Streifzüge, Heft 48
März
2010

FreundInnen

Segensreiche Entleiblichung der Interaktion

Freunde sind das Salz in der Ursuppe des Lebens. Ohne meine Freunde wüsste ich nicht, dass meine Frisur an einen totgefahrenen Frosch gemahnt. Dass Tschäcki Lugners Neuer im Sternzeichen und vom Gesicht her Ratte ist. Dass meine Hose backbords auch schon mal loser gesessen hat. Dass weibliche Frettchen an Östrogenvergiftung verenden, wenn ihnen in der Brunftzeit kein Fretterich sexuell beiwohnt. Dass meine Kolumnen früher viel pfiffiger waren. Trotz dieser mit Dank kaum aufzuwiegenden informativen Liebesdienste in der Vergangenheit sehe ich meine Freunde immer weniger.

Die Nullerjahre haben uns nämlich eine eminente Entleiblichung der Freundschaft beschert. Trefflich lässt sich über Facebook spotten oder in Bedenken ob der Verlotterung echter, gelebter Intersubjektivität verfallen. Doch dank „FB“ muss ich nicht mehr aus der Wohnung, wenn ich wissen will, was KathiKevinMarcelFranz gerade umtreibt. Da spare ich mir allerlei Unbill, vom falschen Outfit bis zum Tritt in Hundekot.

Eine wunderliche Wendung ist auch die Intimisierung der Einblicke. Unter vier Augen hätten mir meine gschamigen Kumpane nie gestanden, dass sie einen neuen Freund / den alten in den Wind geschossen / ihre lesbische Freundin geheiratet / das Geschlecht gewechselt haben. Auf Facebook habe ich tatsächlich all das und noch viel mehr erfahren. Im Internet können meine Freunde ihrem Bekenntnisdrang nachgeben, ohne durch gerunzelte Stirnen und Reaktionen wie „Aber der alte war doch noch ganz gut“ behelligt zu werden.
Heute habe ich 279 digitale Freunde. Früher hatte ich analog so viele Menschen nicht einmal gekannt. Gut, dass die auch nicht mehr so oft außer Haus gehen. Man stelle sich vor, ich gäbe eine Geselligkeit und alle kämen. Da wäre der Kühlschrank ratzfatz leergefressen, Mägen knurrten, Prügeleien entstünden im Unterzucker.

Ein immenser Vorteil besteht auch im Hygienischen. Was man sich bei der realen Interaktion alles holen kann! Von bösen Blicken über ungeplante Schwangerschaften bis zum Schnupfenvirus. Da doch lieber nur ein Virus auf dem Computer. Von den Einsparungspotenzialen im kränkelnden Gesundheitsbereich ganz zu schweigen.

Nachteilig könnte freilich das Fehlen echter sozialer Kontrolle sein – einst die Kernkompetenz privater Human Ressources. Schon heute wirkt sich das amikale Ausbleiben negativ auf vieler Menschen Wohnungsreinlichkeit aus. Auf den Sitzgelegenheiten sedimentieren sich Zettel, Zeitungen und Zigarettenschachteln. In den Ecken tollen die Staubmäuse mit den Silberfischen umher. Unschön.

Damit die Kemenate sich nicht schleichend anhand von Kleingetier und Raviolidosen in eine Mülldeponie verwandelt, empfiehlt es sich dringend, ab und zu echte Menschen hereinzubitten. Es müssen ja nicht die engsten Freunde sein, denn das sind oft die strengsten. Man kann durchaus einmal den Rauchfangkehrer oder einen Zeugen Jehovas einlassen und an deren Miene ablesen, ob es sie schon ekelt. Gelingt die Übung, kann man einander später bestimmt auf Facebook noch näher kommen und sich über das Paarungsverhalten von Nagetieren austauschen.

Dominika Meindl

Vorsicht, Zitat von Einstein

„Our separation from each other is an optical illusion of consciousness“ – klingt vorderhand völlig verrückt, oder? Aber mir gefiel es. Zunächst wahrscheinlich deswegen, weil es mit einer Realität aufräumte, mit der ich im Grunde nie viel hab anfangen können: Jene des vereinzelten Einzelnen, des Subjekts, das sich, teils tragisch teils komisch, irgendwie durchfrettet – wenig attraktiv. Andererseits behagten mir die Institutionen des sozialisierenden Zwangskollektivismus, wie die Schule damals oder die Pfadfinder, auch nicht so recht und ich schätzte drum bereits als Kind die Zurückgezogenheit.

