Amelie Lanier, Transformation Osteuropas
 
1998

Ein eher klein dimensioniertes Pulverfaß: Das Kosovo

1. Das „Problem“

Die Existenz von ethnischen Minderheiten gilt als problematisch, die Minderheiten als Opfer, verschiedene regierende Bösewichte als Täter und die ganze Veranstaltung als Menschenrechtsfrage – wenn diese Minderheiten in Ost- und Südosteuropa leben. Im Unterschied zu Moslems in Bosnien oder Kosovo-Albanern in Serbien gelten die Türken in Deutschland oder die Marokkaner in Frankreich nicht als bedrohte Minderheit, und es rücken keine offiziell beauftragten Diplomaten aus, um zu schauen, wie es diese Staaten eigentlich mit der Volksgruppenpolitik halten.

Es gibt auch Staaten, die mit ebenso alteingesessenen Bevölkerungsteilen, wie es die Albaner im Kosovo sind, seit geraumer Zeit mindestens genauso rücksichtslos verfahren, wie die serbische Regierung, ohne daß sie von ausländischer Einmischung oder internationalen Sanktionen bedroht sind. Zu diesen Staaten gehören z.B. die Türkei und Israel.

Die Menschenrechts-Waffe wird von der hohen Politik offenbar nach ihrem eigenen Bedarf eingesetzt und hat mit den Zielen und Taten der betreffenden Parteien wenig zu tun.

Zunächst ein kleiner historischer Exkurs: Um allen Vereinigungsträumen zu einem Groß-Albanien den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurde unter Tito der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo proporzmäßig der größte Teil der Ausbildungsplätze, Verwaltungsposten usw. eingeräumt. Gleichzeitig war und blieb die Gegend ökonomisch das Schlußlicht der jugoslawischen Föderation. Das bäuerliche Kleineigentum, wobei der Boden teilweise noch mit mittelalterlichen Methoden bestellt wird, kann die darauf lebenden Großfamilien nicht ernähren, sodaß die Haupt-Einnahmequelle der Kosovo-Albaner seit Jahrzehnten die Überweisungen der Gastarbeiter bilden. In den seligen jugoslawischen Zeiten wurden noch demonstrativ ein paar Fabriken gebaut – unter Protest anderer Teilrepubliken, die meinten, das sei hinausgeworfenes Geld. Diese Fabriken stehen inzwischen alle still, wie viele andere Betriebe in Restjugoslawien. Ein paar Kohlebergwerke und E-Werke ergänzen die ökonomische Landkarte des Kosovo.

Das Kosovo war ein typisches Beispiel für die jugoslawische Nationalitäten- und Wirtschaftspolitik: Die dort lebenden Menschen wurden in ihrer völkischen Besonderheit bestätigt und bauchgepinselt, Eingriffe in die Ökonomie zur Verbesserung ihrer Lebensumstände hatten Seltenheitswert. Und die Kosovo-Albaner haben in der Mehrheit diese Politik mitgetragen und waren mit ihr einverstanden: Es ist bezeichnend für die dort herrschende Mentalität, daß es nie Proteste gegeben hat, weil jemand sein Land mit Zugtieren bestellen mußte, im 20. Jahrhundert und in einem Staat, der immerhin Autos, Traktoren, Flugzeuge usw. hergestellt hat und sich zudem als Volksrepublik bezeichnete, also die Behauptung aufstellte, seine Produkte seien für alle Bürger da; oder weil sich jemand in ebendiesem Land als Schuhputzer oder fernab der Heimat an einem Fließband verdingen mußte. Wenn jedoch die Ausbildung in der Staatssprache Jugoslawiens absolviert werden sollte, dann marschierte und marschiert die albanische Bevölkerung des Kosovo geschlossen dagegen auf.

