Grundrisse, Nummer 4
Dezember
2002

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Ein Ziel der grundrisse-Redaktion ist es, nicht nur schriftlich die Debatte um wesentliche Fragen gesellschaftskritischen Handelns und Denkens zu führen, sondern auch konkret Veranstaltungen durchzuführen, bzw. uns an solchen zu beteiligen. Papier ist oft sehr geduldig, und eine mündliche Diskussion kann oft rascher zur Klärung unklarer Punkte beitragen. In dieser Hinsicht ist einiges geschehen: Am Volksstimme-Fest organisierten wir ein sehr gut besuchtes Diskussionsforum mit Michael Heinrich zum Thema „Subjekt: Wer macht die Revolution?“; die Debatte wurde am nächsten Tag auf einem grundrisse-Seminar weiter geführt. Im November organisierten wir eine ebenfalls äußerst gut besuchte Podiumsdiskussion zum Thema „Schwarzblau war die Haselnuß? Widerstand ist nicht wählbar!“ auf der verschiedene Aktive aus der Widerstandbewegung diese hinsichtlich unterschiedlichster Aspekte thematisierten – und nicht zuletzt im Hinblick auf die mittlerweile erbärmlich ausgegangene Wahl. Ebenfalls im November debattierte Robert Foltin mit der Bruchlinien-Redaktion über die Aktualität der Empire-Analyse von Negri/Hardt sowie Martin Birkner auf einer KPÖ-Veranstaltung über Bilanz und Zukunft des Europäischen Sozialforums. Natürlich wäre es sinnvoll, diese Debatten hier rückblickend zu reflektieren; dass dies nicht geschieht und wir hier euch keine Berichte vorlegen können hat einen simplen Grund: wir schafften es arbeitsmäßig einfach nicht.

Das soll sich jedoch beim kommenden grundrisse-Seminar, zu dem wir alle LeserInnen der grundrisse herzlich einladen, ändern: Das Seminar soll das in dieser Nummer begonnene und in der Nr. 5 fortgeführte Thema „Staatstheorie und -kritik“ zum Gegenstand haben. Zeit und Ort stehen fest: Freitag, den 10. Jänner 2003 von 15 bis 21 Uhr in der Martinstraße 46, 1180 Wien. Weitere Informationen sowie das genaue Pogramm findet ihr in Kürze auf unserer Homepage: www.grundrisse.net. In der Nr. 5 der grundrisse werdet ihr dann einen Bericht über diese Veranstaltung finden, versprochen!

Geschafft haben es hingegen Martin Birkner und Bernhard Dorfer zum Europäischen Sozialforum in Florenz. Ihre Eindrücke und Erfahrungen findet ihr im Anschluss an dieses Editorial.

Eingelöst konnte bis dato unser Anspruch werden, alle Artikel mit den AutorInnen genau zu diskutieren. Daran wollen wir entscheiden festhalten, da diese Debatten für alle Beteiligten sehr fruchtbar und erhellend sind. Wie formulierte doch Spinoza? „Die Geisteskraft der Menschen ist zu schwach, um alles auf einmal durchdringen zu können; durch Sichberaten, Zuhören und Diskutieren wird sie aber geschärft, und indem sie alle möglichen Lösungen erprobt, findet sie endlich diejenigen, die sie will, die dann alle Menschen gutheißen und woran vorher niemand gedacht hätte.“ (Politischer Traktat, Kapitel IV, § 14) Üblicherweise werden diese Diskussionen mündlich geführt, im Falle von Stefan Gandler, der eine Professur in Mexiko ausübt, musste auf den Austausch von e-mails zurückgegriffen werden. Dies hatte allerdings den Vorteil, dass diese Debatte leicht exemplarisch dargestellt werden kann. Hier einige Auszüge aus den Stellungnahmen einiger grundrisse-Redaktionsmitglieder zum ursprünglichen Artikelentwurf: „Der Artikel weicht aber gleichzeitig dem Thema der Produktivkraft der Arbeit aus. Diese findet ja — unter anderem — ihren Ausdruck in der Menge der Gebrauchswerte, die menschliche Tätigkeit in einem bestimmten Zeitraum produzieren kann. Das heißt ja überhaupt nicht, dass produzierte Gebrauchswerte „höherwertiger“ sind, weil sie in einer Gesellschaft produziert wurden, die eine größere Produktivkraft der Arbeit hat.“, so Franz Naetar. Und Robert Foltin wendete ein: „Ich habe ein Problem mit der ‚Gebrauchswert-Sichtweise‘. Erinnert mich ein bisschen an eine antiimperialistisch-befreiungsnationalistische Sichtweise, die meiner Ansicht nach entsteht, wenn der Kapitalismus andere (nicht nur, aber auch vorkapitalistische) Produktionsweisen unterworfen hat, aber über Handel und Markt ausbeutet (nur unter formeller, nicht unter reeller Subsumtion). Es entsteht die Sichtweise, das ursprüngliche System müsste nur vom Tauschwert, vom Kapitalismus befreit werden, dann wäre alles gut.“ Und Bernhard Dorfer schrieb: „Was die vorgestellten theoretischen Konzepte Echeverrías betrifft: Gebrauchswert/Naturalform der gesellschaftlichen Reproduktion, erweiterter Kulturbegriff (4 Ethen) sowie den Versuch einer produktiven Nutzung der Semiotik respektive Saussurescher Ansätze: Markt- und Wertvergesellschaftung ist nicht ohne kapitalistisch organisierte und kontrollierte Produktion zu denken. Theoretiker in der Nachfolge der Frankfurter Schule neigen dazu, diesen letzteren Bereich auszublenden, da sich wohl nur so die von ihnen behauptete Totalität der Verdinglichung konstruieren lässt.“ Karl Reitter: „Überlegen wir uns die Konsequenzen der Aussagen Stefan Gandlers: Macht der Begriff des Fortschritts überhaupt noch Sinn? Müssen nicht alle Kulturen strikt als gleichwertig, wie etwa die Sprachen, angesehen werden? Ein Kriterium, nämlich die ‚Produktivkräfte und ihre technisch-industrielle Perfektion‘ werden als Kandidatin für Fortschritt klar zurückgewiesen. Gut, aber bedeutet das, dass es deswegen überhaupt keine Kriterien mehr gibt? Die Antwort bleibt eigentlich offen.“ Nun, all diese Einwände beziehen sich auf die ursprüngliche Version des Artikels. Unsere LeserInnen mögen selbst beurteilen, ob die hier skizzierten Einwände — so sie überhaupt geteilt werden — auf die aktuelle Version noch zutreffen.

In diesem Sinne wünschen wir euch allen eine anregende Lektüre und euren FreundInnen und Bekannten ein grundrisse-Abo unterm Lichterbaum!

Die grundrisse Redaktion
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