Ethik der Geschwisterlichkeit?
Peter Sloterdijk ist freischaffender Philosoph und Autor. Bekannt geworden vor allem mit „Kritik der zynischen Vernunft“ und „Eurotaoismus, zur Kritik der politischen Kinetik“. Birge Krondorfer sprach mit ihm über Mobilität, Intellekt, Subjekt und Geschlecht.
SLOTERDIJK: Das stimmt, weil sie sofort schon wieder Baubo sein müssen ...
Die Männer haben das früher eingeübt. Die Stoa [2] zum Beispiel war eine Immunisierungsverabredung, die Männer untereinander getroffen haben. Sie dachten sich, uns sollen die Frauen jetzt nicht weiter aufregen, sie haben zwar lauter aufregende Sachen, aber wir schauen da jetzt einfach nicht hin und üben solange, bis uns die weiblichen Reize nicht mehr aufregen. Es muß für Frauen — nein, genauer für Töchter — Räume geben, die nicht von geschlechtlichen Leidenschaften aufgewühlt sind. Eine Erfahrung, die am besten durch „gleichgeschlechtliche Freundlichkeit“ gesichert werden kann. Dies meint, daß einem nichts fehlt, wenn man da drinnen ist. Ich habe dieses Wort der „Freundlichkeitslöslichkeit“ erfunden, denn ich glaube, Menschen sind freundlichkeitslösliche Wesen, so wie Salz im Wasser. Das sollte man nie zur Disposition stellen.
Sicher, Virilio hat die etwas respektlose, jedoch zutreffende Bemerkung gemacht, daß die Frau Urfahrzeug sei: Die Geschichte der Beweglichkeit geht aus einem Anfangsstadium hervor, wo das Kind als Passagier der Frau beginnt und wo die menschliche Beweglichkeit in dem Radius aufhört, wo die Tragfähigkeit der Frau aufhört. Soweit Frauen den Hausrat und die Kinder mitschleppen können, soweit reichte im Alltag die Beweglichkeit des kulturellen Gruppenlebens. Wenn das Weibliche das immobilisierte Element ist, dann hat das damit etwas zu tun. In der Regel bildet die Frau in allen Kulturen das Zentrum, aber nicht die Frau als Frau, sondern die Relation Mutter-Kind, das ist der gehegte Bereich. Die Männer bilden darum einen Gürtel, und es ist in diesem Stadium der Kultur überhaupt nicht klar, ob das glücklichere Leben im Zentrum ist oder im freier beweglichen Schutzgürtel. Ich glaube, daß zu der Zeit der Enthusiasmus, der verschwundene Enthusiasmus, eher im Zentrum liegt, in diesem Hochgefühl zwischen Mutter und Kind, und die Männer sich als überflüssig empfinden. Aus dem heraus entsteht ein bestimmter Unternehmungsgeist, um das Gefühl von Überflüssigkeit zu kompensieren, etwa Heldentaten statt Kinder. Heldentaten sind ja auch nicht übel, vorausgesetzt, man bringt jemanden dazu, darüber zu reden.
Das Gegensatzpaar ist Mobilmachung und Beweglichkeit. Die Beweglichkeit selbst denke ich als Form eines natürlichen Reichtums, die Mobilmachung als ein dialektisches Spiel, wo gleichzeitig Bunker und Rakete ineinander sind. Das gute Leben sehe ich darin, daß sich jemand aus diesen Massenmobilmachungsdrähten löst und eine Art von Individualbeweglichkeit wiedergewinnt.
Mein Subjektbegriff ist etwas anders, weil ich davon ausgehe, daß die wesentliche Subjektivität, die wirklich geschichtemachend ist, den Charakter der Sturmspitzen innerhalb der Mobilmachung hat. Dort, wo wirkliche Herrschaftsvorgänge als Produktion und als Verwaltung institutionalisiert werden, dort entsteht Subjektivität in dieser hochklassischen Qualität in Mobilmachungs- und Wissenszentren, die alle eine hochgradig imperiale Dynamik haben. Es hat in unserer Gesellschaft keinen Sinn, das Subjekt ganz allgemein zu kritisieren, man muß zeigen, wer das ist, wo sich das konzentriert. Es gibt in Mitteleuropa vielleicht 25.000 überwiegend Männer, die diese Eigenschaften haben. Man kann nur mit parodistischer Energie in diese Sphären eindringen, sonst machen wir nur mentale Übungen, die das Subjekt abdanken und dezentrieren sollen. Dabei ist eines klar — wir sind es nicht. Nur das Subjekt weiß, was das Subjekt ist, alle anderen sind Zaungäste. Es ist natürlich eine große Versuchung für die philosophische Zaungastmentalität, den eigentlichen Subjekten zu erklären, was Subjektivität ist, aber ich glaube, das gelingt nicht.
