FORVM, No. 202/I
Oktober
1970

Europa, Kolonie der beiden Weltgendarmen

II. Teil einer Analyse
voriger Teil: EWG: Vergeudete Ressourcen, entmenschte (...)

3

Die Bilanz der bisherigen Europapolitik kann nicht gezogen werden, ohne die jetzt erreichte Stellung Europas in der Welt zu bezeichnen. Auch hier empfiehlt sich, von den produktiven Möglichkeiten Europas und der Sechs im besonderen auszugehen, denn Produktionskraft bringt Verantwortung. Auch hier eine erschreckende Diskrepanz zwischen dem real Möglichen und dem politisch Verwirklichten. Dieser Teil Europas, wie Europa insgesamt in allen seinen Teilen, leistet für die Weltpolitik einen Beitrag, der in keinem Verhältnis zu seinen produktiven Möglichkeiten steht. Und seine Rolle widerspricht auffällig seinen Interessen. Von den Interessen der anderen noch ganz abgesehen.

3 1.

Europa, die Gemeinschaft alleine sogar, zieht einen größeren Teil des Welthandels an sich als jede andere Region und jeder andere Staat. Das gibt Westeuropa die Möglichkeit — die ökonomische Möglichkeit, und nach Meinung einiger auch die Pflicht —, den Welthandel zu einem Instrument des Friedens zu machen, jedenfalls dazu erheblich beizutragen.

Welthandel und Kapitalbewegung sind jedoch so gesteuert, daß sie den reichen Ländern mehr Vorteile bringen als den armen. Sie lassen in den unterindustrialisierten Ländern wohl oft neue Produktionskapazitäten entstehen, aber unter Bedingungen, die vorwiegend kleinen Gruppen Vorteil bringen, in- oder ausländischen. Die öffentliche Entwicklungshilfe, von der so viel Aufhebens gemacht wird, deckt meist nicht einmal das Defizit zwischen Kapitalzufluß und zurückfließenden Gewinnen.

Die produktiven Kräfte der Entwicklungsländer werden im wesentlichen nur insoweit entwickelt, als sie Profite erwarten lassen. Sobald sie sich aber auf politische und gesellschaftliche Selbstbefreiung richten, werden sie unterdrückt: entweder durch Abzug des Kapitals oder offen militärisch. Die Drohung mit beiden genügt meist, um in diesen Ländern jene Gruppen an der Macht zu halten, die gegen politische und gesellschaftliche Befreiung arbeiten.

Dies alles berührt Europas Interessen unmittelbar, weil dadurch in der Dritten Welt jene Partner nicht entstehen, mit denen zusammen so etwas wie Friede in den nächsten Jahrzehnten geschaffen werden kann. Europa, der größte Welthandelspartner und die zweitwichtigste Region gemäß materieller Produktivkraft, tut kaum etwas, um zu verhindern, daß die Vorbedingungen für einen mörderischen weltweiten Rassenkrieg entstehen; vielmehr trägt Europa durch außenpolitische Abhängigkeit und seine Handels- und Kapitalpolitik zu dieser dunklen Zukunft sogar selbst bei. Europa ergreift — ohne daß dies jemals zum Gegenstand einer demokratischen Entscheidung gemacht würde — durch sein Schweigen und seine Allianzen jetzt schon Partei in diesem schlimmsten aller vorstellbaren Konflikte. Dieser Sachverhalt zeigt, wie ich glaube, deutlicher als alles andere den gegenwärtigen Zustand der Demokratie in Europa auf.

Das ist leicht an einigen Beispielen auch im einzelnen klarzumachen, etwa an den Auswirkungen der gemeinsamen Agrarpolitik oder der Benachteiligung von gewissen Halbfertigprodukten der Entwicklungsländer, Man kann nicht leugnen, daß in vielen Fällen nicht die bestmögliche Ausnutzung der Produktionsfaktoren, nicht die optimale Allokation der Ressourcen angestrebt wird, nicht das vorgeblich ökonomisch Richtige also, sondern die antiökonomische Befriedigung einzelner Sonderinteressen.

