz begünstigt würden. Heute gibt es im Land 8.000 Häftlinge — die Hälfte davon sind ehemalige Nationalgardisten oder Konterrevolutionäre.

Das Amnestiegesetz ist, mit verschiedenen Ausweitungen, seit 1983 in Kraft. Es sieht eine vollständige Amnestie für alle Konterrevolutionäre vor, selbst für ihre führenden Köpfe, wenn sie die Waffen niederlegen. Für viele Nicaraguaner stellt dieses großzügige Gesetz ihren Begriff von Gerechtigkeit — inmitten eines so grausamen Krieges — in Frage. Wenn die Begnadigten in die Gemeinschaft zurückkommen, können viele Campesinos dies nur schwer verstehen und fühlen sich herausgefordert. Unter diesen Umständen fällt es natürlich vielen schwer, die Verantwortlichen für diese Verbrechen, die vielleicht sogar einen geliebten Familienangehörigen ermordet haben, freundschaftlich aufzunehmen. Das Amnestiegesetz ist eine „übermenschliche“ Herausforderung, die aber alltäglich geworden ist und auch bewältigt wird: Innenminister Tomas Borge hat darauf hingewiesen, daß Nicaragua — gemessen an der Gesamtbevölkerung — die gleiche Gefangenenrate aufweist wie die USA, obwohl diese nicht durch einen Krieg bedroht sind.

Ein Gefangenenrat bestimmt selbständig die Verwaltung

Das System des Strafvollzugs

Die Reform des Strafvollzugs in Nicaragua bedeutet einen ersten Schritt hin zu einer Konzeption, die davon ausgeht, daß sich die Strafe dem Täter und seinen Bedürfnissen anpassen muß und nicht „dem Delikt“. Nicht jedes Vergehen wird als Angriff auf die Gesellschaft verstanden und „sanktioniert“. Die nicaraguanischen Gefängnisse sind keine bloßen „Strafanstalten“. Laut Innenminister Tomas Borge soll vielmehr „versucht werden, mittels Strafvollzugs Menschen zu erziehen, in den Prozeß der Übergangsgesellschaft einzubeziehen“. Das Gesetz 069-86, mit dem der Strafvollzug geregelt wird, kennt zwar immer noch die Unterscheidung der Häftlinge in Ex-Somozisten, Konterrevolutionäre, gewöhnliche Kriminelle und Militärdelinquenten — generell können aber alle Gefangenen fünf Stufen des Vollzugs durchlaufen.

Zuerst befinden sie sich in einem geschlossenen System der höchsten Sicherheitsstufe. Wenn sie gute Führung gezeigt haben gelangen sie in die zweite Stufe, in der sie arbeiten können, größere Privilegien und eine verlängerte Besuchszeit erhalten. Anstatt einmal pro Monat können sie dann alle zwei Wochen Freunde und Verwandte empfangen. Wenn sie ihre eigene Schuld an der Situation anerkennen, kommen sie in den halboffenen Vollzug, was wesentliche Veränderungen in ihrem Leben bedeutet. Die Sicherheitsmaßnahmen sind minimal: es gibt nur einen bewaffneten Wächter (auch der wird von den Gefangenen üblicherweise „companero“ genannt) und es fehlen die üblichen Attribute von Strafanstalten, wie versperrte Eisentüren und hohe Mauern. Dazu der stellvertretende Direktor des Strafvollzuges, Franco Montealegre: „Hier beginnen die Sicherheitsmaßnahmen an Wert zu verlieren und der Gefangene fängt an, Bewußtsein zu entwickeln.“ Aber selbst in dieser Etappe „übt die Institution Einfluß und Kontrolle über das Leben des Verurteilten aus. Er arbeitet, wie man es ihm sagt, und es gibt keine Selbstbestimmung.“ Aber der Gefangene beginnt hier den Kontakt mit der Gesellschaft, um das Stigma des Gefängnisses zu überwinden. In dieser Phase gibt man ihm auch bereits die Erlaubnis, nach Hause zu gehen.

Danach kommt der offene Vollzug, bei dem jegliche Sicherheitsmaßnahmen und die bewaffnete Überwachung fehlen. Ein Gefangenenrat bestimmt selbständig die Verwaltung und verteilt die Arbeit, organisiert den landwirtschaftlichen Betrieb, legt die Anbautechnik fest, mit der die besten Ergebnisse zu erzielen sind etc. Kontakte und Beziehungen der Häftlinge zur Familie und zur Gemeinschaft sind häufig. Einmal pro Woche ist Besuchstag für die Familie und monatlich darf der Gefangene die Vollzugsanstalt verlassen. Auch in dieser Phase bekommt er jedes halbe Jahr eine einwöchige Urlaubserlaubnis. Die fünfte und letzte Etappe beginnt nach der Verbüßung von 60% der Strafe. Der Verurteilte wohnt zu Hause, bleibt aber unter Kontrolle der Polizei. Oft ist der Übergang zur jeweils nächsten Phase kürzer, wenn der Gefangene eine gute Führung gezeigt hat. Es gibt Einzelfälle von Häftlingen, die bereits nach wenigen Jahren die vierte Phase, den „offenen Vollzug“, erreicht haben, obwohl sie bis zu 30 Jahren verurteilt wurden — so zum Beispiel somozistische Ex-Guardias.