2. Serbischer Einheitsstaat und albanische Subregierung

Als Milosevic seine serbische Erneuerung in Angriff nahm und Serbien zur Führungsnation Jugoslawiens machen – in seinem Selbstverständnis: die Serben wieder in ihre angestammten Rechte einsetzen – wollte, unternahm er die ersten verfassungsmäßigen Schritte im Kosovo. Im März 1989 setzte er im serbischen Parlament eine Änderung der Verfassung der Teilrepublik durch, derer zufolge die regionalen Parlamente der autonomen Provinzen praktisch zur Bedeutungslosigkeit herabsanken. Die Proteste im Kosovo 1989 beantwortete die serbische Führung genauso wie die durch das Regionalparlament erfolgte Ausrufung des Kosovo zur Teilrepublik 1990 nicht nur mit Verhaftungs-, sondern auch mit Entlassungswellen. Zwischen 1989 und 1991 wurde praktisch die gesamte albanische Intelligenz und Beamtenschaft des Kosovo auf die Straße gesetzt, zuletzt mit Berufung auf eine angebliche Verschwörung rund um eine rätselhafte Epidemie alle albanischen Ärzte.

Als Reaktion darauf formierte sich der Demokratische Bund unter Führung Ibrahim Rugovas zur Opposition auf ethnischer Grundlage und rief den kosovarischen „Schattenstaat“ aus, seither hat sich diese „Regierung“ mehrmals in international nicht anerkannten Wahlen von der albanischen Bevölkerung des Kosovo in ihrem „Amt“ bestätigen lassen.

Man muß sich vor Augen führen, was die Einrichtung solcher Zustände politisch bedeutet und unter was für Bedingungen sich seit rund 7 Jahren das Leben der Kosovo-Albaner abspielt.

Wenn von einer in gleicher Relation im Unterrichts- und Gesundheitswesen vertretenen Bevölkerungsmehrheit von 80-90% alle ausgebildeten Kräfte entlassen werden, so bleibt ein Loch, das sich nicht ohne weiteres füllen läßt. Serbien verfügte und verfügt nicht über ein derart reichhaltiges Reservoir an arbeitslosen Hochschulabsolventen, die noch dazu ausgerechnet im Kosovo ihr Glück finden wollen. Das heißt, daß die meisten Schulen und Krankenhäuser von Staats wegen geschlossen wurden und eine diesbezügliche staatliche Versorgung der Albaner auch gar nicht mehr vorgesehen ist. Die serbische Führung hat beschlossen, die Albaner nicht mehr als vollwertige Staatsbürger zu behandeln: Ob ein Kosovo-Albaner lesen und schreiben kann oder an einer Blinddarmentzündung krepiert, ist ihr gleichgültig. Am liebsten wäre es der serbischen Regierung und seinen Parteigängern offenbar, wenn die Albaner geschlossen auswandern würden. Diesen Standpunkt spiegelt ein skurriler Streit wieder, der im Sommer 1996 stattgefunden hat: Der Präsident der Serbischen Akademie der Künste und Wissenschaften (SANU), Aleksandar Despic, gab ein Interview, in dem er die Abtrennung des Kosovo von Serbien befürwortete. Als Grund gab er an, daß die kaninchenhaften Vermehrungsgewohnheiten der Albaner („Bevölkerungsexplosion“) sonst die Serben in einigen Jahrzehnten zu einer Minderheit im eigenen Land machen würden. Also sollte man sich dieser Zeitbombe schnellstens entledigen und die Grenzen dicht machen. Der besorgte Patriot wurde daraufhin von verschiedenen Seiten als Vaterlandsverräter beschimpft, der die territoriale Einheit Serbiens gefährdet. (OMRI – Internet-Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty, 16.4. 1996. Man beachte das Primat der Politik in der Wissenschaft!) Noch weiter ging später der Präsident Restjugoslawiens, Zoran Lilic: Wenn die Kosovo-Albaner einen eigenen Staat wollten, könnten sie ja nach Albanien auswandern! (OMRI, 2.6. 1997)

Die Albaner haben ein mittels einer bei den Gastarbeitern eingehobenen Steuer finanziertes notdürftig funktionierendes alternatives Bildungs- und Gesundheitswesen aufgezogen: Unterricht in Kellern von Privathäusern, Ordinationen im Hinterzimmer, ständiger Mangel an Medikamenten, Geräten, usw. Dieses Treiben ist, wie man immer wieder hört, zwar illegal, wird aber von den serbischen Behörden „geduldet“. „Geduldet“ heißt: es wurden keine offiziellen Razzien oder großflächige Militäraktionen gesetzt, um illegale Wahllokale oder Schulen auszuheben. Gleichzeitig hat die vor Ort befindliche serbische Polizei alle Freiheiten für Erpressung, Terrorakte und persönliche Bereicherung und sie nutzt diese auch nach besten Kräften aus. Das heißt, daß Kosovo-Albaner aller Altersstufen bei gewöhnlichen alltäglichen Tätigkeiten ständig illegale Akte setzen und ebenso ständig mit Repressionsmaßnahmen rechnen müssen. Jedes Jahr gab es Tote bei Schießereien von serbischen Polizisten oder Zivilisten, die wahllos auf irgendwelche Albaner zielten und sich nachher rechtfertigten, sie hätten sich bedroht gefühlt. Wenn es überhaupt zu einem Verfahren kam, kamen sie mit ziemlich milden Strafen davon. Für 1995 wurden vom Helsinki-Komitee 2.666 Fälle von Folter in Polizeihaft gemeldet. (OMRI, 15.4. 1996)