An diesen Beispielen wird aber auch klar — ich möchte das mit Nachdruck betonen —, daß schlimme Auswirkungen dieser Art nicht im Kurzschluß „der Gemeinschaft“ oder einer Gemeinschaftsinstitution zur Last gelegt werden können. Die gemeinsame Agrarpolitik etwa, das deutlichste Beispiel, ist ja nicht demokratisch beschlossen worden, und nur zum geringeren Teil in gemeinschaftlichen Verfahren. Alles Entscheidende geschah ungemeinschaftlich, nämlich in nationalen Verbänden und Parteien. Demokratisch war das Verfahren nur im Formalen.

Was sich durchsetzte, waren übrigens nicht die Interessen der Landwirtschaft, sondern die Interessen der kapitalkräftigen Großproduzenten des Agrarhandels und der Agrarindustrie, die sich als das gemeinsame Interesse der Landwirtschaft hinzustellen wußte.

Für eine Gemeinschaftspolitik, die weltweit dafür einsteht, daß Kapitalzufluß nach den unterentwickelten Ländern zum Mittel der gesellschaftlichen Befreiung statt zum Gegenteil wird, fehlt bis jetzt jeder Ansatz. Darüber wird nicht einmal diskutiert.

Ich meine, es wäre verkehrt, Skandale dieser Art zu vertuschen, weil sie das Vertrauen in die Gemeinschaftsorgane und überhaupt in die Gemeinschaft schwächen könnten — als ob Unwahrheit eine verläßliche Basis für Vertrauen wäre. Ebenso verkehrt wäre es aber auch, der Gemeinschaft und Gemeinschaftsinstitutionen die Verantwortung für etwas zuzuschieben, was nicht sie verschuldet haben. Lassen wir uns nicht von den eigentlichen Ursachen ablenken. Das Beispiel der Agrarpolitik ist gerade darin aufschlußreich. Die entscheidende Fehlerquelle liegt jenseits der Gemeinschaft: Sie liegt in den Bedingungen, unter denen in Europa Politik getrieben wird, in den Regierungen, Parteien, Verbänden, in der Öffentlichkeit, letzten Endes im antipolitischen Alltag, und in den Ursachen für diesen antipolitischen Alltag.

3.2.

Europas Stellung in der Welt kann gewiß nicht allein danach beurteilt werden, wie es seine ungeheure Produktivkraft und sein Handelspotential für die Vorbereitung eines künftigen Weltfriedens — oder dagegen — einsetzt. Wir haben ebenso zu fragen: Was trägt dieser Teil Europas heute zum Frieden in der Welt bei? Oder zumindest: Was trägt es zum kalten Frieden bei?

Dieser kalte Friede ist nur negativ zu definieren: Entscheidend sind die Vorkehrungen, womit der heiße Krieg zwischen jenen verhindert wird, die sich gegenseitig zu vernichten imstande sind. Das sind weiterhin ausschließlich zwei Staaten. Europa gehört dazu nicht, was vielen sehr angenehm ist, weil sie damit der Verantwortung für die stets drohende Katastrophe ledig sind. Ob dann die einen hier in Europa mit den beiden Schutzmächten zufrieden sind oder die anderen mit deren Geschäftsführung unzufrieden — oder ob man auch mit nur einem der beiden Protektoren unzufrieden ist und mit welchem —, das ist eine kaum mehr erhebliche Nuance. An der Tatsache der Abhängigkeit wird nicht gerüttelt.

Die Folgen sind aus einiger Entfernung schärfer erkennbar. Was die Abhängigkeit von der Sowjetunion und den USA für die osteuropäischen Länder bedeutet — ja, auch von den USA als dem einzig gleichrangigen Partner gegenüber der Sowjetunion —, das hat der Einmarsch in die CSSR dargetan. Hier im Westen wird die Abhängigkeit weniger empfunden. Daß in Griechenland ein Terrorregime besteht und von den westeuropäischen Ländern nicht bloß geduldet, sondern indirekt wirtschaftlich gestärkt wird, wäre ohne die Anwesenheit der amerikanischen 6. Flotte im Mittelmeer weder möglich noch vermöchte man die Öffentlichkeit darüber so leicht zu beschwichtigen.

