FORVM, No. 426/427
Juni
1989

Es war auch mein Fehler

Bruno Kreisky
Klaus Kufner: Auf welche historische Wurzeln können junge Sozialisten heute zurückgreifen, um wieder zu einem gesunden Selbstbewußtsein zu kommen? Denn derzeit sieht es so aus, als wäre die Sozialdemokratie in einer Umstrukturierungsphase.

Bruno Kreisky: Naja, ich weiß nicht, ob man das als Umstrukturierung bezeichnen kann. Hier wird einfach der Versuch gemacht, aus der Grundsatzlosigkeit einen Grundsatz zu machen. Denn ich sehe nirgends weit und breit auch nur eine Spur eines neuen Signals. Und was ich so höre, gelegentlich, ist eine inhaltslose Substanz, eine substanzlose Sache; da wird von neuen Zielen geredet, von einer veralteten sozialdemokratischen Ideologie — das ist ja der blanke Unsinn. Deshalb — und nicht weil ich ein konservativer Mensch bin, sondern die andern — sie schieben die Ideenlosigkeit des Thatcherismus und Reaganismus, sie versuchen so rasch als möglich, in diese Ideenlosigkeit unterzuschlüpfen und übersehen ganz, daß die Ideenlosigkeit nicht mehr zeitgemäß ist. Sie sind damit sozusagen außer Rand und Band geraten. Sofern es sie überhaupt gibt; ich kenne nur so drei, vier Aussprüche, sonst sehe ich keine Aussprüche.

Die Partei selbst, die ja — wie ich schon seit langem sage — mindestens über ein halbes hundert, ich gebe zu, sogar ein ganzes hundert sehr begabte Leute aller Kategorien und aller Altersklassen verfügt, worunter die Ältesten so ungefähr über 50 und 60, und die Jüngsten, noch heute für mich sichtbar, unter 30 sind; so daß also ich die ganz jungen ausschließen muß, weil die kenne ich ja nicht, außer in Versammlungen, da habe ich sie erlebt im vorigen Jahr, als die Tage des Februar und März sozusagen von mir historisch behandelt wurden. Denn die heutige Regierung, die sogenannten Sozialisten in der Regierung, die haben sich ja konzentriert auf die paar Gedenktage, und die waren ja kläglich. Die waren für den Austrofaschismus und nicht für die österreichische Sozialdemokratie. Ich gebe also ein sehr hartes Urteil ab, aber es ist höchste Zeit, daß man das tut.

Diese Schonung, die man manchen Menschen angedeihen läßt, ist ja unbegründet, weil es ja ein Verbrechen ist an der Zukunft der Partei; so wird sie langsam überhaupt keine Zukunft mehr haben und wird eine Existenz, die um die 40% herumpendelt, führen müssen. Die niedrigste Zahl, die die Sozialdemokratie überhaupt in dieser zweiten Republik erreicht, wenn ich absehe von den absoluten Mehrheiten. Aber auch wenn die Sozialdemokratie Niederlagen erlitten hat, dann waren sie so bei 42,5%; schließlich und endlich haben wir das alles überwunden. Konnten es ja nur überwinden, weil wir mit Recht sagen konnten, wir haben die Jugend für uns gewonnen.

Jetzt ist ja die junge Generation nicht so zahlreich, die älteren machen ja mehr aus. Die Menschen über dreißig sind ja viel mehr als die unter dreißig; das ist ja klar, das gehört zum Wesen — ist natürlich. Also ist die Frage, mit welchen Problemen sind sie konfrontiert. Da kenne ich das sehr genau, und es ist sehr merkwürdig, daß bis vor kurzem sich niemand von der Parteiführung, sogenannten Parteiführung — denn geführt wird ja die Partei nicht; man sieht ja fast nie, daß jemand was führt — dafür interessiert. Man hat so das Gefühl und versucht etwas zu managen, was man nicht managen kann in Wirklichkeit, da paßt dieser Ausdruck gar nicht. Nein. Und jetzt kommt die Frage, ja in welcher Weise interessiert man sich für das Schicksal der jungen Generation; man kann ja nicht sagen „Jugendbewegung“, das ist ja an sich nicht das Optimale, man muß sich fragen, welchen Problemen wird die Jugend von heute konfrontiert. Und da gilt auch sonderbarerweise für Österreich — aber das weniger als für andere — die Tatsache, daß wir ja eine gewaltige Arbeitslosigkeit in Westeuropa haben.

