FORVM, No. 311/312
November
1979

Frankreich, von unten erwühlt

Maria Antonietta Macciocchi

Ein Buch über Frankreich, geschrieben von einer Italienerin? „Der französische Maulwurf“ gibt Gelegenheit, dem deutschen Leser eine Autorin vorzustellen, die in der Publizistik Italiens und Frankreichs einen guten Namen hat: Maria Antonietta Macciocchi, Journalistin, Politikerin und Schriftstellerin, lebt seit 1962 in Paris. Zeitweise war sie kommunistische Abgeordnete von Neapel, einer Stadt, über die sie 1969 ihre berühmt gewordenen „Briefe aus dem Inneren der KPI“ veröffentlicht hat, bis heute eines der besten Bücher über den Süden Italiens. Außerdem publizierte sie Bücher über China und über Gramsci, den Gründer der KPI, der heute als ein früher Gegner des Stalinismus gilt.

Auch in ihrem jüngsten Buch, im „Französischen Maulwurf“, stellt Maria Antonietta Macciocchi die Theorien Gramscis dem Eurokommunismus gegenüber, von dem sie gründlich enttäuscht ist.

Macciocchi war mit dem Dichter und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini befreundet. Seinetwegen hat sie sich mit der KPI verkracht, sie wurde der KPI unangenehm, man hat sie als Korrespondentin der römischen Parteizeitung Unità nach Paris abgeschoben. Der Pariser Mai ’68 hat sie dann endgültig aus dem dogmatischen Schlummer einer zwar unbequemen, aber loyalen Parteiarbeiterin gerissen.

Stolz erzählt Macciocchi, wie sie den damals noch unbekannten Enrico Berlinguer ins Pariser Odéon einschmuggelte, wo der zukünftige Generalsekretär einen Abend lang die französische Kulturrevolution aus erster Hand miterleben konnte. 9 Jahre später, nach dem internationalen Festival der Stadtindianer und der Neuen Linken im Herbst 1977 in Bologna, an dem Macciocchi teilgenommen hatte, wurde sie aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen.

Heute ist Maria Antonietta Macciocchi zünftige Dozentin, doch ihr Buch ist keineswegs akademisch. Nie verfällt sie in trockenen Stil, auch wenn sie über die „neuen Philosophen“ Clavel und Glucksmann, über den marxistischen Strukturalisten Louis Althusser oder über den Lebensstandard der französischen Arbeiterschaft referiert. Von der Reform-Universität Vincennes, wo sie als außerordentliche Professorin Vorlesungen hält, sagt Macciocchi spöttisch: die Regierung habe die Revolte vom Mai 68 auf wenige Hektar zusammengepfercht.

In Vincennes wurden gelegentlich Seminare über Sexualität abgehalten, aus denen die Presse dann wahre Orgien machte. Ein Pariser Journalist, den Macciocchi in der Universität herumführte, erschnupperte sofort mit feiner Nase den Duft von Haschisch.

Tatsächlich wird die Atmosphäre dieser linken Hochschule beispielsweise von maoistischen Studenten bestimmt, die in ihren Arbeitskreisen eifrig das Alte Testament interpretieren. Auch in Frankreich zweifeln die jungen Leute an der Politik, sie konzentrieren sich auf ihr Studium und sprechen immer weniger von der Revolution. Während des Wahlkampfs im Frühjahr 1978, so konstatiert Macciocchi, haben die Wähler die Politik zu verachten begonnen.

Damals rechnete man, teils ängstlich, teil hoffnungsvoll, mit einem Wahlsieg der Linksunion und kommunistischen Ministern in Paris. Der „Französische Maulwurf“ gibt eine sarkastische Schilderung dieses Wahlkampfs, in dessen Verlauf sich Mitterrand und Marchais heillos zerstritten.

Über die Fernsehauftritte des Vorsitzenden der KPF notiert Macciocchi: „Marchais trug den Krawattenknoten gelockert wie einer, der schwitzt. Und ein enges Jackett, in dem der Bizeps die Ärmel zu sprengen drohte. Auch seine Gegner rannten, ihn zu sehen. Athletische Meisterleistung, eine Art Schauspiel des Körpers, mit Zähneknirschen, Augenrollen; die Leute gerieten außer sich, wenn er mit erhobenem Zeigefinger schrie: „Reiche, ihr werdet bezahlen! Ich weiß, wo das Geld steckt!“

Was beim Lesen des Buches zuerst ins Auge sticht: wie wenig man von einem Land weiß, das ganz in der Nähe liegt. Allerdings, die Franzosen sind über das Ausland noch schlechter im Bilde. Für sie liegt jenseits von Alpen und Pyrenäen nur die Eiswüste. Macciocchi empört sich über den Chauvinismus der französischen Kommunisten, die darin mit den Gaullisten wetteifern, sie beklagt sich, wie schwer es ist, in der Metropole Fuß zu fassen, daß man den Ausländer instinktiv fürchtet, daß besonders die Ehefrauen gegenüber einer alleinstehenden Fremden das größte Mißtrauen hegen.

Ein scharfes Urteil, provoziert auch durch den Hochmut der Pariser Szene, die dem Ausland leicht den Blick auf die französische Realität versperrt. Im Vaterland der Aufklärung und der Jakobiner werden heute in hoher Auflage Bücher über die Kriegstaten der französischen SS-Division „Charlemagne“ verkauft, wird Hitlers Partner, der Marschall Pétain, offiziell gefeiert.