Aber die Folgen dieser Abhängigkeit sind für die Beziehungen zwischen den Teilen Europas und für die Chancen der europäischen Gemeinschaften nicht weniger bedenklich, wenn auch aus der Debatte weithin verdrängt. Die Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa, die nun von der Regierung der Bundesrepublik so entschlossen und umsichtig vorangetrieben wird, sie bleibt durchaus abhängig von den Beziehungen der beiden Weltmächte untereinander. Von Verhältnissen also, auf die niemand in Europa nachhaltig einwirken Kann.

Selbst wenn man das Entstehen einer Art gesamteuropäischer Sicherheitsordnung voraussieht: einen vertraglich besiegelten Zustand verringerter militärischer Konfrontation als Rahmen für Gewalt- und Revisionsverzicht wie für ein höheres Maß an wirtschaftlicher und sonstiger Zusammenarbeit — selbst wenn man das für erreichbar hält, was ja schon optimistisch sein mag, selbst dann bliebe Europas Sicherheit zuhöchst gefährdet. Denn die neue Ordnung wäre eben keine „europäische Sicherheitsordnung“, sondern bloß der europäische Abschnitt des weltweiten Kondominiums US-SU.

Eine solche „europäische Sicherheitsordnung“ wäre etwa von einer auch nur auf den Nahen Osten beschränkten und militärisch „begrenzten“ Konfrontation US-SU auf eine harte Probe gestellt. Es würde sich zeigen: Diese Sicherheitsordnung ist nicht europäisch. Und selbst wenn man von allem anderen einmal absieht: Westeuropas Erdöl kommt überwiegend aus dem Nahen Osten. Einige genau benennbare Interessen in den europäischen Ländern würden sich bei einer Eskalation des Konflikts zweifellos politisch durchsetzen und eine Parteinahme im Nahostkonflikt verlangen.

Ob die „europäische Sicherheitsordnung“ diese Probe überstehen würde, mag jeder selbst abschätzen. Jedenfalls würde die Garantie der beiden Supermächte fraglich und umstritten. Womit die Angst, diese in Europa bisher mächtigste innenpolitische Waffe, wieder zum Zug käme. Welchen Weg dann Gesellschaft und Demokratie nehmen können, weiß man.

Dem wäre nur durch die Schaffung einer eigenständigen politischen Potenz in Europa zu entgegen, wobei die geographische Abgrenzung vielleicht nicht das größte Problem wäre. Aber eine europäische Gemeinschaft dieser Art würde bereits im Entstehen den Konflikt mit den beiden Weltmächten nicht vermeiden können, da sie den weltpolitischen Status quo und damit die Voraussetzung ihres Kondominiums störte. Und es wäre nicht die Sowjetunion in erster Linie, mit der der Konflikt sich ergäbe, sondern der westliche Teilhaber des Kondominiums, die USA, als zuständiger Repräsentant und Garant des Kondominiums. Deren Interesse würde direkter berührt, ihr Einfluß- und Machtbereich unmittelbarer eingeschränkt.

Daß Westeuropa Teil des amerikanischen Herrschaftsbereiches ist, wird weithin kaum mehr empfunden. Die Abhängigkeit ist längst verinnerlicht, und dies nicht nur in der Form, daß sie kaum mehr ein öffentliches Problem ist, sondern vor allem auch durch die massive Einpflanzung amerikanischen Kapitals und Managements in Westeuropa.

Es sollte einmal untersucht werden, inwieweit die Unterordnung Westeuropas unter die Führung der USA die Vorbedingung war und ist für das Interesse amerikanischer Unternehmen an Westeuropa und an der EWG im besonderen.

Jedenfalls gehört dies zur Bilanz der europäischen Integrationspolitik: zwischen den Profitinteressen eines Teils der wichtigsten Unternehmens- und Kapitalgruppen in Europa einerseits und dem derzeit die amerikanische Politik bestimmenden Forderung: die USA sollen überall und mit allen tragbaren Mitteln zugunsten von „free enterprise“ intervenieren, besteht eine fatale Wechselbeziehung. Dabei scheint es kaum einen Unterschied zu machen, ob diese Unternehmens- und Kapitalgruppen amerikanisch firmieren oder „europäisch“; es kommt auf die gemeinsame Interesseneinschätzung an.

3 3.

Die Abhängigkeit Europas von den beiden Weltgendarmen steht im Kontrast zu dem Produktions- und Technologiepotential Europas. Dabei ist nicht an Produktion und Hortung von Massenvernichtungsmitteln gedacht, vielmehr an die absurde Unfähigkeit unserer Region, ihr ungeheures Potential auf geeigneten Wegen in Abrüstungspolitik umzusetzen.