Ja, das hat auch Auswirkungen auf den Diskurs um Weiblichkeit. Geht es da um Subjektwerdung? Natürlich, ein Stück weit, denn wenn es einen weiblichen Willen zur Macht gibt, dann geht es durch diesen Engpaß der Subjektivierung hindurch, da gibt es kein Ausweichen. Wenn wir einen weiblichen Willen zur Macht wollen, wenn wir weibliche Gestaltungsmächte wollen, dann ist das auch ein Wille zum Willen, der für Männer ein Privileg war. Heute wissen wir über diese Zusammenhänge soviel, daß wir die Unschuld verloren haben. Das wäre aber auch eine Chance, wenn die Frauen den Willen zur Macht ergreifen, da sie die besseren Parodistinnen sind. Sie haben mehr Distanz zur eigenen Mächtigkeit als Männer, die aus einer gewissen Dummheit und wie aus der Pistole geschossen in die Macht geraten. Aber die Männlichkeit insgesamt ist nur die Reservearmee für die eigentlichen starken Subjektpositionen.
In gewisser Weise schon. Ich glaube, daß es zwei Arten von Intellektuellen gibt. Diejenigen, die, wenn eine Situation Interpretationen zuläßt, systematisch die mieseste nehmen, die Menschen niedrig ansetzen. Dieser Typus hat bisher dominiert; in den pseudomarxistischen Milieus ist dieses In-Grund-und-Boden-Erklären ein ganz mächtiger Habitus geworden. Der zweite Typus ist langfristig der wichtigere. Das sind Angehörige einer unsichtbaren Kirche der Klugheit, die glauben, daß Intelligenz oder Klugheit in sich etwas Unwiderstehliches ist. Das erste ist eine etwas depressive Grundhaltung, die sagt, du kannst so klug sein, wie du willst, es nützt nichts. Klugheit hatte immer so eine melancholische Aura, die dann darin bestand, innere Helligkeit immer in Bewußtsein der Vergeblichkeit zu erleben. Die andere Erfahrung von Intellektualität sagt: Intelligenz muß versuchen, in diesem Vertrauensbereich zu bleiben und die Gewißheit, Dinge richtig machen zu können, nicht verlieren. Das hat mit unserem Anfangsthema zu tun. Normalerweise gibt es eine manischdepressive Pendelbewegung der zwei Typen, genauso wie es zwischen dem männlichen und dem weiblichen Wissen eine Arbeitsteilung gegeben hat, zwischen männlichem Hochgefühl und weiblichen Depressionen mit der verschwiegenen Prämisse, daß das männliche Hochgefühl wieder aufgeladen wird. Die weibliche Bewunderung, die nicht in Selbstbewunderung zurückgebogen wird, kommt als reine Verausgabung dem Manne zugute. Eine weibliche explizite Souveränitätssprache hat sich nicht entwickelt. Den Frauen wurde es vorenthalten und erspart, zur Welt zu kommen, was eben Subjektwerdung bedeutet. Ich setze eine Wette auf die Weiblichkeit, daß sie die Erfolgsgeschichte der Natur im Sinne der Wiedergebärbarkeit nicht abbricht, Die Intelligenz muß geburtlich werden. Der Geist als bisherige Männerdomäne müßte mütterliche Qualitäten annehmen. Wieviel Muttermord können und wollen wir uns noch leisten, wieviel Subjektwerdung? Denn jede Subjektwerdung ist eine muttermörderische Geste. Die muttermörderischen Energien der Frauen bei der weiblichen Subjektwerdung würden die Qualität der geschlechtlichen Kämpfe grundsätzlich verändern. Die Mann/Frau-Diskussion würde sich nicht mehr um Sex und Gender drehen, sondern um die Abstammung, also um Söhne und Töchter. Das ist viel komplizierter. Es gibt schon Ansätze der Kritik genealogischer [3] Rationalität, die unser Schicksalsgenerator geworden ist. Wir müssen auf eine Ethik der Geschwisterlichkeit hinzielen, um die Geschlechterethik zu entgiften.