Von Osteuropa will ich gar nicht reden, denn da wissen wir ja nicht wirklich, wie die echte Arbeitslosigkeit aussieht, wenn sie in Erscheinung treten würde.

Wir haben das Phänomen einer riesigen Arbeitslosigkeit, riesig ist sicher nicht übertrieben, denn die Zahl der Arbeitslosen der großen Krise der letzten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, diese große Krise war zahlenmäßig kleiner als die jetzige Krise allein in Westeuropa. Ich weiß nicht, was die Arbeitslosigkeit damals ausgemacht hat, sie war so um die 15 Millionen oder weit weniger, 13 — ich hab’s jetzt nicht im Kopf. Wir haben ja jetzt eine Arbeitslosigkeit von über 20 Millionen, und das, was da so hie und da an Besserung gemeldet wird, das sind janur Randentwicklungen, Randerscheinungen.

Eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit, wie wir sie einmal gehabt haben, mit Vollbeschäftigung — „ausartend“, wie viele glaubten, unter Anführungszeichen, die gibt’s ja nicht, außer in Skandinavien, außer in Schweden vielleicht. In Österreich ist es natürlich eine Spur besser, denn wir leben ja von dem, was wir uns in manchen Jahren geschaffen haben und an denen wir noch heute arbeiten. Jetzt sind wir ja mitten in der Hochkonjunktur, in der allgemeinen wirtschaftlichen Hochkonjunktur, und haben eine gigantische Arbeitslosigkeit von 20 Millionen. Und da gibt es jetzt Leute, sogar bis tief in die Reihen der sogenannten Sozialdemokraten, die sagen, no ja, das ist halt die Entwicklung zur Zwei-Drittel-Gesellschaft. Das ist eine Brutalität sondergleichen, weil wer das sagt, sagt gleichzeitig, wir verzichten auf das eine Drittel — politische Repräsentation des einen Drittels — das wird abgeschrieben. Und man übersieht, daß das ein massiver Verfallsprozeß der Gesellschaft ist.

Die Jugendarbeitslosigkeit, die ja groß ist, ist ein besonderes Problem, und was macht die sozialistische Jugend heute dagegen. Zu unserer Zeit gab es — wir waren schwach, politisch entmachtet, aber wir hatten immerhin für die Jugend versucht, Ersatzlösungen zu finden: „Jugend in Arbeit“, „Jugend am Werk“, für die wir sogar die katholische Jugend zur Mitwirkung gewinnen konnten. Es gab „Jugend in Arbeit“, es gab „Jugend am Werk“ und es gab, drittens, „Jugend in Not“. Heute spricht man nicht davon, obwohl wir eine gigantische Jugendarbeitslosigkeit haben. Hätte die sozialistische Partei, die sozialistische Jugend überhaupt die Möglichkeit, dieser Jugend näherzukommen?

Was ich höre von jungen Menschen — die sind ja die einzigen, die mich ja interessieren und mit denen ich auch zusammenkomme, ob hier oder in Versammlungen von Zehntausenden jungen Menschen am Anfang vorigen Jahres, als wir die „Februar-Tage“ und die „März-Tage“ hatten, da traf ich sie — die Partei ist ja ganz wenig in Erscheinung getreten, zumindest offiziell, sogar die „beruflichen“ Jugendlichen sind ja nicht sehr in Erscheinung getreten, nicht genug jedenfalls, und ich möchte jetzt nicht ausfällig werden, aber man hat es hauptsächlich mir überlassen, zu tausenden jungen Leuten zu reden.

Jetzt die Frage: Kann man dieser Teilnahmslosigkeit oder der Verweigerung der Jungen — denn es ist ja eine Verweigerung; ihrer Organisierung verweigern sie sich. Außerdem ist ja dieses Malheur passiert, wieder einmal, daß aus der Negation der gesellschaftlichen Zustände unsere politischen Gegner profitieren. Anders kann man ja die Entwicklung in den verschiedenen Bundesländern nicht erklären, irgendwoher müssen die ja kommen, das sind ja meistens junge Leute. Das heißt, wir haben es mit einer, für politische Parteien, vor allem für die beiden großen Parteien, mit einem sich Verweigern gegenüber der Organisationsfähigkeit der Jungen zu tun. Und das ist das Problem, das sie richtig gesehen haben, und sie sehen es ja aus der Praxis. Ich sehe es, weil ich mich ja mıt dem Problem der Arbeitslosigkeit beschäftige, daß es vor allem die Jungen sind, die davon betroffen sind.