Die Schul- und Hochschulabschlüsse des albanischen Schattenstaates werden zudem von keinem Land anerkannt, sie sind außerhalb des Kosovo wertlos. Im Kosovo selbst übrigens auch, wenn man von dem ihnen zugeschriebenen ideellen Wert absieht.

3. Zentralmacht und Separatismus

Es ist klar, daß sich ein solcher Zustand zeitlich nicht unbegrenzt fortsetzen läßt. Von Seiten der serbischen Regierung war es zunächst wichtig, sich die formelle Unterstützung des Kosovo im Verfassungsstreit mit den anderen Teilrepubliken zu sichern. Während der Kriege in Kroatien und Bosnien wollten Milosevic und sein Team keine zusätzliche Front im Kosovo eröffnen und beließen deshalb den status quo. Nach der durch die NATO verursachten völligen Niederlage Serbiens im jugoslawischen Bürgerkrieg wandte sich die serbische Regierung wieder ihrer ihren eigenen Problemzonen zu, um wenigstens einen weiteren Zerfall des Restgebietes zu verhindern. Dabei mußte sie feststellen, daß es dort mehr denn je an der „Einheit, die Serbien allein retten kann“, fehlte. Im Kosovo sind die ökonomischen und politischen Bande zwischen Regierung und Volk sehr dünn geworden und die serbische Verwaltung hat tatsächlich den Charakter einer feindlichen Besatzungsmacht bekommen, die nur mehr negativ-repressiv in Erscheinung tritt und keine nützlichen Dienste mehr leistet.

Von Seiten der Rugova-Partei LDK war die Ausrufung des Sub-Staates und seine Aufrechterhaltung und Bestätigung durch Wahlen ein demonstrativer Akt an das Ausland. Die Politiker der LDK wissen, daß Separatismus nur mit Hilfe mächtiger auswärtiger Paten eine Chance auf Verwirklichung hat, und sie wurden durch die Anerkennungspolitik der EU und der USA bei der Abspaltung der jugoslawischen Teilrepubliken in ihren Hoffnungen auf Selbständigkeit bestärkt. Wenn ein unabhängiges Slowenien erwünscht ist und unterstützt wird, warum nicht auch ein unabhängiges Kosovo? Mit ihrem passiven Widerstand wollten sie beweisen, daß sie regierungsfähig und demokratiereif sind, also alle Forderungen erfüllen, die anspruchsvolle tonangebende Staaten an ihre Geschöpfe stellen. Und viele Kosovo-Albaner halten augenscheinlich auch heute noch den friedlichen Appell an ihre vermeintlichen Schutzmächte für den richtigen Weg, wenn sie gottgefällig-fromm auf Demonstationen Bilder „ihrer“ Mutter Teresa vor sich hertragen und einen NATO-Einsatz fordern.

4. Das geliebte Ausland

Die erste Adresse für die Abspaltungs-Hoffnungen sind natürlich die Mächte, die schon in der bisherigen Einmischung in den jugoslawischen Bürgerkrieg ihr segensreiches Wirken entfaltet haben, die USA und die EU-Staaten, in erster Linie die BRD.

Die definitive Entscheidung über das Schicksal des Kosovo war das Abkommen von Dayton Ende 1995. Mit diesem Friedensdiktat wollten die Großmächte einen Schlußstrich unter die von ihnen selbst einige Jahre zuvor noch hofierten Separatismen und Spaltungstendenzen im ehemaligen Jugoslawien setzen. Auf Einmischung wollten sie natürlich weiterhin nicht verzichten, doch den verschiedenen Parteien auf dem Balkan wurde signalisiert: Miteinander, nicht gegeneinander.

