Grundrisse, Nummer 28
Dezember
2008
Serhat Karakayali:

Gespenster der Migration

Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland

Bielefeld: transcript, 2008, 296 Seiten, 28,80 Euro

Illegale Migration ist nicht ohne den Kontext ihrer staatlichen Kontrolle analysierbar. Denn dieser bringt sie als Gegenstand erst hervor. Eine kritische Konzeptualisierung von Staatlichkeit hat es in der Migrationstheorie jedoch bislang nicht gegeben. Der Staat wurde zumeist entweder als Objekt oder Ausgangspunkt vorausgesetzt oder aber lediglich als Interessenvertretung mächtiger gesellschaftlicher Akteure betrachtet. Fragen nach dem Zustandekommen der Problematisierung von Migration oder nach dem Paradox eines scheinbar umfassenden staatlichen Kontrollwillens bei gleichzeitiger partieller Duldung illegaler Migration mussten notgedrungen offen bleiben. Migration als Konfliktfeld ist jedoch nur dann fassbar, wenn auch die Veränderungen in politischer Architektur und Praxis des Staates in die Analyse mit einbezogen werden. Serhat Karakayali hat mit seiner kürzlich erschienenen Monographie „Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland“ auf 296 Seiten einen ersten Schritt unternommen, diese Lücke in der Migrationsforschung zu schließen.

Empirischer Gegenstand seines Buches ist die Geschichte und Gegenwart der illegalen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Unter Verknüpfung materialistisch-staatstheoretischer, diskurstheoretischer, hegemonietheoretischer und gouvernementaler Perspektiven stellt der Autor die Frage nach der historischen Genese der epistemischen Konstitution illegaler Migration im Kontext staatlicher Kontrolle ab 1946. Staatlichkeit in Anlehnung an Poulantzas (1978) als Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zu begreifen, bedeutet für Karakayali, den Blick nicht nur auf regulierende staatliche Institutionen, sondern auch auf allgemeine soziale Prozesse und Kämpfe zu richten. Denn diese (diskursiven) Praktiken seien es, die Staatlichkeit und ihre Transformation erst herstellen. Begreift man wie Serhat Karakayali Staatlichkeit nicht von der Frage der Souveränität her, sondern als historisch jeweils spezifische Formierung unterschiedlicher Praktiken, dann lässt sich von vornherein das Moment der Veränderlichkeit von Staatlichkeit fokussieren.

Die Vorteile dieser Perspektive liegen auf der Hand: Serhat Karakayali kann die Konzeptualisierung von Migration selbst hinterfragen und kommt damit zu gänzlich anderen Ergebnissen als die klassische Migrationstheorie. Anhand einer Fülle von historischem Datenmaterial zeigt der Autor auf, dass illegale Migration bereits seit den 60er Jahren in Erscheinung tritt. Erst im Zuge dieser „autonomen“ Migration wurden die Migrationsbewegungen zum Zwecke der Verhinderung dauerhafter Ansiedelungen bzw. weiterer Migrationen, so Serhat Karakayali, mit Gesetzen überzogen. Auch die so genannten Gastarbeiterabkommen mit verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern seien weniger deshalb eingeführt worden, um an „ausländische“ Arbeitskräfte heranzukommen, sondern um die bereits bestehende Migration in staatlich kontrollierte Bahnen zu lenken. Die gängige sozialwissenschaftliche Erzählung von der Migration in die Bundesrepublik Deutschland, die wesentlich von staatlicher Seite initiiert worden sei, muss insofern zurückgewiesen werden. Serhat Karakayali gelingt es damit überzeugend zu zeigen, dass Migration staatlichen Regulierungsversuchen in der Regel vorausging und dass die bundesdeutsche Politik keine einheitliche Gastarbeiter- und Einwanderungspolitik aufwies. Vielmehr war diese selbst von vielfältigen, mitunter konträren und sich widersprechenden nationalen, lokalen und ökonomischen Dynamiken durchzogen. So wurden die nationalen Gesetze zur Verschärfung der Migrationpolitik auch von lokalen Ökonomien und Ämtern immer wieder unterwandert. Die sich verändernden Wege, Formen und Subjektivitäten der Migration als auch die Versuche von deren Kontrolle, so seine Schlussfolgerung, bedingen sich vielmehr wechselseitig.