Die Alten, die arbeitslos sind, das ist ja ein temporäres Problem, das vergeht ja, wenn sie die Segnungen des Wohlfahrtsstaates zu spüren bekommen, die ja sehr bald aufhören, Segnungen zu sein. Außerdem werden sie von den Menschen gar nicht als Segnungen empfunden, denn arbeitslos zu sein ist ja nicht nur eine ökonomische Kategorie, sondern eine psychologische; und zwar massenpsychologische, wie sich zeigt. Man kommt immer und sagt: Es gibt ja Arbeit genug, wenn man nur arbeiten will. Das ist der größte Unsinn. Es gilt nicht allgemein für die Arbeitslosen, vielleicht gilt das für Randgruppen, sogenannte Pfuscher und solche. Die Massen der Arbeitslosen sind ja bei uns in der Obersteiermark, die Gefährdeten sind ja in gewissen geographischen Bereichen — die findet man nicht in Vorarlberg, findet man nicht so sehr in Tirol, die findet man eben in den großen Industriegebieten, die immer kleiner werden.

Mir ist aufgefallen, Herr Dr. Kreisky, daß die sozialistische Partei sich sehr wenig auf die ideologischen Inhalte zurückberuft und auch dazu steht, damit klarstellt, daß das eine geistige Heimat seın kann für Jugendliche. Warum tut sich da die SPÖ so schwer?

Es ist das sehr problematisch und für mich sehr schwer zu beantworten, denn ich komme aus einer Zeit, in der die sozualistische Partei und die sozialistische Jugend die große Heimat der jungen Menschen in Österreich war. Auch in vielen anderen Ländern. Die ist verloren gegangen, und es gibt sehr viele Gründe hierfür — einsehbare und nicht einsehbare — für mich als alten Menschen. Also zum Beispiel war ja das Problem, daß die Jugend sich eigentlich nicht organisieren lassen wollte. Das begann ja schon mit der Tatsache, daß wir regiert haben. Nun ist es aber voreilig und meiner Ansicht nach falsch zu sagen, ja, eine Partei, die regiert, hat’s halt nicht so leicht, junge Leute zu gewinnen, wie eine Partei, die in Opposition ist. Das ist so falsch. Denn gerade in den frühen siebziger Jahren, die ganzen Jahre hindurch, war ja die sozialistische Partei im Aufwind, und sie war im Aufwind, weil ihr die Jungen zugeströmt sind. Sie haben sich vielleicht nicht in dem gleichen Maße organisieren lassen, aber die Politik, die wir gemacht haben, hat die Jungen einigermaßen aufgesogen. Ich erinnere mich noch an den Auslauf der sogenannten Radikalität Ende der sechziger Jahre, also die berühmten Studentenrevolutionen ... eigentlich das Wichtigste: gegen die Gedankenlosigkeit — das sind allerdings nur Kurzformeln Stellung zu nehmen. Also wenn einer sagt, als Regierungspartei kann man net die Jugendlichen gewinnen; wir haben sie bis zum Beginn der siebziger Jahre — wir haben ja 48% in unseren schlechtesten Zeiten gehabt — wir haben also die Jugend gewinnen müssen, anders ist das ja nicht erklärbar.

Wir sind aber gescheitert an folgendem: Gescheitert sind wir auf Grund meiner Ansicht nach — um unsere Fehler aufzuzählen, und zuerst den, an dem ich mitschuld bin:

