Streifzüge, Heft 83
Dezember
2021

Dystopie des Kolonialismus

Shakespeares The Tempest, deutsch Der Sturm, ist eines der am schwierigsten zu interpretierenden Werke des großen Dramatikers. Es ist ein Spätwerk, geschrieben 1610, wenn auch nicht das letzte, wie lange vermutet. Sein Kernthema ist: Was ist die wirkliche Welt, wenn es nur subjektive und überdies einander widersprechende Sichtweisen gibt, die sich zu keiner übergreifenden gültigen Wahrheit vereinen lassen? Es ist ein Thema, das vier Jahrhunderte danach in Kognitionswissenschaften und Physik eine Renaissance erlebt. Shakespeare konstruiert ein Labyrinth, in dem die ZuschauerInnen auf eine Vielzahl unterschiedlichster Themen stoßen, die im Lauf des Stücks sich gegenseitig überlagern und ihn in ein Chaos der Gedanken und Emotionen stürzen.

Aus der Vielzahl der Probleme des Stücks will ich mich auf ein einziges Thema beschränken, eines, das noch nicht einmal sein Hauptthema ist, aber im Lauf der Rezeptionsgeschichte stark in den Vordergrund gerückt ist. Ausgelöst wurde dies vom Befreiungskampf der kolonialistisch unterdrückten Völker im letzten Jahrhundert. Es ist das Thema des Kolonialismus. Kaum hat dieser begonnen, seine Herrschaft – ideologisch verbrämt als Zivilisierung sogenannter wilder Völker – über die Kontinente Afrika und Amerika auszubreiten, so zeichnet sich schon auch seine Dystopie ab – so in Shakespeares Drama. Die Handlung ist reichlich vertrackt (ausführlich nachzulesen bei Wikipedia), hier sei nur das für unser Thema Wichtigste skizziert.

Ein Drama – aber worüber?

Der Mailänder Fürst Prospero vernachlässigt seine Regierungspflichten, weil er sich lieber in seine Studien vertieft, und wird von seinem intriganten Bruder Antonio gestürzt. Zusammen mit seiner Tochter Miranda wird er auf dem Meer in einem Boot ausgesetzt und landet auf an uninhabited island. Geographisch müsste diese Insel zwischen Genua und Tunis liegen, doch im Phantasieraum der Dichtung handelt es sich um eine tropische Insel in der Neuen Welt. Als einziger Bewohner der Insel, stellvertretend für deren Bevölkerung, erscheint der Indigene Caliban. Prospero verfügt über magische Kräfte, wird unterstützt von dem ihm dienstbaren Luftgeist Ariel und schwingt sich zum Herrscher der Insel auf. Zwölf Jahre später wird durch eine Fügung des Schicksals Prosperos Bruder Antonio, begleitet vom König von Neapel samt allerlei seriösem und unseriösem Volk, durch einen Schiffbruch auf die Insel verschlagen. In zwei voneinander getrennten Gruppen durchstreifen sie die Insel. Mit ihnen spielt Prospero kraft seiner magischen Künste und mit Ariels Hilfe ein irritierendes Gaukelspiel. Glücklich ist das Ende der Handlung nur für Prosperos Tochter Miranda, die den Sohn des Königs von Neapel heiratet. Prospero selbst steht zwar äußerlich siegreich, jedoch tief resigniert da; er verzichtet auf Rache gegenüber seinem Bruder, entsagt seiner Zauberkraft, entlässt Ariel aus seinem Dienst und kehrt als Regent nach Mailand zurück.

Shakespeares Sturm kann wegen der Offenheit seines Textes auf vielerlei Weise realisiert werden: als Rachedrama von der Vertreibung und Wiedererlangung der Herrschaft; als ewiger Konflikt von Chaos und Ordnung, als Traum vom goldenen Zeitalter, als romantische Liebesgeschichte, als philosophisches Drama, als psychoanalytisches Fallstück Prosperos – und als Kolonialdrama. Um dieses soll es hier gehen. Die Geschichte des europäischen Kolonialismus, an dessen Anfang das Stück steht, hat die zunächst nur burlesk-bösartig verstandene Figur des Indigenen Caliban in ein neues Licht gerückt, ein Licht, das an dieser Figur neue Facetten aufscheinen lässt und an das Stück selbst neue Fragen richtet.

