FORVM, No. 478/479
November
1993

Flower-Power Revival

A.G., Anti-Waffen-Bruder der 68er-Studentenbewegung, von der anderen, der Aussteiger-Fraktion, war als Gastprofessor der Schule der Dichtung in Wien — die Gelegenheit zu diesem Gespräch nützte Diana Huppert.

Wenn Revoluzzer ältere Herren werden. Sorgfältig, elegant gekleidet, immer mit Hemd und Sakko, Allen Ginsberg:

Heute leide ich nicht unter psychologischen Problemen, sondern unter dem Abbau meines Körpers. Ich habe Schwierigkeiten mit einem Rückenwirbel und Probleme mit meinen Füßen. Nur 75 Prozent meines Herzens arbeiten, so gerate ich leicht außer Atem. Es wird schwieriger, mich wie ein junger Mann zu benehmen ...

Aber dieses Dreiviertel-Herz merkt man ihm nicht an, bei seinen Lesungs-Performances.

Er hüpft am Sessel, rockt Meditationsanweisungen. Er jodelt, liest Science-Fiction-Haikus, einen Abschied an die Asche Neil Cassadys, die ihm Körper, Liebhaber war ...

Er nennt sich einen arbeitssüchtigen Meditations-Showbusiness-Typen. Er erwischt sich selbst dabei, wie er in ein Taxi springt, sich fertig anzieht, Hemd zuknöpft, um zu einer Meditation zu rasen. Auch das Interview unterbricht er nicht, als der Kellner ihm sein Diät-Abendessen serviert. Es ist Mitternacht. Er ißt, während er Fragen beantwortet.

Die Geschichte der Beat-Poeten ist eine Geschichte von Freundschaft und Sex, öffentlich wird verkündet:

Everybody fucks!

1942, als 16jähriger, begegnet Ginsberg an der New Yorker Columbia University Jack Kerouac.

Wir waren Freunde und ich habe mich in ihn verliebt. Er war der erste, dem ich sagte, daß ich schwul bin. Er war tolerant und freundlich. Wir haben auch miteinander geschlafen, aber es gefiel ihm nicht. Er tat es nur ab und zu, wenn er betrunken war. Aber es gab immer eine gewisse Zärtlichkeit.

Er hat mir die Idee vom spontanen Schreiben vermittelt und auch buddhistische Philosophie. Ich habe Kunst und Buddhismus von Kerouac gelernt. Aber vor allem habe ich durch ihn begriffen, daß Dichter zu sein, die Hauptsache ist im Leben. Denn mein Vater war Dichter, aber es war nur ein Hobby für ihn. Für Kerouac war Dichtung Hingabe, etwas Heiliges.

Die Beat-Dichter entdeckten die Außenseiterkultur der Unterprivilegierten, der Afro-Amerikaner, den Jazz und die Spontaneität in der Kunst. Das Spiel mit dem eigenen Bewußtsein. Sie experimentieren mit Drogen, östlichem Denken und Meditation. Sie sind Agitatoren gegen Prüderie und rigides, materialistisch orientiertes Leistungsdenken, gegen die Moral der Mehrheit. Und sie beginnen die Revolution, die am meisten Spaß machte: die sexuelle Revolution. »Yeah, and the beat goes on.«

1954 geht Allen Ginsberg nach San Francisco, wohnt mit Freunden zusammen in einer kleinen Hütte in Berkeley. Ginsberg und seine Freunde halten Lesungen: in Kaffeehäusern, Galerien und Universitäten. Es sind poetische Durchbrüche, historische Daten in der modernen Literaturgeschichte Nordamerikas. Die Beat-Poeten, die San »Francisco Renaissance« beginnt. Die Lesung in der Six-Gallery von »Geheul« mach Allen Ginsberg berühmt:

Ich sah die besten Köpfe meiner Generation
zerstört vom Wahnsinn
ausgemergelt
hysterisch nackt
wie sie sich im Morgengrauen durch die
Negerstrajsen schleppten auf der Suche
nach einer wütenden Spritze ...

Wegen dieses Gedichts wird ihm ein Prozeß gemacht. Anklage: Obszönität. Ginsberg wird freigesprochen. Und er spricht sich selbst frei. Er gibt ein Interview im Herrenmagazin »Playboy«, wo er in Details die Wonnen von analem Sex beschreibt.

Und heute, wie ist die Liebe zwischen Männern, mit Betonung auf Liebe?

Es ist so wie zwischen Mann und Frau. Du gibst ihm dein Herz und er dir seins, beginnst ein gemeinsames Leben. Wer weiß, wenn es möglich ist und einer stirbt, holt er dann den anderen im Himmel ab. Man führt den Haushalt gemeinsam, kocht, hat gemeinsame Freunde, reist zusammen und schreibt Gedichte füreinander. Du fühlst das Glück, daß du geliebt wirst und daß deine Liebe akzeptiert wird. Statt Kinder macht man Gedichte oder »gay liberation« oder sonst irgendeine soziale Reform.

Zwei Sammlungen von Liebesbriefen sind erschienen, eins von Peter Orlovsky, seinem Freund über 30 Jahre. Und 1993 sind die Briefe von William Burroughs an Ginsberg veröffentlicht worden. Die Affäre war kurz, aber die Hingabe Burroughs’ an Ginsberg hat Jahre gedauert.

Das waren Briefe, um mich zu unterhalten, um meine Hingabe zu gewinnen und mich an ihn zu binden. Er war besessen von dieser Liebe. Ich habe versucht, so verantwortungsvoll wie möglich damit umzugehen, aber ich habe versagt.

Dann fügt er sinnend hinzu: »Ich habe ein langes, in vieler Hinsicht glückliches Liebesleben gehabt.« Auf die überraschte Frage: »Glücklich?« antwortet er:

Unglücklich glücklich, aber trotzdem, ein intensives Liebesleben. Ich habe mir nichts vorgestellt, das ich nicht erlebt habe, zumindest in Beziehung zu Liebe. Ich hatte schmerzliche und genußvolle Lieben.

Das erinnert an »Make love, not war«, einen Slogan aus der Geschichte, in der Ginsberg eine Rolle spielte: die Anti-Vietnam-Bewegung. Die Demonstrationen, Be-ins, Happenings, an denen er teilnahm. Für ihn war die Berichterstattung der amerikanischen Massenmedien schwarze Magie, Gehirnwäsche, um Massenmorde zu rechtfertigen. Dem stellte er die weiße Magie seiner Poesie entgegen, mit Anrufungen hinduistischer Gottheiten, Mantren, Chanten. Er stellte Collagen aus Nachrichtenfetzen zusammen. Und er erklärte das Ende des Krieges:

Laut erhebe ich meine Stimme
jetzt wird die amerikanische Sprache
das Mantra / ich betone die Worte
und fange mein Jahrtausend an
Ich erkläre hiemit das Ende des Krieges ...

Diese Gedichte lieferten die Texte, einer Jugend, die den Krieg verweigerte.

In vorgerückter Stunde kommt unser Gespräch nun auf Träume. »Ich schreibe immer meine Träume auf. Manchmal entpuppen sie sich als ganze Gedichte.« Und er erzählt einen Traum, der immer wiederkehrt. Er liest in einem heiligen, prophetischen Buch. Tief bewegt denkt er: ich werde kein Wort vergessen. Dann wacht er auf und hat — vergessen.

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