Gewinnbringend und schlüssig erweist sich in diesem Zusammenhang die Anknüpfung an den analytischen Begriff des Regimes, mit dem Serhat Karakayali die Entstehung unterschiedlicher, sich nacheinander herausbildender Regierungsweisen (das Gastarbeiterregime, das Asylregime und das Menschenrechtsregime) anhand des Zusammenspiels verschiedener auf einander bezogener, aber ungerichteter Akteure und Diskurse herausarbeitet. Entgegen der gängigen Rede von Migrationssystemen vermag es der Regime-Begriff damit, funktionalistische oder ökonomistische Theoreme zu vermeiden.

Die gesellschaftliche Bearbeitung gegenwärtiger Migrationsbewegungen sieht Serhat Karakayali einerseits in einer Verschiebung der Regierung von Migration auf die Ebene der Verwaltung – einem Prozess, der mit dem Ausbau des Asylsystems vorangetrieben wurde – und andererseits in einer humanistischen Migrationspolitik. Während in der Verwaltung die Beschränkung der Migration zum Thema gemacht wird, bemüht die später erst aufkommende menschenrechtliche Rationalität den Status von Migranten als Opfern. Die Spaltung der Netzwerke der Migration in kriminelle Täter (z.B. Schlepper) und unschuldige Opfer sei Ausgangspunkt für das sich aus dem Menschenrechtsregime herausbildende „Viktimisierungsdipositiv“. Ein Denken in nationalstaatlichen Containern ist ausschlaggebend für diese Regierungsweisen, so Karakayali. Die Vorstellung einer Gesellschaft, in der das Soziale mit den nationalstaatlichen Grenzen gleichgesetzt wird, kritisiert Serhat Karakayali jedoch als „methodologischen Nationalismus“. Mangels Alternativen zum Viktimisierungsdispositiv bliebe vielen Migranten und migrantischen Organisationen – wollen sie im politischen Diskurs Gehör finden – kaum eine andere Möglichkeit als von sich selbst anders als von Opfern zu sprechen. Der Viktimisierungsdiskurs spricht Migranten dabei nicht nur ihren Status als handlungsfähige Subjekte ab, sondern fungiert zudem, so zeigt Serhat Karakayali anhand des Beispiels „Menschenhandel“ auf, als Instrument zur Migrationsverhinderung unter humanitären Vorzeichen.

Eine alternative Denkweise stellt Serhat Karakayali mit der Anknüpfung an die Perspektive der Autonomie der Migration bereit. Diese fasst Migration als soziale Bewegung insofern, als dass sie auf die Unmöglichkeit der Regulierung der Migration durch staatliche Akteure verweist und damit die Handlungsfähigkeit der Migranten herausstreicht. Die in der Vergangenheit berechtigterweise vorgetragene Kritik an einer affirmativen Haltung gegenüber dem subversiven Potential von Migrationsbewegungen mit aufnehmend, argumentiert Karakayali, dass erst aus einer Perspektive, in der Migranten als Subjekte vorkommen, gesellschaftliche Veränderungen jenseits nationaler Paradigmen denkbar werden können. Das Container-Verständnis des Staates wird hier – ohne deshalb von einer Auflösung oder einem Souveränitätsverlust von Nationalstaaten zu sprechen – zugunsten eines Fokus auf Räume aufgehoben.

Karakayalis Buch, so sei abschließend notiert, stellt eine wichtige Weiterentwicklung für die kritische Migrationsforschung dar. Hatte diese in der Vergangenheit stets die Eigendynamiken von Migrationsbewegungen betont, so ist die Betrachtung der Herstellung von Devianz und sozialer Kontrolle mindestens ebenso wichtig, um die in wechselseitiger Abhängigkeit angeregte Transformation beider Felder verstehen zu können. Denn nichts erklärt die Konstitution von so genannten Verbrechen besser als die Analyse der Funktionsweise der Institutionen sozialer Kontrolle. Mit Karakayalis staatstheoretischer Perspektive, von der ich mir an manchen Stellen noch eine detailliertere und tief greifendere Besprechung gewünscht hätte, liefert der Autor trotz wachsender Grenzbefestigungen an den Rändern Europas gute Argumente gegen das inzwischen im Mainstream angekommene Bild einer undurchlässigen und kohärenten „Festung Europa“.

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