Rule Britannia!

Das Vereinigte Königreich Großbritannien war die größte Kolonialmacht der Geschichte. Seine Kolonien umfassten am Ende des 19 Jahrhunderts fast ein Viertel der bewohnten Kontinente. Die Kolonisierung Nordamerikas begann schon 1583 mit der Gründung einer Kolonie in Neufundland; weitere Kolonien bis hinab in die Karibik folgten. In Anbetracht der Verbrechen aller europäischen Kolonialmächte versteht es sich von selbst, dass auch schon diese frühen Kolonialisierungen mit Beraubung und Versklavung der Indigenen samt Massakern an ihnen einhergingen.

Vor diesem Hintergrund spielt Shakespeares im Jahr 1610 verfasstes und im Jahr danach uraufgeführtes Stück. Wie sehr es mit diesen Ereignissen verflochten ist, zeigt sich daran, dass sein Autor aktuelle Reiseberichte dafür benutzt hat. Deren erster entstammt einem von William Strachey verfassten Brief aus Virginia, datiert vom 15. Juli 1610, der im September desselben Jahres in London eintraf. Stracheys Brief war an die 1606 gegründete und drei Jahre später als Aktiengesellschaft neuformierte Virginia Company gerichtet. Strachey beschreibt darin sehr anschaulich das Schicksal der im Sommer von William Somers geleiteten Expedition zur Unterstützung der Kolonie in Virginia. Deren Schiff legte am 2. Juni 1609 in Plymouth ab, kam am 24. Juli vom Kurs ab und ging vor den Bermudas zu Bruch; die Passagiere überlebten, überwinterten auf der Insel und erreichten im Mai 1610 schließlich Virginia. Das alles sorgte in England für großes Aufsehen.

Im Jahr 1611 erschienen dann zwei weitere einschlägige Berichte. Der eine mit dem Titel A True Declaration of the Estate of the Colony of Virginia beschreibt den Handel der Virginia Company mit der neuen Kolonie. Der andere ist der Bericht des Mitreisenden Sylvester Jourdain auf Somers’ Schiff; er trägt die Überschrift A Discovery of the Bermudas, Otherwise called the Isle of Divels, und in diesem Bericht schildert der Verfasser anschaulich die Erlebnisse auf Bermuda. Shakespeare war mit den Mitgliedern der Company bekannt und hat vermutlich durch sie Kenntnis von den Dokumenten noch vor deren Veröffentlichung erhalten. Es gilt in der Shakespeare-Forschung deshalb als wahrscheinlich, dass er diese Beschreibungen als Anregung bei der Abfassung seines Stücks Ende 1610 benutzt hat. In jedem Fall kann es nicht eine Insel im Mittelmeer sein, auf der Prospero ausgesetzt wurde, sondern aufgrund der im Stück geschilderten exotischen Flora und Fauna muss es sich um die Bermudas handeln.

Vorbild für die Gestalt des Prospero war vermutlich John Dee, ein Universalist, bewandert in Mathematik, Astronomie/Astrologie, Geographie, Alchemie, Kabbalistik, Mystik; er wurde einmal sogar wegen schwarzer Magie angeklagt, jedoch freigesprochen. Über Jahrzehnte war er ein enger Berater von Elisabeth I.; er war ein energischer Förderer der englischen Entdeckungsreisen und bot seine Hilfe bei der Navigation an. In seinem 1577 veröffentlichten Werk General and Rare Memorials Pertayning to the Perfect Arte of Navigation entwickelte er die Vision eines maritimen Weltreichs, eines „British Empire“ (der Ausdruck stammt von ihm selbst) und erhob im Namen Englands Territorialansprüche auf die sogenannte Neue Welt.