Dem Drängen der nach Genf und Dayton angereisten Vertreter der LDK, doch wenigstens eine Klausel über den Status des Kosovo in den Vertragstext aufzunehmen, wurde nicht stattgegeben.

Es begannen Visiten der LDK-Politiker in verschiedenen Hauptstädten, um die Anerkennung Restjugoslawiens zu verhindern, weil das endgültig die Festschreibung des Kosovo als Teil Jugoslawiens bedeutet hätte. Die Versuche waren nur teilweise erfolgreich: Bis Ende April 1996 hatten fast alle EU-Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Restjugoslawien anerkannt. (OMRI, 19.4.1996) Die USA hielten sich noch zurück. Damit war die Kosovo-Frage zu einem Streitpunkt zwischen EU und USA bei der Betreuung des Balkans geworden. Gleichzeitig wurde immer klarer, daß ein unabhängiges Kosovo von keiner Großmacht gewünscht wurde. Der LDK wurde seither durch diplomatische Kanäle schon mehrmals signalisiert, sie solle endlich ihren Frieden mit Belgrad machen.

Ein zwar weltpolitisch bedeutungsloser, aber für die politische Psychologie des Kosovo wichtiger Faktor war die Unterstützung Rugovas durch die albanische Regierung. Sali Berisha hat seinen ersten Wahlkampf unter anderem mit der Beteuerung geführt, sich um die Wiedergeburt der albanischen Nation zu bemühen und die Bande zum Kosovo zu verstärken. Berisha war redlich bemüht, Albanien zu einem NATO-Vorposten zu machen und versäumte keine Gelegenheit, auf seinen Auslandsbesuchen auf das Problem des Kosovo hinzuweisen, dessen sich doch das Ausland endlich annehmen möge. Finanzielle Hilfen für die LDK von Seiten Albaniens wird es wohl auch gegeben haben, aber darüber weiß niemand etwas genaues, es ist daher müßig – wie Belgrader Zeitungen es wiederholt getan haben – sich darüber in Spekulationen einzulassen.

Mit dem Sturz Berishas hörte diese mehr ideelle als materielle Unterstützung zunächst auf. Daß sich die Beziehungen zwischen der LDK und der neuen albanischen Regierung eher kühl gestalteten, liegt vor allem daran, daß die Regierung Nano bis heute voll damit beschäftigt ist, sich erst einmal im eigenen Land Autorität zu verschaffen. Diese Regierung kontrolliert ihr eigenes Territorium nicht, kann ihre Grenzen nicht überwachen und hat wenig Macht über das Tun und Treiben ihrer Untertanen. Die Unterstützung, die die Kosovo-Albaner heute in Form von Waffenlieferungen erhalten, wird nicht von der Regierung Albaniens geleistet, sondern von Privaten, hinter denen vermutlich teilweise die inzwischen in der Opposition befindliche Berisha-Partei steht.

Außerdem hat der Niedergang Albaniens dazu geführt, daß der Plan einer Vereinigung des Kosovo mit Albanien wenig Anziehungskraft besitzt und bisher weder von der LDK noch von einer anderen Partei gefordert worden ist. Bei den trostlosen Einkommensquellen, auf die die Bevölkerung beider Länder verwiesen ist, erscheint es doch noch als erstrebenswerter, in mitteleuropäischen Fabriken zu arbeiten und nicht auf griechischen Baustellen. In den letzten Jahren hat allerdings eine neue Kraft die Bühne betreten:

5. Der Störfaktor UÇK

Inzwischen ist im Kosovo eine Generation herangewachsen, die jahrelang in Kellern das Alphabet gelernt hat, sich in Garagen verarzten und von der serbischen Polizei hat schikanieren lassen, und die davon die Nase voll hat.