Der Vorzug vom Rückzug besteht zweifellos darin, sich in der perspektivlosen Unvereinbarkeit zwischen sozialem Autismus und Pseudoindividualismus auf der einen Seite und der Vereinnahmung als soziales, staatenbildendes Insekt auf der andern identitär nicht unnötig verschleißen zu müssen; wie ich überhaupt eine grundsätzliche Abneigung gegen alle Arten freudloser Anstrengungen empfinde, worunter auch die mühsame Herausbildung einer Identität mittels Identifikation fällt.

Ich hielt mich also zurück und wartete ab und beobachtete. Zwar weiß man dabei nie genau wer man selbst ist, man bildet sich deshalb aber noch lang nicht ein, zu wissen, wer die andern sind. Das verunsichert zwar, doch eröffnet derartige Erwartungslosigkeit Möglichkeiten. Möglichkeiten etwa, sich selbst wie auch andere stets neu kennen zu lernen. Vielleicht hat Einstein ja das gemeint, dass die Wirklichkeit unseres Daseins nicht so sehr jener von stabilen Teilchen entspricht als viel eher den Möglichkeitsfunktionen interferierender Wellen, die per se nicht abgrenzbar, nicht trennbar sind.

Der Unberechenbarkeit einer Möglichkeitswelt ist auch das sog. Chaospendel ausgesetzt, auf dessen Arm weitere Pendel gehängt sind und dessen man sich gern zur Veranschaulichung komplexer chaotischer Vorgänge, wie sie für alles Leben charakteristisch sind, bedient. Seine Bewegungen lassen sich nicht vorhersagen, sie sind nichtlinear. Es gerät nämlich zuweilen an einen Schwebepunkt, in dem die Gesetzmäßigkeiten der klassischen Mechanik außer Kraft treten. Die Richtung, in die es kippen wird, ist in diesem hochsensiblen und instabilen Zustand u. U. von einer einzigen zufälligen Quantenfluktuation abhängig – an dieser Stelle, in diesem entscheidenden Moment nimmt das Pendel den ganzen Kosmos wahr: Größte Instabilität als Bedingung höchster Sensibilität.

Hingegen schätzt man auf unserm Planeten scheint’s Stabilität und Sicherheit – keine Freunde der Freiheit sind das. Schade, denn ebenso wie die statische Instabilität eines laufenden Beins durch Zuhilfenahme eines zweiten sich dynamisch stabilisieren lässt, könnten wir auch zueinander sein. Wir könnten uns in Freiheit verbunden fühlen, nicht in Abhängigkeiten gefangen.

Dann hören die andern auf, die Hölle zu sein, denn ich habe sie dazu gemacht anstatt in ihnen den potentiellen Freund zu sehen. Unsere Verschiedenheit akzeptieren und unsere je in uns angelegte Einzigartigkeit schätzen – da kann, glaub ich, nicht viel daneben gehen.

Die erste Begegnung mit einem, wie sich in der Folge herausstellen sollte, langjährigen Freund, hatte ich an einem ersten Schultag kurz nachdem ich beim Hinsetzen in die instabile und irreversible Phase überging und er mir versehentlich, wie er später beteuerte, den Sessel wegzog. Man kann also nie wissen, was alles möglich ist oder wird. Aus heutiger Sicht erscheint mir die geringste Feindseligkeit ihm gegenüber, die ich damals sicher empfand, völlig absurd. Wie absurd ist es also, überhaupt Feinde haben zu können? Schwer zu sagen.

Wenn unsere Trennung nur eine illusorische ist, dann zählt Freundschaft aber sicher zum Besten was uns diese scheinbare Trennung zu bieten hat und es ist allemal schöner, angenehmer und befruchtender sich unter Freunden zu wähnen als sich mit Scheingegnern herumzuschlagen.

Severin Heilmann

„Ich verstehe mich mit dir gut“

„Ich glaube nämlich, dass jedes Wesen, jedes Ding, jede Landschaft, genauso wie Feuer, Wasser und Luft auf einen Ton gestimmt ist, und manchmal in seligen Augenblicken begegnen wir Figuren oder Orten, die unserer Stimmung vollkommen entsprechen und uns zum Klingen bringen. Ein Glück der Harmonie kann dann entstehen: Zwei schauen sich gegenseitig auf den Grund der Seele. Einer kann Koloratursopran an der Mailänder Scala sein und der andere durchaus Regenwolken über den Donauauen. Der eine Eislieferant in Olmütz und der andere der Handschuh einer betrogenen Frau. Einer Zigarettenschmuggler und der andere das Geräusch einer zugeschlagenen Autotür. Jede Kombination ist denkbar. Die zwei erkennen einander, wissen, dass sie zum selben Stamm gehören und dass der Engel der guten Fügungen sie zu Recht anspucken würde, wenn sie einander leugneten.“ – Das schreibt André Heller über Joseph Roth und seine Protagonisten.