Ich war nicht mit der gebotenen Klarheit — ich war zwar für eine Meinungsfreiheit in der Frage der Atomenergie, die Volksabstimmung ist ja ein Beweis dafür, daß wir es ernst gemeint haben, denn wir konnten uns ja bei so einer Masse der Ablehnung nicht einreden, daß wir sie hätten gewinnen können; selbst wenn wir sie gewonnen hätten, wär’s so knapp gewesen, daß sie für eine Entscheidung nicht ausgereicht hätte. Nun, wir haben zu spät — ich für meinen Teil sage das ganz offen — wir haben zu spät die Gefährlichkeit der Nuklearenergie erkannt. Viele Sozialdemokraten erkennen’s heute noch nicht. Also die heute herrschende Gruppe von Sozialdemokraten ist ja nur sozusagen, entweder aus totaler Unkenntnis der Konsequenzen oder aus irgendeiner Verharmlosung der Fehler der Vergangenheit heute eigentlich für, und nur gezwungenermaßen gegen die Atomenergie. Wobei man nach Tschernobyl wissen mußte, und ich jedenfalls habe das auch schon früher erkannt, daß das kein Faktor ist, keine Energieproduktion ist, die gefahrlos ist — von ungeheurer Gefährlichkeit, und ich bilde mir nicht ein, ein Fachmann zu sein. Aber ich habe halt doch die vorhandene Literatur gelesen und weiß zum Beispiel, was ein so ernstzunehmender Gelehrter wie Capra über die Gefährlichkeit der Atomenergie sagt. Das hat mich natürlich beeindruckt, und ich sehe das ja auch an meinen gelehrten Freunden; wie Weizsäcker — die Vorbilder — wie Weizsäcker und Weißkopf und andere; sie warnen die Leute vor der Gefährlichkeit der Atomenergie. Sie haben gesagt: verglichen mit den Atombomben, von denen es eine große, gigantische Zahl gibt, sagt Weißkopf, kann man das zur Not akzeptieren, aber auch das glaubt er nicht mehr. Und Weizsäcker selber, der Wissenschaftler, leugnet ja nicht einmal, meint, es ist noch die Umwelt am wenigsten zerstört. Das ist längst vorbei, nach Tschernobyl und anderen Katastrophen wissen wir um die Gefahr der Atomenergie, und das ist zum Beispiel einer der großen Fehler, die man reparieren muß. Man macht ja Fehler, um sie zu verbessern, sie reparieren. Und dazu gehört meines Erachtens die Atomenergie, und es wird immer größeren Gruppen von Menschen die Gefährlichkeit, die tödliche Gefährlichkeit der Atomenergie bewußt, oder sie werden erfaßt von der Gefahr.

Und nun ist also schon die Antwort gegeben: meiner Ansicht nach müßte sich die sozialistische Jugend, will sie eine Zukunft haben, an die Spitze oder mit an die Spitze dieser Bewegung stellen.

Denn es ist nachweisbar, für Leute, dıe wissen wollen, was zu wissen notwendig ist, daß diese Form der Energieherstellung lebensgefährlich und lebensvernichtend für die Zukunft ist. Das müßte man jetzt einmal wissen. Und, muß ich ihnen sagen, die da mitgewillt waren, die liegt ja im Strom der Zeit, die Erkenntnis von der Gefährlichkeit der Atomenergie. Man sagt mir, ich lese es ja, ich verfolge das ja, daß die Zeit der Fusionsenergie früher kommen wird als angenommen. Ich weiß nicht, in den letzten Wochen hat man ja ein großes Experiment gemacht, in der Schweiz hat man das ja, glaube ich, vorgeführt, aber eindeutig war für mich eines: Die Ablehnung der Wissenschaftler war keineswegs apodiktisch, wie das nachträglich von Leuten behauptet wird, sondern sie war jedenfalls zweifelnd, weil Forscher, die ihnen das vorgeführt haben, jedenfalls ernstzunehmende Menschen waren. Und wie das sich letzten Endes sich auswirkt, die Fusionsenergie, weiß ich nicht, was hier noch sein wird in Zukunft, aber jedenfalls: Wir haben, leiden sicher nicht unter einem Energiemangel, sondern wir verschwenden noch viel zuviel Energie, und das alles muß man halt auch als alter Mann lernen und vor allem von Leuten, die das verstehen, die einen beeindrucken, und das hab’ ich getan.