Maria Antonietta Macciocchi macht sich über das Modechristentum der „neuen Philosophen“ lustig, die leichtfertig das Erbe des Pariser Mai ’68 ausbeuten. Für das breite Publikum gibt es die Pornowelle: Allein für den Pornofilm „Emanuelle“ wurden in Paris fast 2 Millionen Karten verkauft. Vor allem kritisiert Macciocchi den Mythos des Eurokommunismus: Sie stellt fest, daß sich bei den französischen wie bei den italienischen Kommunisten junge, ehrgeizige Kader in den Vordergrund schieben, die zweireihige Anzüge tragen und mehr Technokraten als Politiker sind.

Die Devise des Buches lautet: „Um die Wahrheit an den Tag zu bringen, muß man immer ketzerischer sein. Respektlos und ironisch blickt Macciocchi hinter die Kulissen des großen Spektakels, das in der Hauptstadt von den Prominenten, den Parteien und Politikern inszeniert wird. In der französischen Gesellschaft ist eine Bewegung im Gange, die mächtiger ist als Wahlkämpfe und offizielle Parolen. Ein Gewerkschaftsfunktionär spricht es aus: „Wenn man Freizeit und Politik nebeneinanderstelit, erscheint die Politik ebenso überflüssig wie die Freizeit.“

Was ist aus dem Mai ’68 geworden? Traurig konstatiert die Verfasserin einen allgemeinen Infantilismus, in dem die vielversprechenden Programme von einst ersticken. Sie ist auf der Suche nach der Vision einer anderen, einer neuen Gesellschaft. Sie entdeckt Signale der Zukunft, wo niemand sie erwarten würde. Im wochenlangen Milchstreik der bretonischen Bauern, die sich gegen Genossenschaften und gegen die Polizei behaupteten. In der Emanzipation der Frauen auf dem flachen Lande, die offen über Abtreibung diskutieren. Im Aufstand der Weinbauern im Larzac, die gegen die Umwandlung ihrer Gärten in ein militärisches Sperrgebiet protestierten. In den Betrieben findet Macciocchi Arbeiter, die auf einen neuen Mai ’68 hoffen.

Schon der Titel des Buches „Der französische Maulwurf“ deutet an, daß sich die wahren Veränderungen unter der Oberfläche abspielen. Macciocchi interessiert sich für das schweigende Frankreich, sie berichtet über das Leben in der Provinz, über kleine Revolten, unscheinbare Befreiungsversuche, alltägliche Konflikte, die nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, aus denen sich aber das Porträt einer Gesellschaft im Wandel ergibt.

Macciocchi beherrscht die Kunst der literarischen Montage, sie schreibt engagiert, witzig und emotional. Dem Bierernst der Würdenträger von rechts und links tritt sie gern als Clown gegenüber. Sie vergleicht ihr Buch mit einer „Chaplinschen Komödie“, obwohl es oft ernst genug darin zugeht. Macciocchi fährt durch Frankreich, und ihr Buch nimmt den Leser auf diese abenteuerliche Reise mit.

Ein bewegliches Buch, das spontan von der Reportage zum persönlichen Gespräch springt, vom Interview zur politischen Analyse, von der Anekdote zur Philosophie. Macciocchi interviewt Bauern, Arbeiter, Politiker, hohe Staatsbeamte und immer wieder Frauen. Sie hat mit Ulla gesprochen, der Rädelsführerin des legendären Streiks der Prostituierten in Lyon, bei dem eine Kirche besetzt wurde. Sie hat Dörfer besucht, wo öffentliche Verkehrsmittel fehlen und die Hausfrauen per Autostopp zum Einkaufen fahren müssen. Sie diskutierte mit einem Abgeordneten der KPF, der sich für das Stratosphärenflugzeug Concorde begeistert, obwohl man für das verschleuderte Geld den Nulltarif in Paris einführen und die Verkehrsprobleme lösen könnte.

Macciocchi hat Guerlesquin besucht, die erste Rinder- und Schweinebörse Europas, wo man Vieh wie Aktien handelt. Sie ist in die Kantinen der Fabriken und in die Kasernen der Fremdarbeiter vorgedrungen, wo Frauen der Zutritt verboten ist. In der Nähe von Marseille hat sie das überdimensionale Industriezentrum Fos besichtigt, eine Kombination von Erdölhafen und Stahlwerk, bei dessen Errichtung 100 Arbeiter ums Leben kamen und wo heute der Kohlenwasserstoff vom Himmel regnet.

Auf dieser Reise durch Frankreich kommt Macciocchi zu dem Resultat, daß das Volk fortgeschrittener ist als die Führer, die sich in der Opposition zu seinen Anwälten aufschwingen.

„Der französische Maulwurf“ ist ein aktuelles Buch. Aber gerade ein aktuelles Werk gerät in Gefahr, noch während des Schreibens teilweise zu veralten. Im Augenblick ist es nicht mehr das Concorde-Modell, das die Problematik der modernen Großtechnologie symbolisiert, Concorde ist tot und wird eben begraben. Heute wäre es die Wiederaufbereitungsanlage der Cogema in Cap La Hague, das Zentrum der Wiederaufarbeitung der europäischen Atomindustrie, oder der schnelle Brüter „Super-Phenix“, der tödliches Plutonium erzeugt.

Zu kurz kommt im „Französischen Maulwurf“ auch die Rolle der Grünen, der Umweltschützer-Listen, die ihre Wahlerfolge zuerst in Frankreich hatten.

Maria Antonietta Macciocchi: Der französische Maulwurf. Eine politische Reise. Aus der Reihe, Rotbuch Verlag, Berlin 1979. 360 Seiten, brosch., DM 29, öS 226

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