Für die unmittelbar auf die Ermordung eines Albaners durch einen serbischen Zivilisten im April 1996 folgende Ermordung von 5 Serben in verschiedenen Städten des Kosovo übernahm erstmals die „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK) die Verantwortung. (OMRI, 23.4.96) Ihr „Tätigkeitsbereich“ umfaßte auch Anschläge auf Heime von serbischen und montenegrinischen Flüchtlingen aus Albanien, der Krajina und Bosnien, und auf Polizeistationen in verschiedenen Ortschaften. 1996 wurden mindestens 8 Serben von der UÇK getötet. In ihren an diverse in- und ausländische Medien gerichteten Schreiben kündigte die Organisation Ende 1996 an, künftig streng gegen albanische „Kollaborateure“ mit dem serbischen „Besatzungsregime“ vorzugehen. Als Ziel gab die UÇK damals noch die vollständige Selbständigkeit des Kosovo an. Seither hat diese Organisation mehr als 10 Albaner, meist Mitglieder der Regierungspartei, und weitere Serben, Zivilisten und Polizisten erschossen. Die Region Drenica wurde von der UÇK als „befreites Gebiet“ betrachtet, mehr als die Hälfte der Anschläge und Morde des Jahres 1997 fand in dieser Region statt. Im Jänner 1998 kündigte die UÇK den Übergang zum bewaffneten Kampf an, erstmals ausdrücklich für die Vereinigung des Kosovo mit Albanien. (OMRI, 5.1.98) Gleichzeitig dehnte sie ihren Aktionsbereich aus und verübte erstmals Bombenanschläge in Mazedonien. (OMRI, 9.1.98)

Ein Großteil der Kosovo-Albaner sympathisiert mit der UÇK, weil die bisherige Politik der LDK nicht das erstrebte Ergebnis gebracht hat. Das ist der eine Grund, warum sich Rugova und seine Gefolgsleute bis heute nicht ausdrücklich von der UÇK distanziert haben: Sie fürchten, damit die ihnen so wichtige Unterstützung der Bevölkerung bei den Wahlen zu verlieren und damit ihr politisches Gewicht bei ihren „ausländischen Freunden“. Außerdem wäre es für die LDK inhaltlich schwer, die UCK zu verteufeln: Sie hat ja das Ziel Rugovas, die Unabhängigkeit des Kosovo zu erreichen, übernommen, nur die von ihm angepriesenen Mittel verworfen.

6. Terror und staatliche Repression

Solche Aktivitäten würde keine Staatsmacht auf ihrem Territorium dulden, am allerwenigsten diejenigen, die seit dem Anfang der Kämpfe im Kosovo Milosevic zur Mäßigung aufrufen. Die Polizei hat von Anfang an versucht, gegen die UÇK vorzugehen, mit geringem Erfolg. Seit 1996 gab es mehrere Prozesse, bei denen jeweils zwischen 15 und 20 willkürlich verhaftete, in Polizeihaft gefolterte Männer in geschobenen Verfahren zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Der Hauptbeweis gegen die Angeklagten waren stets bei ihnen gefundene Waffen. Das beweist aber gar nichts. Im Kosovo sind Gewehre und Pistolen die wichtigsten Ausstattungsstücke des erwachsenen Mannes. Mit ihnen werden die Grenzen des Grundbesitzes überwacht, außerehelicher Geschlechtsverkehr bestraft, die Blutrache vollstreckt, kurz: „Haus und Hof verteidigt“. In den Bauernhöfen, wo mehrere Familien unter einem Dach leben, kommen daher bei Polizeirazzien jede Menge Schießprügel zum Vorschein, ohne daß damit die Zugehörigkeit auch nur eines Familienmitgliedes zur UÇK bewiesen wäre.

Eine andere Form der Terrorbekämpfung war aber gar nicht möglich: Die albanische Bevölkerung des Kosovo unterstützt und deckt die UÇK, entweder aus Sympathie oder aus Angst, sonst als „Kollaborateur“ „hingerichtet“ zu werden. Durch die Maßnahmen der Polizei hat die UÇK sogar noch mehr Zulauf erhalten und ihren Tätigkeitsbereich erweitert. Die Regierung kam zu dem Schluß, daß ein gröberes Einschreiten angesagt war. Es war dabei offenbar schwierig, in Restjugoslawien Unterstützung für das militärischen Einschreiten im Kosovo zu finden. In der Vojvodina eingezogene Reservisten weigerten sich, dem Befehl Folge zu leisten und wurden teilweise mit Polizeigewalt vorgeführt. (OMRI, 10.2.98) Der Präsident Montenegros benützt seit einiger Zeit die Kosovo-Frage, um sich als besonnenere Alternative zur jugoslawischen Regierung zu präsentieren, von seiner Seite war keine Unterstützung zu erwarten. Auch das jugoslawische Militär hat eine Zeitlang, im Unterschied zu Diktaturen anderswo auf der Welt, das Durchgreifen im Kosovo nicht unterstützt. Es ist unklar, welche Truppen eigentlich bei dem ersten Zuschlagen in Drenica am Werk waren. Die Rede war von „Spezialtruppen“, „paramilitärischer Polizei“, „Truppen des Innenministeriums“. Augenzeugen zufolge sollen die „Tiger Arkans“, die sich schon in Bosnien und Kroatien als Schlächter betätigt haben, in Drenica eingesetzt worden sein. (Süddeutsche Zeitung, 10.3.98. Aktivitäten Raznatovics sind auch wahrscheinlich, weil er Abgeordneter für den Kosovo im serbischen Parlament und häufiger „Gast“ im Kosovo ist.) Unter den bosnischen Serben sollen Söldner angeworben worden sein. (OMRI, 10.3., mit Berufung auf die Sarajevoer Zeitung „Oslobodenje“)