Ich möchte also sagen, eines der Argumente oder ein Mittel, die Jugend zu gewinnen, ist nach wie vor sicherlich die Haltung zur Atomenergie. Denn schließlich und endlich: das sind ja die Jungen, die heranwachsen und alle Folgen der Atomenergie leiden werden und auf Generationen hinaus unabsehbar leiden werden, immer mehr. Daher ist meine Antwort die: es ist einfach ein Gebot der Stunde, und es ist höchste Zeit. Den Vorwurf konnte man der sozialistischen Jugend nicht machen — die haben das erkannt, sie hatten nur nicht die Kraft gehabt (da bin ich selber auch schuld), gegen Zwentendorf zu sein. Denn wir waren es ja selbst nicht. Und manche von uns sind’s jetzt geworden und nur weil sie’s gelernt haben, erkannt haben, wie gefährlich das alles ist und daß alle diejenigen, die dafür sind, leichtfertig das Schicksal der zukünftigen Generation aufs Spiel setzen.

Also einen Vorwurf kann ich daraus nicht Cap und Genossen machen, da waren sie ja mit an der ersten Linie allerdings, und das hat ihnen einigermaßen geholfen. Aber je regierungsfähiger Cap und Genossen werden ... da sind nicht viele gefolgt. Je schwächer die Stimmen derjenigen sind, die da festhalten, desto schwächer wird die Partei sein. Und jetzt kommen die anderen Probleme.

Es gibt ein Phänomen in Deutschland, in Österreich: eine neorechtskonservative Bewegung. In Österreich gibt’s den Haider, der unglaublich dazugewonnen hat, speziell in Kärnten ...

Na überall...

Überall. In Deutschland gibt’s eine rechte Rückzugsbewegung namens Schönhuber mit seinen „Republikanern“, es ging ja sogar noch weiter: in Frankfurt hat ja die NDP massiv Stimmen gewonnen, bis zu 8%. Wie gefährdet ist eigentlich die Demokratie? Willy Brandt hatte noch gefordert: Mehr Demokratie wagen. Und Kreisky: Alle Bereiche mit Demokratie durchfluten.

Ich hab’ das ja erlebt, wie sich gesellschaftliche Bereiche vom Geist der Demokratie, oder der Gesinnung der Demokratie abgewendet haben. Willy Brandt hat das selbe wie ich gefordert: Mehr Demokratie wagen; nur erscheint mir das eigentlich kein großes Wagnis zu sein. Schauen Sie, der Unterschied — und das muß man herausarbeiten, das fehlt mir heute so sehr: man kann ja den Sozialismus nicht so verstehen, daß man ein fertiges Gedankengebäude den heutigen Verhältnissen entgegenstellt. Denn wir leben ja alle in der Zeit der Glasnost und der Perestroika, wie morsch der Kommunismus geworden ist und wie wenig der Kommunismus eine Alternative darstellt; ganz im Gegenteil: Wir erleben den Zusammenbruch des Kommunismus, und wenn eines den Zusammenbruch des Kommunismus aufhalten kann, dann ist es ja nur die Rückkehr zur Tyrannei irgendeines Diktators.

Wäre da nicht die Sozialdemokratie eine wählbare Alternative der Zukunft, im Bereich des Ostblocks?

Die Sozialdemokratie hat jetzt schon eine Mehrheit im Osten. Wir sprechen immer von der Gewinnung der Mehrheit und wissen nicht wie. Ich kann das sagen, weil ich war ja einer, der beteiligt war an der Gewinnung der Mehrheit an sich; heute ist sie ja für uns weit entfernter. Heute trauen wir uns das ja gar nicht einmal zu fordern, als realistische Menschen, das könnte keiner akzeptieren. Die Gewinnung der Mehrheit wird überdies von vielen Menschen als Schlagwort abgelehnt, weil man darin etwas Totalitäres, einen totalitären Anspruch sehen könnte. Ich bin der Auffassung, wir müssen sagen, wir machen uns auf die Suche nach Verbündeten. Wo finden wir sie?

Ich bin nach wie vor der Meinung, der Überzeugung, daß wir die Verbündeten zu einem großen Teil in der katholischen, der christlichen Jugend im allgemeinen finden. Wir müßten ihnen sagen, daß wir bereit sind, ein großes Stück des Weges zusammen mit ihnen zu gehen, wie ich es seinerzeit formuliert habe. Nur habe ich damals gemeint, wenn die zu uns kommen wollen, sind wir bereit, ein großes Stück mit ihnen gemeinsam zu gehen. Da gab es ja keine Alternative politisch. Heute würde ich sagen, wir sollten der Jugend in allen Parteien, in den Parteien sagen, in denen, wo’s uns drauf ankommt, so sollen sie mit uns ein großes Stück des Weges gehen. Und dann werden sie fragen, die jungen Leute: wohin?