Prosperos Brave New World

Zusammen mit seiner kleinen Tochter Miranda auf Bermuda ausgesetzt, schwingt sich Prospero zum Herrscher der Insel auf. Sein Machtmittel ist die Magie, die er ausgiebig studiert hat; ein ihm gewogener Hofmann hat ihm sogar einige wichtige Bücher samt wissenschaftlichen Instrumenten in die Verbannung mitgegeben. Die Magie, die Prospero beherrscht, ist die sogenannte weiße Magie, die in der Renaissance – in Abgrenzung zu der dem Bösen verhafteten schwarzen Magie – als ein durchaus legitimes Mittel zum Erreichen des Guten betrachtet wird. Das reicht bis zu Fausts Hinwendung zur Magie: Ob mir, durch Geistes Kraft und Mund, / Nicht manch Geheimnis würde kund. (Faust I, 178 f.)

Prospero geht es aber nicht um Erkenntnis als solche, sondern um Erkenntnis als Mittel zur Verwirklichung seiner „humanistischen“ Ziele. Die Bermudas gelten zu jener Zeit als „Insel der Teufel“ – Isle of Divels – wie es im Titel des oben zitierten Berichts heißt. Prospero will die Insel in die Zivilisation führen, doch geht es dabei, wie üblich in der Weltgeschichte, nicht ohne Ausübung von Zwang und Gewalt ab, und natürlich immer zum Besten der „unentwickelten Eingeborenen“. Das galt auch für die Zwangsmissionierungen der „Heiden“ zum Christentum, um deren Seelenheil zu retten, denn nur als Getaufte hatten diese Zugang zum Paradies.

„Devils“ also bewohnen „Prosperos Insel“, und als ihr Repräsentant tritt im Stück der Indigene Caliban auf. Sein Name ist ersichtlich ein Anagramm der Bezeichnung Kannibale, engl. cannibal, und er trägt diesen Namen von Anfang an. Prospero hat die Naturgewalten der Insel sich dienstbar gemacht und entwirft nun ein Erziehungs- und Bildungsprojekt für das Inselvolk, also Caliban. Dass dieser vielleicht eigene Moralvorstellungen ausgebildet haben mag, die es wert wären, erst einmal kennenzulernen, kommt dem Usurpator nicht in den Sinn. Sollte der „Wilde“ tatsächlich eigene Vorstellungen von Sittlichkeit haben, dann bewegen diese sich selbstverständlich auf einer primitiven Stufe; es gilt daher, den „Wilden“ auf die Stufe von Prosperos eigener Kultur und Zivilisation zu heben.

Jedoch mutiert seine paternalistische Utopie einer Zivilisierung des „Wilden“ zum dystopischen Zerrbild. Dabei hat er sich mit ihm wirklich alle Mühe gegeben, wie er am Ende des Stücks resignierend feststellt:

Ein Teufel, von Geburt ein Teufel, dess’ Natur
Kein Pfropfreis adeln kann; an dem die Mühe,
Die ich mir menschlich gab, umsonst, ganz umsonst ist;
Und wie sein Leib hässlicher wird im Altern,
Verrottet auch sein Geist.
 
(IV,1)
(Übersetzung von Frank Günther, Der Sturm, München 1996)

Prosperos Zivilisierungsprojekt sollte seine Fortsetzung finden in der erzwungenen Assimilation der australischen Aborigines und, wie unlängst bekannt wurde (SZ vom 9.6.21), bei den Indigenen Kanadas. Dort wurden seit Ende des 19. Jahrhunderts etwa 150.000 Kinder ihren Eltern entrissen und tausende Meilen entfernt in sogenannten Internaten untergebracht, eher Umerziehungslagern, um sie zu „echten Kanadiern“ zu machen. In diesen Einrichtungen, deren letzte erst 1996 geschlossen wurde, herrschten übelste hygienische Bedingungen; in einem Internat wurde ein Massengrab mit 215 Kinderleichen entdeckt, jedes Internat hatte wohl so ein Gräberfeld; eine Untersuchungskommission rechnet mit 25.000 Kinderleichen. Lesenswert dazu ist der dokumentarische Roman Michelle Goods vom Stamm der Cree: Five Little Indians (Harper 2020).

Prosperos Tochter Miranda selbst hat sich die Mühe gemacht, dem „Wilden“ die englische Sprache beizubringen, wobei dieser sie zu vergewaltigen versucht hat, was der Vater verhindern konnte. Der missratene Schüler dankt ihr immerhin dafür, dass er durch ihre Sprachübungen das Fluchen gelernt habe. Es hat allerlei wohlwollende Deutungen der Caliban-Figur gegeben, dergestalt, dass der Primitive eben eine amoralische Natur sei und den Sex mit Miranda ganz naiv als legitime Triebabfuhr betrachtet habe. Das ist gut gemeint, liegt aber falsch.

Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte,
machte eine böse Entdeckung.
 
Georg Christoph Lichtenberg

Denn Caliban als Sohn der Hexe Sycorax (der Name ist eine Zusammensetzung von Schwein und Rabe) und charakterisiert als a devil, a born devil (IV,1) erscheint als eine von Grund auf verdorbene Natur ohne irgendeine Anlage zur Höherentwicklung. Er versteht nur Zwang und körperliche Züchtigung, das einzige, wozu er taugt, ist Sklavenarbeit, und dazu macht Prospero ihn sich dienstbar.

Der Beginn des Stücks zeigt Prospero als gescheiterten und enttäuschten Entwicklungshelfer. Für den widerspenstigen Indigenen hat er nur Worte der Verachtung übrig. Schon in der zweiten Szene des I. Akts beschimpft er ihn als einen abscheulichen Sklaven, einen Erdkloß, ein rohes Vieh, einen giftigen Knecht, vom Satan selbst gezeugt (poisonous slave, got by the devil himself) und im weiteren Verlauf des Stücks als Bastard, Halbteufel, Schildkröte. Er lässt ihn für sich schuften, und wenn Caliban sich nachlässig zeigt, züchtigt er ihn kraft seiner Magie mit qualvollen Leibesstrafen. Denn Prospero ist ein durchaus autoritärer, ja despotischer Charakter. Gleich zu Beginn des Stücks staucht er mehrfach seine Tochter zusammen, dass sie ihm bei der Erzählung seiner Lebensgeschichte ja aufmerksam zuhöre; auch den ihm dienstfertigen Luftgeist Ariel, als dieser ihn einmal dezent an die ihm versprochene Freiheit erinnert, schimpft er rüde als seinen slave und droht ihm:

Maulst du noch weiter, spalt ich eine Eiche
Und pflock dich in ihr knotiges Gedärm,
Bis du zwölf Winter wegheulst.
 
(I,2)

Caliban war einmal selbst Herr der Insel, aber nun sei er, so klagt er, einem Tyrannen unterworfen, einem Zauberer, der mich durch seine Künste um die Insel betrogen hat (III,2). Dies schleudert er Prospero direkt ins Gesicht, und es zeigt Shakespeares Größe, dass er selbst diesem half devil eine würdevolle Verteidigungsrede in den Mund legt:

… Diese Insel
Ist mein, von meiner Mutter Sycorax,
Du stiehlst sie mir. Als du zu Anfang kamst
Hast mich gestreichelt, von mir hergemacht, gabst mir
Wasser mit Beeren drin und lehrtest mich
Das große Licht benennen wie das kleine,
Die brennen tags und nachts. Da hab ich dich geliebt
Und alle Inselwunder dir gezeigt,
Die süßen Quell’n, Salzbrunnen, Fruchtland, Wüste.
Verflucht ich, dass ich’s tat! All die Magie
Der Sycorax – Lurch, Kauz und Kröte über euch!
Denn ich bin, was ihr habt an Untertanen,
Und war mein eigner König; eingestallt werd ich
Ins Felsenloch, indes ihr mir den Rest
Von meiner Insel wehrt.
 
(I,2)

Unter den die Insel durchstreifenden Gestrandeten befinden sich auch zwei Trunkenbolde, denen Caliban begegnet und die er in seiner Naivität als höhere Wesen und Retter von der Sklaverei betrachtet; ihnen will er die Wunder der Insel zeigen:

Ich zeig dir frische Quellen, pflück dir Beeren,
Ich fisch für dich und bring dir Holz genug.
Die Pest auf den Tyrannen, dem ich dien! (…)
Erlaub, dass ich dir zeig, wo Äpfel wachsen;
Und mit den Nägeln grab ich dir nach Trüffeln.
Zeig dir ein Hähernest und lehr dich, wie
Die schnelle Meerkatz fangen; bring dich hin
Zu prallen Haselsträuchern, und vom Kliff manchmal
Hol ich dir junge Tauben. Willst du mit mir gehn?