Der Anspruch, die Strafe den Bedürfnissen des Verurteilten anzupassen, zeigt sich besonders deutlich am Stellenwert der Arbeit in den nicaraguanischen Gefängnissen. Zum einen ist sie nach Artikel 39 des erwähnten Gesetzes freiwillig. Zum anderen unterliegt die Häftlingsarbeit den normalen gesetzlichen Bedingungen. Das bedeutet: Acht-Stunden-Tag, Sechs-Tage-Woche und ein normales Gehalt entsprechend der jeweiligen Tätigkeit. Die Gefangenen können sich als Handwerker ausbilden lassen. Wer seine Fähigkeiten perfektioniert und sich höher qualifiziert, bekommt auch einen entsprechend höheren Lohn. Von diesem Einkommen werden 30% für die Verpflegung zurückbehalten. Vom Rest wird die Hälfte auf ein Konto überwiesen. Mit der anderen Hälfte können sich die Häftlinge Zigaretten, Getränke und Kuchen kaufen. Die Beziehungen des Gefangenen zu seiner Familie und zu Freunden werden durch weitgehende Besuchsrechte, einschließlich ehelicher Zusammenkünfte, aufrechterhalten. Auch auf kulturelle und künstlerische Bedürfnisse wird viel Wert gelegt: In allen Gefängnissen hat man große Anstrengungen unternommen und Bildungsprojekte entwickelt. Alle Gefangenen haben die Möglichkeit zur Grundschulbildung, es gibt gut ausgestattete Gefängnisbüchereien, unzensierte Tageszeitungen und freien Radio- und Fernsehempfang.

Den Bedürfnissen des Verurteilten angepaßt

Die Grenzen der Rehabilitierung

Offene Gefängnisse wie in Nicaragua sind der Versuch, den einzelnen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das Problem des „unumstößlichen Urteils“ ist dadurch jedoch nicht gelöst.

Bei einer Konferenz zum Thema „Die Strafvollzugssysteme in Amerika“, die im September 1986 in Nicaragua abgehalten wurde, berichtete der kanadische Kriminologe W. Gordon West von Untersuchungen über Jugendliche aus miserablen sozialen Verhältnissen oder marginalisierten ethnischen Gruppen, die den größten Teil der Kriminellen in der nordamerikanischen Gesellschaft ausmachen. Danach sind die Jahre im Gefängnis kein Grund, künftig Delikte zu vermeiden. Ansporn ist vielmehr, wenn man eine Arbeit gefunden oder eine Liebesbeziehung aufgenommen hat.

Die nicaraguanischen Behörden sehen realistisch, welchen Grad der Rehabilitierung man im Gefängnis erreichen kann, wenn man ein adäquates System entwickelt. Als erstes gesteht man dem Häftling die Möglichkeit der Arbeit und, außerhalb des Gefängnisses, den Neuanfang zu. Zweitens sind sich die Gefangenen darüber im klaren, daß das System die Ordnung innerhalb der Institution aufrecht erhält. Es gibt keine Banden, die das Leben im Gefängnis durch Gewalt und einen Schwarzmarkt kontrollieren. Drittens gesteht das System gewisse materielle Vorteile zu, wie ein ordentliches Gehalt und die Aussicht auf eine zukünftige Arbeit bei Bereitschaft zum Arbeiten oder Studieren.

Ein Besuch in einer „offenen Anstalt“ würde jede, auch nur halbwegs mit den Zuständen in anderen Gefängnissen dieser Welt vertraute, Person beeindrucken. In Nicaragua gibt es fünfzehn dieser Zentren, die seit 1983 errichtet wurden und 10% der gesamten Häftlinge aufnehmen. Die Regierung plant, diese Zahl auf 30% zu erhöhen.

Dies sind die besten Aspekte des nicaraguanischen Strafvollzugs. Aber wie human es auch zugehen mag, ein Gefängnis bleibt ein Gefängnis und verwandelt sich nicht in ein Freizeitzentrum oder einen Universitätscampus. Eine Haftanstalt ist immer die repressivste Institution der Gesellschaft, welcher Grad von Rehabilitierung auch immer erreicht wird. Ein Gefängnis bleibt ein Zentrum der Strafe und Unterwerfung, Tag für Tag, Jahr für Jahr. ExpertInnen äußerten auch schon die Befürchtung, daß der Versuch, in Nicaragua ein menschlicheres Strafvollzugssystem zu errichten, mit den gleichen Problemen konfrontiert wird, die Reformversuche in anderen Systemen der Welt verhindert haben. Vier Angestellte des Innenministeriums mußten bereits entlassen und selbst inhaftiert werden, weil sie Gefangene mißbraucht hatten. Diese Vorgangsweise — die man von jedem humanitären System erwarten würde — zeigt zwar ebenfalls den tiefen Unterschied Nicaraguas zu vielen anderen Ländern. Die eigentliche Problematik der Haftanstalten wird aber auch dadurch nicht gelöst.

aus: Juridikum 3/89, Seite 13f.

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