Ja, darauf gibt es die Antwort: In der Bekämpfung des immer größer werdenden Elends. Es ist nämlich falsch, wenn die Menschen sagen, es gibt ja heute kein Elend mehr, das ist ja ganz falsch. Wir haben eine ständig wachsende Zahl von working poor. Die working poor in Amerika sind ein Phänomen entsetzlich armer, aber gleichzeitig zur Arbeit gezwungener Menschen, denn sonst können sie ja überhaupt nicht leben, das arme Leben, das sie haben, führen.

Wir müssen dieses neue Phänomen sehen. Die doch rasch wachsende Zahl der Armut, teils durch die Arbeitslosigkeit, teils durch die Unterbezahlung. Man soll nicht sagen, bei uns in Österreich ist das nicht der Fall. Wenn man genau hinschaut, sieht man, wie arm eigentlich auch viele arbeitende Menschen sind. Vor allem weil sie Teilzeitbeschäftigung haben, wie Frauen zum Beispiel.

Wir müßten also sehr viel mehr Solidaritätsgefühl entwickeln, vor allem echtes Solidaritätsgefühl, nicht nur so schwätzen. Es ist grotesk — wenn irgendwo, das ist mir immer wieder aufgefallen, wenn irgendwo eine üble Korruptionsaffäre entstanden ist und man sich in der Partei distanzieren wollte, dann hat man gesagt, das könnt ihr nicht, aus Solidarität, was weiß ich mit wem. Ich habe gesagt, Solidarität muß ein Ziel haben. Solidarität mit einem Bestreben, aber nicht mit einzelnen Menschen, die gefehlt haben, zum Beispiel Korruptionisten, ich nenne keine Namen, wir wissen ja alle, was gemeint ist.

Und wir müßten also ein bißchen mehr von neuem Sozialismus sogar träumen. Da gibt’s natürlich nicht die alten Formulierungen, die alten Formen, aber wir müssen halt neue Formen finden, und die gibt es, wie ich schon gezeigt habe, sonder Zahl, und so möchte ich gerne auch noch dies sagen: Wir sprechen von internationaler Solidarität. Auf diesem Gebiet gibt es gewaltige Bereiche, in denen junge Menschen sich wirklich betätigen könnten. Das riesige Feld der Entwicklungshilfe zum Beispiel. Wir wissen von diesen doch sehr mutigen Leistungen der Solidarität mit den Völkern Lateinamerikas, wir wissen von der Solidarität, von den Bedürfnissen an Solidarität mit den Völkern Afrikas. Hier hätten wir ein neues Betätigungsfeld, aber wer ist dort hauptsächlich heute, die Kirche. Die katholische Kirche erfüllt das. Nun, ich meine, die Theologie der Befreiung ist eine moderne Form, und da sind wieder die Jungen dieser Theologie der Befreiung zuvorgekommen. Wir hätten da natürliche Verbündete, die Internationale ist heute sehr groß geworden, aber wir müssen uns sehr viel mehr den Befreiungsbewegungen zuwenden.

Man sage nicht, wir haben keine neuen Aufgaben. Wir haben gigantische Aufgaben, nur müssen wir sie neu durchdenken und dürfen sie nicht mit einem monopolartigen Denken besetzen. Wir sind ja sowieso für sie. Wir singen ja die Internationale, sagen die Jungen. Ja, wir singen sie, aber wir tun nicht viel dafür. Es wird viel zuwenig auf dem Gebiet der sogenannten Internationalen getan, um Solidarität zu aktivieren. Da haben wir auch wenig neue Ideen eingebracht. Seit Willy Brandt — da sind gewisse Ideen eingebracht — aber wir sind natürlich nicht diese stürmische Aufwärtsbewegung, wie wir sie uns leisten könnten, auch als Sozialdemokraten.