Ich setze eher auf die Beschreibung eines Rahmens, in dem der Streit fruchtbar wird. Das ist etwas anderes, ob man auf ein Schlachtfeld geht oder ob man eine Art Haagener Friedenskommission für Männer und Frauen einrichtet. Ich meine damit die Nichtächtung der Selbstachtung der anderen und daß man keinen feministischen Gaskrieg führt. Deswegen ist eine geschwisterethische Fernperspektive sicher geeignet. Die Gefahr vorzeitiger Versöhnung besteht nicht. Jemand, der bei seiner Wut ist und bei seinem Willen zur Macht, versöhnt sich nicht. Das differenzethische Prinzip, daß der Versöhnungsgedanke eine Vereinnahmung darstellt, wäre ein Widerspruch.
Man sagt immer, wir sind uns im Grunde einig, nur in Details nicht, aber im Grunde sind sich Männer und Frauen uneinig. Das einzige Faktum ist — Uneinigkeit hin oder her — die Geschwisterlichkeit. Unter denselben Produktionsbedingungen gesehen — natürlich — ist das das Unstrittige hinter dem Streit. Wenn es so weit geht, dies anzufechten, dann ist es pathologisch, weil es eine Grundgegebenheit vernebelt. Ich bin nicht sicher, ob ein Krieg, der so erklärt wird, überhaupt noch enden kann, außer, der Mann ist der Feind bis ins Grab. Und über das Grab hinaus. Doch, das kann man sich vorstellen, daß man reine Frauenfriedhöfe einrichtet ...
Hat es gegeben? Ja, siehst du, man kann nicht einmal mehr spinnen.
Das ist die Geschlechterfrage, der große Glaube an die Komplementarität. Anders gesagt, die Entscheidung darüber liegt in der sexuellen Attraktion. Also, wenn Männer mich nicht antörnen, ja, was macht man dann?
Mir schiene Homosexualität als Thema sehr spannend, aber ich bin nicht sicher, ob ich darüber wirklich etwas sagen kann, wie man das im Grundansatz denken soll, ohne daß es schlampig wird. Ist Homosexualität in der Natur, braucht sie überhaupt nicht kommentiert zu werden; das ist die neue Strategie. Die andere Perspektive ist die, zu sagen, Homosexualität ist zwar eine Variante der Natur, aber keine unschuldige. Sie ist hochgradig psychogen, weil Menschen nicht nur ein biologisches Geschlecht haben, sondern auch ein psychosexuelles, und in diesem muß man die Triebschicksale beschreiben. Diese sind alle tendeziell pathologieverdächtig, z.B. die Krankheit, nur blonde Frauen zu lieben. Man muß auch die Homosexualität pathographisch kommentieren. Ich weiß nicht, wie man sich in dieser Alternative verhalten soll, denn es haben alle einen neurotischen Tick, und insofern kann der schwarze Peter nicht den Homosexuellen zugeschoben werden. Es gibt eine Tiefendimension in der ganzen Frage: Die Menschen haben sehr unterschiedliche Grade des Verhältnisses zu ihrer Mutter, und diese ist die Weichenstellerin für die psychosexuellen Schicksale.
Das klingt wunderbar, das ist eine sehr fruchtbare Idee, auch als Denkmodell und als Verhaltensregel. Die gegenseitige Belästigung der Geschlechter ist vielleicht gar nicht so notwendig, wie es uns die herrschenden offiziellen Hypnosesysteme vormachen. Man kann ja nicht auf die Straße gehen, ohne sogleich als Mann auf weibliche Reize hypnotisiert und als Frau umgekehrt auf den Mann ausgesetzt zu werden. Das wäre schön, so eine Art Brache, eine Besinnungsmöglichkeit zwischen den Geschlechtern einzurichten.