Eine westeuropäische Atomrüstung als Teil der NATO und deren dann unvermeidliches Gegenstück im Osten wären gewiß das ungeeignetste Mittel, wären nichts als Nachahmung der beiden Weltgendarmen. Aber diese negative Antwort löst keineswegs das Problem, wie Europa sein produktives Potential für den Frieden einsetzen kann.

Jedenfalls kann dies nicht gelingen, wenn wir uns nicht aus der Abhängigkeit befreien.

Und was diese Abhängigkeit bedeutet, wird in der Nuklearindustrie deutlich. Es gibt gute Gründe, die Zahl der Atommächte nicht zu vermehren, Man muß sich nur zugleich über die Folgen klarwerden. Die USA sind dabei, gegenüber Westeuropa ein Monopol aufzubauen. Sie haben die Entwicklung ihrer zivilen Atomindustrie zum Teil über den Militärhaushalt finanziert. Außerdem haben sie massiven Druck auf europäische Länder ausgeübt, um vielversprechende Projekte zu verhindern, dies unter dem Vorwand, es würden dabei, etwa in den Gaszentrifugen, Technologien entwickelt, die auch militärisch genützt werden können. (Und tatsächlich ist die Grenze zwischen ziviler und militärischer Technik nicht überall und im voraus genau bestimmbar.) Vermutlich wird in Zukunft solcher Druck sich noch verstärken.

Beide Momente zusammen erzeugen eine fast schon entschiedene Abhängigkeit in weiten Bereichen der Atomindustrie von amerikanischen Unternehmen. Private Profitinteressen und Staatsinteressen der USA verstärken sich hier gegenseitig und decken einander ab. Die wichtigsten einschlägigen Unternehmen in Europa nehmen diese Wettbewerbslage hin und kooperieren mit ihren amerikanischen Partnern auf einer Basis der Ungleichheit.

Welcher Weg aus der Abhängigkeit getan werden könnte: ob Umrüstung auf gewaltlosen Widerstand (oder gewaltarmen Widerstand); ob primär nichtmilitärische soziale Verteidigung, von der man nicht von vornherein sagen sollte, sie könnte keine ausreichende Abschreckwirkung erzeugen; ob Ausbau der Technologie in einem Maß, daß Europa zum ernst zu nehmenden Verhandlungspartner in Abrüstungsverhandlungen wird; oder eine aus diesen drei und anderen Elementen kombinierte Sicherheitsstrategie — in jedem Fall braucht Europa dazu ein politisches Potential, das dem technischen entsprechen müßte. Ein Potential, das — letztlich wegen des antipolitischen Charakters des europäischen Alltags — tagtäglich neu verschüttet wird.

3.4.

Die Bilanz von zwei Jahrzehnten der westeuropäischen Integrationspolitik läßt sich nicht abschließen, ohne die politischen Leistungen zu bewerten und in die Bilanz einzusetzen. Wo ist die Macht? Was wird aus der gewaltigen Produktion, wer macht daraus was? Wie sieht die politische Verfassung tatsächlich aus?

3.4.1.

Die Machtverteilung in Wirtschaft und Gesellschaft stimmt immer weniser mit der von den demokratischen Verfassungen vorausgesetzten Norm überein. Halten wir uns auch hier an die Realität des Alltags. Unverkennbar wird der Alltag immer mehr von Entscheidungen bestimmt, auf die die Betroffenen keinen Einfluß haben. Die Macht ballt sich zusammen bei Unternehmensleitungen und staatlichen Bürokratien sowie bei den Spitzengremien der großen Interessentenorganisationen. Dort wird alles Wesentliche entschieden: was produziert wird und wie, wie Bedürfnisse angereizt werden und welche, wo es neue Arbeitsplätze geben wird, wo nicht und welche, schließlich wie das Produkt verteilt wird.