Es gibt doch auch das Problem, daß jetzt die sozialistische Presse ziemlich ins Schleudern gekommen ist. In Deutschland ist der „Vorwärts“ eingestellt worden, und die „Arbeiter Zeitung“ hat auch mehr oder weniger Probleme: die „Arbeiter Zeitung“ war ja eigentlich traditionell ein Reservoir an jungen, kreativen Sozialisten. Und offensichtlich hat auch die jetzige Partei nicht allzuviel Interesse mehr daran, eher noch ein mildes Interesse daran, daß dieses Experimentierfeld für neue Gedankeninnovationen erhalten bleibt.

Wissen Sie, der Grundfehler, den es um die „Arbeiter Zeitung“ herum gibt, ist der, daß wir gedacht haben, sie muß ein Geschäft sein. Das heißt, sie muß mehr oder weniger aktiv sein. Parteizeitungen in der Welt von heute können, wenn die prinzipiengetreu sein möchten, kein Geschäft sein. Aber wir schmeißen so viel Geld bei Wahlkampagnen heraus, wertlos. Wir wissen heute, daß durch eine Wahlkampagne nur ein Bruchteil an Prozenten bewegt werden kann. Wenn überhaupt. Aber wir haben das Geld hinausgeschmissen für teure Plakate und alle möglichen Geschenke und lächerlichen Sachen; wir müßten doch erkennen, daß eine defizitäre Parteizeitung eben eine Notwendigkeit ist. Es ist eine Parteiaufgabe, eine defizitäre Zeitung zu halten, wenn die gut ist. Wenn sie aber anfängt, Konzessionen zu machen, daß sie am Schluß nicht mehr unterschieden werden kann von anderen Produkten dieser Art — ich meine jetzt nicht die „Arbeiter Zeitung“, die „Arbeiter Zeitung“ ist ja in Österreich eine relativ rühmliche Ausnahme — aber wenn wir das annehmen, daß Zeitungen nur dann akzeptabel sind, wenn sie sich lohnen und ein Geschäft sind, dann sind wir auf dem Holzweg. Die Parteizeitung ist eben eine Aufgabe der Partei, statt daß sie viel Wahlpropaganda macht. Ich habe immer gesagt, das beste Wahlplakat wäre, wir werfen nicht Millionen hinaus in sinnlose Wahlpropaganda weniger Wochen, sondern wir werben während der ganzen Zeit für unsere Idee. Und dafür lassen wir uns was kosten, und wenn wir das Defizit der Parteizeitung vergleichen mit dem, was wir bei einer Wahl hinausschmeißen, können wir uns die Zeitung immer noch leisten.

Ein großes Interesse der Jugendlichen und auch der jungen Sozialisten gibt es an neuen Visionen. An realistischen Utopien ...

... da habe ich ja einige davon genannt: die internationale Solidarität, die Bekämpfung der Armut, sehr aktuell, auch wenn sie der eine oder andere Bankdirektor, der jetzt zufällig beurlaubt ist für die Politik, nicht erkennt. Das sind die großen Fragen, der Umweltschutz zum Beispiel ist heute lebensnotwendig für die heute Lebenden. Was wollen sie denn da tun, wie wollen sie damit fertig werden. Sie schicken die Giftfässer über die Donau hinauf und hinunter, die Flüsse hinauf und hinunter, und im besten Fall will man sie nicht an Land ziehen. Aber in Wirklichkeit wissen wir, daß Umweltschutz eine Lebensfrage für uns ist, und die Jungen müssen an der Spitze dieser Bewegung sein.

Eine der großen Jugendbewegungen der siebziger und auch der achtziger Jahre war die Friedensbewegung. Heute sehe ich von seiten der Sozialdemokratie die Außenpolitik nicht sehr stark vertreten.

Bei uns nicht.

Wobei die Friedensbewegung, die Solidarıtät mit dem palästinensischen Volk, vor allem von den Jungsozialisten mitgetragen wurde und vehement auch gefordert wurde ...

Da sind wir schon, da können wir uns keine Vorwürfe machen. Politisch schon, wir haben ja lange Zeit aus Blindheit die PLO abgelehnt. Ich selber weiß ja ein Lied davon zu singen, ich war unter den führenden europäischen Staatsmännern der einzige, der für die Anerkennung der PLO von Anfang an war. Jetzt muß sich sogar der Herr Mock dazu bekennen, wobei ich nicht ganz genau weiß, wieviel davon angestammter Antisemitismus ist. Verhüllter Antisemitismus. Jetzt können wir wieder gegen die Juden sein.