Die beiden Halunken verlachen ihn und machen ihn betrunken. Caliban ist überglücklich, weil er sich von Prosperos Herrschaft befreit wähnt; in einem Freudentanz jubelt er:

Nie mehr hol ich ihnen Fisch,
Noch Holz zum Feuern,
Lass mich heuern,
Töpfe scheuern gleich nach Tisch.
Ban Ban, Cacaliban,
Hat neu den Herrn – wird neu ein Mann!
Freiheit, Festtag! Festtag, Freiheit!
Freiheit, Festtag, Freiheit!
 
(II,2)
Negeraufstand ist in Kuba,
Schüsse peitschen durch die Nacht,
 
In den Straßen von Havanna,
werden Weiße umgebracht.
 
Hea humbassa, hea humbassa, hea hea ho!„Scherzlied“ zu den Aufständen in Kuba in den 30er-Jahren; bis in die 60er-Jahre in der christlichen „Mundorgel“, noch 1997 im Liederbuch der Burschenschaft „Germania zu Wiener Neustadt“. Der vollständige Text (Trigger-Warnung!) in: https://www.volksliederarchiv.de/negeraufstand-ist-in-kuba/

Nicht einmal hundert Jahre nach der europäischen Entdeckung Amerikas hat der Kolonialismus die Herrschaft über die Neue Welt angetreten, von Beginn an als Eroberung, Beraubung, Ausbeutung und Versklavung der indigenen Völker. Hauptakteure in Europa waren England, Portugal und Spanien; aber auch kleinere Staatswesen bereicherten sich am schwungvollen Handel mit Menschenware, wie z.B. das Kurfürstentum Brandenburg. Sklaven benötigte der Kurfürst selber nicht, da er genügend Leibeigene hatte, lukrativ war der Verkauf der schwarzen Menschen.

Die Erforschung des Sklavenhandels hat ergeben, dass zwischen 1519 und 1867 etwa elf Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner im Rahmen des atlantischen Sklavenhandels nach Nord- und Südamerika verschleppt wurden. Die Umstände dabei waren barbarisch. Die Zahl der beim Transport über den Atlantik Umgekommenen wird auf bis zu 1,5 Millionen Menschen geschätzt. Viele kamen schon vorher um: bei den innerafrikanischen Sklavenjagden und Sklaventransporten sowie während der Wartezeit in den Sklavenforts an der afrikanischen Westküste.

In Adam Smiths Klassiker An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776 wird der Sklaverei nur eine geringe Bedeutung am Wohlstand der Nationen zugemessen, weil sie Innovationen hemme, doch war ihm wohl das enorme Ausmaß der Sklaverei noch nicht bekannt.

Wie steht Marx zur Sklaverei? Er ist gut unterrichtet über die revolutionäre Selbstbefreiung der Sklaven in der französischen Kolonie Saint-Domingue, aus der Haiti 1804 nach einer Revolution gegen die französischen Kolonialherren als erster schwarzer Nationalstaat hervorging, doch neigt er dazu, die schwarze Sklaverei gegen die weiße, die Lohnsklaverei, auszuspielen und damit jene zu entwerten. Gleichwohl erkennt er in der Sklavenbewegung ein revolutionäres Potenzial auch für die Arbeiterbewegung, wenn er schreibt:

Nach meiner Ansicht ist das Größte, was jetzt in der Welt vorgeht, einerseits die amerikanische Sklavenbewegung (…), andrerseits die Sklavenbewegung in Rußland. (…) Dies zusammen mit dem bevorstehenden downbreak in Zentraleuropa wird grandios werden. (…) Ich sehe eben aus der ‚Tribune‘, daß in Missouri ein neuer Sklavenaufstand war, natürlich unterdrückt. Aber das Signal ist einmal gegeben. Wird die Sache by und by ernsthaft, was wird dann aus Manchester?

(Brief an Engels vom 11.1.1860, MEW 30, S. 6 f. Mit Manchester meint Marx symbolisch den Kapitalismus überhaupt.)

Prospero Shakespeare?