Allerdings ist das Wort „Entscheidung“ irreführend: denn es wird nur zum geringsten Teil öffentlich und in Bewußtsein der Folgen entschieden. Analysiert man das Bild, das der Öffentlichkeit zum Beispiel von der Stillegung eines Betriebs oder einer Neugründung vorgesetzt wird, so ist meist viel von wirtschaftlichen Notwendigkeiten die Rede, die kaum eine Wahl lassen. Woher aber diese angeblichen Notwendigkeiten und Sachzwänge kommen, ob sie verändert werden könnten, wird kaum gefragt. Man begnügt sich mit dem Ausfeilschen von irgendwelchen Entschädigungen.

Die reale Machtballung in den Unternehmensleitungen, Verbandsspitzen und Bürokratien wird unterschätzt, oft von den Mächtigen selbst, und dies aus dem Grund, weil diese Macht gleichsam in den Gesellschaftsprozeß „eingebaut“ ist, sie erscheint als logisch an sich. Gegen die Logik von Macht und Profit auftreten, heißt unmoralisch und unsachlich agitieren.

Die Kehrseite ist, daß die Macht der einzelnen rapide abnimmt. Sie erzeugen die Macht, dies ist ja die reale Grundlage für das Postulat der Demokratie: daß die Gewalt vom Volk ausgeht. Die einzelnen erzeugen die Macht, aber sie behalten sie nicht. Andere entscheiden, was aus ihrem Produkt wird, was aus ihrer Arbeit wird.

Erst nachträglich und gleichsam aus weiter Ferne haben sie, die Urheber und Produzenten der Macht, dann wieder die Chance, in Form von Wahlien über die Macht mitzubestimmen. Diese Chance wäre beträchtlich, wäre nicht der Alltag übermächtig. Der politische Bürger wird vorweg von der unmenschlichen Realität des ökonomischen Alltags zerstückelt. Ein Parlament, eine politische Partei, eine Gewerkschaft können die produzierte Macht nicht kontrollieren und steuern, wenn die Wähler selbst ohnmächtig sind; sie können es nur, wenn und insoweit sie die Menschen dazu anreizen, sich in ihrem Alltag aus der Ohnmacht zu befreien.

Das Problem ist sehr alt, aber es wird durch die zunehmende technische Arbeitsteilung verschärft. Sogar wenn die aus früheren Jahrhunderten übernommenen demokratischen Einrichtungen ungeschwächt funktionierten, würde daher die Ohnmacht der Bürger wachsen. Dem könnte nur abgeholfen werden durch ein Plus an Mitwirkung, durch eine. Veränderung der sozialen Arbeitsteilung, kurz: durch radikale Demokratie.

3.4.2.

Jedoch ist im Gegenteil die Tendenz zur Entdemokratisierung unverkennbar, gerade auch in Westeuropa. Die Wirtschaftsintegration hat diese Tendenz verschärft. Die Machtballung in der Wirtschaft ist in wachsendem Umfang nicht mehr national beschränkt, sondern transnational ausgeweitet, während die theoretisch fortbestehenden politischen Kontrollmittel auf die einzelnen Staaten begrenzt bleiben. [1]

Diese Entdemokratisierung ist nicht der Gemeinschaft als solcher oder den Gemeinschaftsorganen anzulasten. Sie ist vielmehr die Folge einer „Integration von oben“, die den Mächtigen der Wirtschaft auf den Leib zugeschnitten ist, während die betroffenen Konsumenten und Produzenten keine andere legale Einwirkung haben als vermittels Parlamenten, Parteien und Gewerkschaften, deren Aktionsradius und Machtinteresse an den Landesgrenzen haltmacht.

Die Entdemokratisierung war so lange unvermeidlich und wird es so lange bleiben, als Parteien und Verbände weiter auf ihre nationalen Operationsfelder sich beschränken und glauben, mit Hilfe von Verbindungsbüros und internationaler Diplomatie der transnational operierenden Wirtschaftsmächtigen und ihrem Anhang gewachsen zu sein. Bei Parteien und Gewerkschaften ist die Politiklücke, der Politikbedarf am größten.

3.4.3.

Dementsprechend ist die reale politische Verfassung Westeuropas ein widersprüchliches Gemisch von Verantwortlichkeit und Unverantwortlichkeit nach innen und nach außen. Wichtigste Institutionen sind in Wirklichkeit überhaupt außergewöhnlich und ihrem Wesen nach undemokratisch. Die ausschlaggebenden Entscheidungen über Rüstungswettlauf oder -bremse, über Entspannung in Europa oder kalter Krieg fallen in keiner europäischen Hauptstadt. Die Großwetterlage wird nicht von denen gemacht, die sich hier politisch zur Wahl stellen.