Bemerkenswert ist schließlich die Rolle der USA, deren Vertreter sich weigern, die UÇK als „terroristische Organisation“ zu bezeichnen, (OMRI, 8.1.98) – eine Zauderlichkeit, die bei der Beurteilung ihrer eigenen Militia-Aktivisten, peruanischer Rebellen oder der Hamas nicht zu beobachten ist.

7. Die Kosovo-Serben

Vor 20 Jahren lebten weitaus mehr Serben im Kosovo als heute, wo sie nur mehr rund 10% der Bevölkerung stellen. (Die Angaben über Anteile und Bevölkerungswachstum für den Kosovo (auch für Mazedonien und andere Regionen mit „Minderheitenproblemen“) sind problematisch. Volkszählungen werden von einer Seite boykottiert, von der anderen gefälscht, dann finden ebenso unzuverlässige „Schätzungen“ statt, die statistischen Daten werden manipuliert: Tote erstehen in ihnen auf, usw.) In den 70-er und 80-er Jahren fand eine kontinuierliche Abwanderung der Serben aus dem Kosovo statt. Ein Grund war die triste ökonomische Lage der Region, ein anderer auch die Polarisierung und der Haß zwischen den Volksgruppen. In solch einem Klima lebt man nicht gerne, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt, noch dazu als Angehöriger einer Minderheit, die die Serben im Kosovo ja sind. Diejenigen, die geblieben oder nach 1989 dorthin gezogen sind, haben eine ähnliche Einstellung zu dem Boden, auf dem sie leben, wie die jüdischen Siedler im Westjordanland: Sie sind bereit, ihn und ihre Nation mit allen Mitteln zu verteidigen und sich auch bei Gelegenheit selbst als Vollstrecker nationaler Verteidigung nach ihren Vorstellungen zu betätigen, wenn sie meinen, daß die Behörden gegen die Umtriebe der Albaner zu lasch vorgehen.

Im Kosovo hat Milosevic bis heute seine überzeugtesten Anhänger. Mit in Autobussen herangekarrten und mit Schnaps getränkten Kosovo-Serben wurde 1989 in Novi Sad die Auflösung der Autonomie der Vojvodina eingeleitet und gefeiert. Wenn Milosevic irgendwo einen medienwirksamen Auftritt plant und ein fanatisiertes Publikum wünscht, greift er gerne auf Kosovo-Serben zurück, die dann nötigenfalls von weither herbeigeschafft werden. Die politische Organisation der Kosovo-Serben, die den schönen Namen „Pfingstrose“ trägt, fordert die jugoslawische Regierung regelmäßig auf, sie vor dem albanischen Terror im Kosovo zu schützen und die Abspaltung des Kosovo zu verhindern – bietet der Regierung damit also den willkommenen Anlaß fürs Zuschlagen. Kosovo-Serben haben als Freischärler in Bosnien gekämpft. Viele von ihnen besitzen eine Waffensammlung, vor der eine albanische Großfamilie vor Neid erblassen würde.