So ist von Anbeginn der Utopie von der Kolonialisierung neuer Welten auch schon ihre Dystopie eingeschrieben. Davon zeugt Shakespeares Sturm. Es gibt eine lange Tradition in der Literaturwissenschaft, Prosperos Entsagung von seinen Zauberkünsten als Shakespeares eigenen Abgesang auf seine Dichtkunst zu deuten. So spricht Prospero in seinem Abschiedsmonolog:

Heulenden Krieg schuf (ich;) krachendem Donnerhall
Gab ich das Feuer und brach Jovis’ Eiche
Mit seinem eignen Blitz; den Felsengrund
Hab ich erschüttert, wurzeltief zerschmettert
Pinien und Zedern; Gräber auf mein Wort
Erweckten Tote, barsten, spuckten sie ans Licht
Durch meiner Künste Macht. Doch diesem groben Zauber
Schwör ich hier ab (…) dann brech ich meinen Stab,
Vergrab ihm viele Klafter unterm Fels,
Und tiefer, als ein Senkblei jemals fiel,
Ertränk ich auch mein Buch.
 
(V,1)

Strittig ist, ob Prospero Shakespeares Sprachrohr sei, also ob Shakespeare hier als impliziter Autor in diesem Spätwerk sein Lebenswerk resümiere. Diese Frage muss offenbleiben. Konkret zu fragen aber ist: Wie stand Shakespeare selbst zum Kolonialismus? Die Antworten reichen von der platten Beschönigung des Geschehens im Stück als eines bloß zeittypisch-modischen Exotismus bis hin zu tiefgründelnden Erörterungen des Problems von Chaos und Ordnung.

Was könnte in diesem extrem offenen und von Widersprüchen durchkreuzten Text als wahrscheinlich gelten? Wahrscheinlich ist, dass die gnadenlos negative Zeichnung des Caliban die Auffassung des konservativen Autors selbst widerspiegelt, eine Auffassung, die dem damaligen Zeitgeist entspricht. Zwar taucht schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der „Edle Wilde“ als Gegenbild des von der Zivilisation „unverdorbenen Naturmenschen“ auf, allerdings nur vereinzelt, populär wird er dann im 18. Jahrhundert durch Rousseau und später bei den Romantikern. Shakespeare hatte derlei romantische Vorstellungen sicherlich nicht: Sein Caliban ist ein amoralisches Triebwesen und keiner „zivilisatorischen Verbesserung“ fähig.

Der Barbar ist faul und unterscheidet sich vom Gebildeteren dadurch, dass er in der Stumpfheit vor sich hinbrütetet …

G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Teil III, II. Abschnitt, A, Zusatz

Shakespeare wäre freilich nicht der unvergleichlich große Dichter, wenn er nicht seine ideologischen Schranken überstiege. Gerechtigkeit lässt er Caliban, wie oben schon gezeigt, episodisch widerfahren in dessen Klage über den Verlust seiner Herrschaft über die Insel und in der Empörung über seine Versklavung durch Prospero. Shakespeares Gerechtigkeit reicht aber noch weiter. Der Geist der poetischen Intuition treibt ihn zu einer Wahrheit, die ihn über seine ideologische Beschränktheit hinaustreibt. Diese Wahrheit ist festgehalten in Calibans Monolog über die Schönheit seiner – seiner! – Insel; es sind Verse von unwiderstehlicher Anmut, die Shakespeare, widersprüchlich genug, seinem half-devil und poisonous slave in den Mund legt:

… Die Insel ist voll Klang,
Voll Tönen, Liedern, die erfreun und niemand wehtun.
So manchmal sumseln tausend Instrumente
Mit schwirrend um die Ohr’n; und manchmal Stimmen,
Die mich, wenn ich nach langem Schlaf erwach,
Aufs neu ins Schlafen lullen; dann, im Träumen,
War mir, die Wolken tun sich auf und zeigen Schätze,
Die mich beregnen wollten, dass ich beim Erwachen
Nach neuen Träumen schrie.
 
(III,2)
… and then in dreaming,
The clouds methought would open, and show riches
Ready to drop upon me; that, when I wak’d,
I cried to dream again.

Schönere Verse über menschliches Naturempfinden hat Shakespeare nirgendwo geschrieben.

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