Westeuropa ist indirekt, aber fühlbar in den amerikanischen Asienkrieg verwickelt, Aber. seine zahlreichen souveränen Regierungen können in der gegenwärtigen Struktur der Weltpolitik auf den Verlauf dieses Konflikts nicht nennenswert einwirken. Was vielleicht einer der Gründe ist, weshalb unsere Mitschuld nicht zum pölitischen Problem wird.

Die Machtzentren, die den Ablauf des ökonomischen Alltags beherrschen, ein unübersehbares und vielfach widersprüchliches System von Unternehmensleitungen und verselbständigten Staats- und Verbandsbürokratien, sind legal und praktisch jeder direkten Kontrolle der unmittelbar Betroffenen entzogen. Diese Zentren gelten als unpolitisch und sind daher auch ideologisch vor demokrätischen Ansprüchen abgeschirmt. So verhält es sich ungefähr in allen demokratischen Industriegesellschaften; aber auch in Ländern, in denen die Produktionsmittel verstaatlicht sind, ist die Lage im Ergebnis nicht wesentlich anders.

Die europäischen Institutionen und Verfahren im klassischen Sinn sind unverkennbar problematisch geworden. Die klassischen Institutionen, wenn man nicht mehr als sie bewahren will, werden vom ökonomischen Alltag unterhöhlt. Die Mehrheit fährt wohl unverdrossen fort, durch Wohlverhalten und Wahlbeteiligung die Institutionen zu legitimieren. Aber mehr läßt die tagtäglich reproduzierte Ohnmacht nicht zu. Eine Krise der Vertretungsdemokratie zeichnet sich ab. Nicht weil der Anspruch auf Demokratie in Frage gestellt würde, sondern weil zunehmend mehr Menschen diesen Anspruch effektiver realisieren wollen.

3. 4. 4.

Welche Rolle spielen nun in dieser Verfassung die EWG und ihre Institutionen?

Die EWG ist bisher nicht zu politischer Eigenständigkeit gekommen, Ihre ausschlaggebenden Institutionen stehen nicht in den Verträgen: es sind die Mitgliedsregierungen. In ihnen wird der wesentliche Inhalt der Ratsbeschlüsse vorentschieden. In den nationalen Regierungen, den einzelstaatlichen Verwaltungsund Verbandszentren, kurz, in der nationalen Politik. Die nationalen Politiken werden zunehmend in einer Art ständiger Diplomatenkonferenz mit den in den Gründungsverträgen gar nicht vorgesehenen „Ständigen Vertretern“ abgestimmt.

Nun sind die nationalen Regierungen schon nach der rechtlichen Definition ungemeinschaftlich. Aber sie haben Macht. Die Gemeinschaftsorgane haben Macht nicht gewinnen können. Sie werden von niemandem legitimiert, außer eben von den nationalen Machthabern. Das gilt für den Ministerrat nicht weniger als für die Kommission. Auch die Mitglieder des Parlaments werden nicht von jenen gewählt, von denen nach den Prinzipien der Demokratie alle Gewalt ausgeht: von den Völkern.

Ein Prozeß wechselseitiger Information zwischen Gemeinschaftsorganen und den Völkern ist nicht in Gang gekommen, unter anderem einfach aus dem Grund, daß die Machthaber, die nationalen Regierungen, daran keinesfalls dachten. Und zweifellos wurden auch von den Gemeinschaftsorganen nicht alle Möglichkeiten einer problembewußten Information wahrgenommen.

Alle unmittelbar politische Macht liegt bei den nationalen Instanzen, die ungemeinschaftlich sind, und die Gemeinschaftsorgane haben keinen Zugang zur Quelle der Legitimität, zu den Völkern. Das ist die Krise, gleichsam eingebaut und institutionalisiert.

nächster Teil: Ist die EWG demokratisierbar?

[1Vgl. Erich Kitzmüller, in: Europa 1970. Politische und gesellschaftliche Folgen der wirtschaftlichen Integration. XVI. Europäisches Gespräch. Bund-Verlag, Köln-Deutz, S 69.

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