Die Serben des Kosovo finden bei der ausländischen Presse wenig Sympathie, obwohl ihr völkisches Denken sich von dem der Albaner nicht unterscheidet. Die Serben wollen einen Kosovo ohne Albaner, die Albaner einen Kosovo ohne Serben. Deren Willen, den Kosovo mit allen Mitteln als serbisches Territorium zu verteidigen, verdankt sich auch der Situation, in der sich Restjugoslawien heute befindet. In dem von Krieg, Abbruch der früheren Wirtschaftsbeziehungen mit den Ex-Republiken und internationalen Sanktionen schwer getroffenen Land lebt mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aus Slowenien, Kroatien und Bosnien. Die Zahl steigt weiter an durch ständig stattfindende Abschiebungen aus mitteleuropäischen Staaten, die Serbien als „sicher“ einstufen. Diese Flüchtlinge sind in ihrer Mehrheit Leute, die an den diversen Bürgerkriegen gerade nicht teilnehmen wollten und eben deswegen abgehaut sind, – einerseits, um nicht zum Militär eingezogen zu werden, andererseits, um nicht Opfer von Racheakten zu werden.

Würde sich das Kosovo von Jugoslawien loslösen, also die territoriale Integrität Serbiens angetastet werden, was geschähe dann? Verabschiedet sich Montenegro, um dem schlechten Ruf, den Restjugoslawien international hat, abzustreifen? Endet die serbische Herrschaft über den Sandschak, obwohl dort das Verhältnis Moslems:Serben 50:50 steht? Bekommt die Vojvodina Unabhängigkeits-Gelüste? Reduziert sich vielleicht das Territorium, in dem Serben noch leben dürfen, auf Belgrad und Umgebung?

Das sind Befürchtungen, die man als absurd abtun mag – aber war der Zerfall Jugoslawiens vor 10 Jahren vorstellbar? Die EU und die USA haben im jugoslawischen Bürgerkrieg mehrmals ihre Positionen gewechselt – wer weiß, was als nächstes Programm der Staaten wird, die die Welt beherrschen?

8. Im Kosovo stirbt sichs leicht, lebt sichs schwer

Der Balkan ist (wieder) zum Exerzierfeld der Konkurrenz der Großmächte geworden. Am Grad der Einmischung, der Entscheidungskompetenz über die neuen Kleinstaaten messen sich der Weltpolizist USA und die mit gleichartigen Ambitionen vollgestopften Mitglieder der EU aneinander. Mit diesen Schutzmächten kalkulieren die Potentaten und Möchtegern-Paschas der Region, wenn sie ihre ihre jeweiligen Völkerschaften für die eigenen politischen Ziele einsetzen und verheizen. Diese wiederum geben sich mehrheitlich dafür her.

Sich dem Ganzen durch Flucht zu entziehen, ist für einen Bewohner des ehemaligen Jugoslawien, Albanien oder Bulgarien schwierig geworden: Ein Flüchtling aus diesen Regionen gilt als „Wirtschaftsflüchtling“, der aus niedrigen eigennützigen Motiven die vollen Boote Mitteleuropas zum Kentern bringen will. Asylbewerber, die als Grund die Weigerung, sich im Bürgerkrieg einsetzen zu lassen, angeben, werden abgewiesen: Kriegsdienstverweigerung ist kein Asylgrund.

Ökonomisch ist das Kosovo eine Region – wie alle an ihn angrenzenden Gebiete –, wo die landwirtschaftliche Subsistenz, der Schmuggel, der Raub und die Auslandsüberweisungen die einzigen Einkommensquellen darstellen. Daran würde eine Unabhängigkeit des Kosovo nichts ändern. Die FAO befürchtet eine Hungersnot: Schon bisher war das Kosovo auf Lebensmittelimporte angewiesen. Von 1991 und 1996 ist die Weizenproduktion um 50% zurückgegangen. Die jahrelang kaum gedüngten Böden sind zunehmend erschöpft, Fluchtbewegungen als Folge der staatlichen Repression gefährden die flächendeckende Bestellung der nutzbaren Flächen ebenso wie den Transport der Produkte in die Städte. Jeder Mord und jede Verhaftung – die hauptsächlich erwachsene Männer betreffen – reduzieren die Produktivität der extrem arbeitskräfteintensiven Landwirtschaft weiter. (El País, 19.3.1998)

Eine „Lösung“ ist nicht abzusehen: Die Standpunkte der streitenden Parteien schließen einander aus. Man kann sich auf eine Fortsetzung des Konfliktes gefaßt machen.

Geschrieben für ak – Analyse und Kritik im Frühjahr 1998, auf ausdrückliche Aufforderung der Redaktion. Ohne Angabe von Gründen nicht veröffentlicht.

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