Wie sehr gilt das Beschriebene erst für zwei Menschen. Sympathie oder – ein anderes treffendes Wort – Zuneigung ist unberechenbar und unlogisch, daher unerklärlich. Geradezu magisch, sich von jemandem angezogen zu fühlen. Von Anfang an das Gefühl zu haben, einander schon lange zu kennen. Seelenverwandtschaft – eine Metapher für übereinstimmendes Empfinden. Manche „erkenne“ ich vom ersten Augenblick an, andere entdecke ich mit der Zeit. Freundschaft ist etwas Intimes. Mit Aristoteles, dem es bei der Freundschaft um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ging, habe ich nicht viel am Hut. Freundschaft als sittliche Tugend? Nein, das wäre für mich etwas zwischen „Nächstenliebe“ und „Solidarität“. Montaigne, für den „das größte Ereignis in der Welt ist zu verstehen, man selbst zu sein“ (la plus grande chose au monde est savoir ètre à soi), fühle ich mich viel näher. Die Freundschaft zu Étienne de La Boétie ging Montaigne über alles. Er fand aber, Freundschaft zu einer Frau – falls sie über geistige Fähigkeiten verfüge (er ist nur keiner solchen begegnet) – könnte noch stärker sein, weil sie Geist, Seele und Körper umfasse.

Es gibt Sätze, die zu Floskeln geworden sind und dabei ihrer vollen Bedeutung verlustig gegangen sind. Solch ein Sätzchen ist: „Ich verstehe mich mit dir gut.“ Das heißt doch: „Ich verstehe mich durch dich so gut.“ Sich selbst im Anderen erkennen. Zwei schauen sich gegenseitig auf den Grund der Seele. Freundschaft eine wundervolle Möglichkeit zu erfahren, man selbst zu sein, durch die Spiegelung im Anderen, durch das vom Anderen Wahr(!)genommen-Werden. – Von hier ist es nicht weit zur Kunst. Sie ist ebenfalls ein großartiges Mittel zur Spiegelung seiner Selbst. Stefan Zweig schreibt in seinem Fragment über Montaigne: „Wer sein eigenes Leben schildert, lebt für alle Menschen, wer seine Zeit zum Ausdruck bringt, für alle Zeiten.“ Auch das gemeinsame Genießen von Kunst, z.B. von Musik, die zweien gleichermaßen nahegeht, kann große Nähe schaffen. Und umgekehrt, was wäre eine bessere Inspiration für poetisches Schaffen als reizvolle Begegnungen. – Nicht umsonst heißt es auch, ein gutes Buch ist, wenn etwas so geschrieben wurde, als ob man es einem guten Freund erzählt hätte.

„Schriftlich und Körperlich – meine bevorzugten Ausdrucksweisen“, so beginnt eines meiner Gedichte. Briefe, Mails, SMS – ein wichtiger Austausch unter Freunden. Ein anregendes Ping-Pong – überlegt und reflektiert. Historische Briefwechsel – Literatur gewordene Freundschaft. Aber sich „sinnlich live“ zu treffen, der spontane, direkte Austausch darf kein Versprechen bleiben. „Unvermögen // Meine Vorstellung / vermag vieles. / Nur eines nicht. / Die Wirkung / deiner Anwesenheit / erzielen“, lautet ein anderes meiner Gedichte.

Freundschaft: Begegnung von Mensch zu Mensch, von Seele zu Seele. Begegnung jenseits von Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Milieu. Und auch jenseits von Weltanschauung. Unter meinen Freunden und Freundinnen sind Alte und Junge, Männer und Frauen, Schriftsteller und solche, die noch selten ein Buch von innen gesehen haben. Potentielle Freunde und Bekannte nach Kriterien der political and sexual correctness zu checken, ist genauso befremdlich wie nur unter Seinesgleichen zu verkehren. Bei der Zusammenarbeit und den Zusammenkünften in Sachen Analyse und Kritik steht eine bestimmte Aufgabe, eine Absicht im Vordergrund. Freundschaften hingegen sind absichtslos. Zuneigung wird in all ihren Varianten und Nuancen verkostet und ausgekostet – zweckfrei wie beim Spiel. Ein „Doppelleben“ ist daraus geworden. Ja, meine Welten sind überaus verschieden.