Aber es ist gar keine Frage, daß die ungeheure, die ungeheure — ich wiederhole das — Abartung des Zionismus Israels, das ist ja eine Entartungserscheinung, es gibt ja kaum ein Dutzend Knessethabgeordnete, die eindeutig für Friedenslösungen sind. Die meisten sind ja unerbitterlich, möchte fast sagen: Anhänger der heute in Israel wütenden israelischen Soldateska. Also die ... ich habe immer den Zionismus für falsch gehalten. Total falsch, politisch falsch, aber unter dem Eindruck des Holocaust habe ich die Idee verstanden, es muß hier irgendwo eine Heimat für vertriebene Juden geben, daß man das legitimiert. Ein Gedanke, mit dem man sich anfreunden kann. Aber wie ich gesehen hab’, daß das zu einem Fluch wird, der also sich furchtbar rächen wird, wenn man nicht bereit ist, Friedenslösungen zu akzeptieren. Aber das sind auch Dinge, auch da kann man Partei ergreifen, aber leider hat auch da die Sozialistische Internationale — und ich werde, wenn ich dazu in der Lage bin, in einigen Wochen dazu Stellung nehmen, bei meiner Abschiedsrede, wenn ich eine halten kann, wenn man mich läßt. Dann werde ich auch sagen, vor wieviel tausend Ohren ich jahrzehntelang gewirkt habe, und werde auch sagen warum.

Was ich den Jungen auch empfehlen würde, ist, sie sollen sich an den alten Grundsatz von Lassalle halten: „Aussprechen, was ist.“ Ich habe erkannt, daß man das muß und hab’s immer getan, natürlich mit einer gewissen Vorsicht, weil ich befürchten mußte, daß das mißverstanden wird, aber ich habe mich immer daran gehalten, denken Sie daran, wie unpopulär ich geworden bin, als ich für die Anerkennung der PLO — der Palästinenser gewesen bin. Oder wie ich immer wieder für die Entspannung eingetreten bin, als niemand auch nur einen Groschen zahlte, und jetzt haben wir eine gewisse Entspannung erreicht. Niemand weiß für wie lange, denn wenn dieses Experiment mit dieser Glasnost und Perestrojka scheitern sollte — wenn ich beten könnte, würde ich für sie beten. Für die Reformer, aber auf der anderen Seite müssen sie auch die neuen Probleme sehen.

Wir müssen also innerhalb der Sozialdemokratie großräumig auch als Reformisten denken. Wir müssen großräumige Reformisten sein und sagen, bei uns gibt es Platz.

Zum Schluß möchte ich noch eins sagen: Wir müssen Neues denken, aber wir dürfen altes Gedankengut, das am Anfang unseres Weges stand, nicht über Bord werfen. Es sollte die Regel sein, daß wir immer wieder die nächsten Jahrzehnte dazu benützen, für neue Ideen offen zu sein, müssen andererseits verstehen lernen, den alten Grundsätzen nicht untreu zu werden. Etwa zum Beispiel müssen wir für politische Sauberkeit bedingungslos eintreten. Wobei ich nicht unter „politische Sauberkeit“ meine, daß alle Sozialisten das Gelübde der Armut ablegen, aber wir müssen die Grenzen unseres Verdienenwollens kennen. Und selber uns diese Grenzen auferlegen.

Herr Dr. Kreisky, haben Sie nicht manchmal Lust, der Sozialdemokratie in Österreich ein wenig die Standpauke zu halten?

Standpauke, da weiß ich nicht, was das in Wirklichkeit bedeutet. Aber ich hatte Lust, hie und da der Partei in sehr freundschaftlicher Weise zu sagen, was meiner Meinung nach falsch ist. Ich bin gescheitert damit, ja. Denken Sie an meinen Versuch, die Partei daran zu hindern, sich mit Mock als Außenminister abzufinden, weil man aus Unkenntnis, aber auch aus verschiedenen anderen Gründen — es stand einem nicht dafür. Man hat nämlich gedacht, er hat nur sogenannte Botschafter zu bestellen, und das interessiert uns ja eigentlich nicht. Jetzt sieht man allmählich, was das alles bedeutet. Europäische Integration, die Entspannungspolitik und vor allem das Image Österreichs, wenn man das mit einem Modewort sagen will, wie sehr sich das verändert hat.

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