Maria Wölflingseder

Friends will be Friends

Wie armselig muss Paris Hilton sein, wenn sie sich ihre „Beste Freundin“ in einer Fernsehshow aussuchen muss. Nein, sie sucht sie nicht aus – sie „eliminiert“, und alle Anwärter_innen unterwerfen sich entwürdigenden Ritualen, die Freundschaft von vornherein ausschließen – ohne irgendeine Reaktion der Empörung.

Was ist es dann aber, von dem ich spüre, dass es die Luft ist, die meine Seele aufatmen lässt in all dem Gestank? Ich kann mich an Zeiten erinnern, da war ich mit mir selbst alleine in einer fremden Welt – die Gesellschaft unendlich weit entfernt. Vielen scheint dann nur die Liebe als ein Weg zur erfüllenden Gemeinsamkeit. Die wird bald zu eng, und das Ausbrechen führt dann wiederum zur Vereinsamung in einer beziehungslosen Welt, oft auch zu einem unbefriedigenden Hin und Her zwischen dem Streben nach Verschmelzung und Isolierung. Vielleicht ist Freundschaft die Gemeinsamkeit, die nicht so sehr auf die Pelle geht wie Liebe und nicht so weit weg ist wie die Gesamtgesellschaft.

Für Aristoteles ist wahre Freundschaft das Schätzen der anderen Person um ihrer selbst willen anstatt zum eigenen Nutzen. Hegel knüpft sie zudem noch an ein „gemeinsames Werk“, das gemeinsam getan wird, „denn Freundschaft, wenn sie auch noch so gemütreich ist, fordert doch einen Gehalt, eine wesentliche Sache als zusammenschließenden Zweck“. – Insofern sind politische Zusammenhänge, die sich für die Emanzipation von Menschen einsetzen, geradezu prädestiniert, Freundeskreise zu sein. Solche Gruppen können das in uns bewahren und stärken helfen, was dem kapitalistischen Verwertungszwang widersteht. Sonst führt der Anpassungsdruck entweder zur Assimilation oder zum Rückzug in verbitterte Isolation. Ein Nein zu den alltäglichen Zumutungen lässt sich auf Dauer ohne Schaden nur aushalten, wenn wir eine Gruppe gleichgesinnter Menschen im Hintergrund haben, die ein vertrauensvolles Gespräch über politische Themen möglich macht, in der der Gegendruck aufrecht erhalten werden kann. Damit daraus keine reine Kuschelfraktion wird, müssen die Grenzen nach außen offen bleiben und die Widersprüche dosiert hereingelassen werden.

Wie im Lernzonenkonzept: In der Komfortzone fühlen wir uns wohl, sicher und stark – in der Panikzone sind wir dagegen vor Angst und Panik fast handlungsunfähig. Dazwischen liegt daher die Lern- oder Wachstumszone. Welche Lebensbereiche und Praxen für wen in welcher Zone liegen, ist sehr unterschiedlich. Eine Komfortzone haben, Ausflüge in die Lernzone machen und von dort aus immer mal wieder in die Panikzone gehen – gestärkt von Freunden, die mitkommen und uns auffangen, wenn etwas schief geht. Meine erste Blockade vor den Castortransporten habe ich mutiger überstanden, als ich mir je zugetraut hätte – weil durch die Bezugsgruppen Rückzugsorte da waren. Das Wissen darum ließ mich mehr Schritte durch die Polizeisperre gehen, als ich alleine je geschafft hätte. Dazu verhilft ein Freundeskreis. Gleichzeitig ändert sich dadurch auch die Form des Agierens. Wer als Einzelkämpfer_in ständig in der Panikzone agiert, zeigt häufig Verbissen- und Verbiestertheit. Eine „Zwischenzone“ im Freundeskreis kann mehr Gelassenheit ermöglichen, in ihm die vertretenen Inhalte mit entwickeln, was einen starken Rückhalt gibt. In einer Kultur der Freundschaft können auch Dissonanzen besser so bearbeitet werden, dass sie alle Beteiligten voranbringen. Es wäre schon ein politischer Erfolg, der Kälte von Individualisierung, Flexibilisierung, Mobilisierung und Virtualisierung eine wärmende Gegenströmung abzugewinnen, zwischen Rückzugsnischen in fauler Harmonie und verbiestertem Einzelkämpfertum einen Vorschein emanzipativer Menschlichkeit erlebbar zu machen. Kampf wäre dann nicht nur Aufopferung, sondern erfülltes und beglückendes Leben.

Ich danke besonders meinen Freundinnen und Freunden von der „Zukunftswerkstatt Jena“ für unsere lange, bereichernde Freundschaft.

Annette Schlemm
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