Grundrisse, Nummer 7
September
2003

Gespräch mit Joachim Hirsch über Staat, Kapital, Kräfteverhältnisse, „Empire“, Gramsci und Poulantzas

Das Gespräch wurde am 21.3.03 in Wien aufgezeichnet. Ausgangspunkt war das letzte Buch von Joachim Hirsch „Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen“, Hamburg 2002.

grundrisse: In manchen Passagen ihres Buches entsteht der Eindruck, daß das Verhältnis Staat (im engeren Sinne) und Hegemonie, das zwar als Kampffeld aufgefaßt wird, als unproblematisch und bruchlos erscheint. Damit gehen aber möglicherweise jene Einsichten verloren die aus der Analyse der Entgegensetzung Staat - Gesellschaft gewonnen werden können. In gewisser Weise ähnelt das bestimmten Interpretationen der gramscianischen Konzeption des Staates als Hegemonie gepanzert mit Zwang. Diese erscheint als konfliktförmig garantierte Artikulation verschiedener ’Funktionen’ kapitalistischer Staatlichkeit und ihrer mehr oder weniger bruchlose Verknüpfung mit darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden. Noch der kleinste Kaninchenzüchterverein wird als Teil der hegemonialen Strukturen zum Moment des bürgerlichen Staates. Da zur Hegemonie Klassenkompromisse und die Erzeugung des Konsenses der Subalternen gehören, letztere also nicht einfach Außen stehen, beginnen Linke Bewegungen/Organisationen auf einmal um Hegemonie zu kämpfen und hegemonial Projekte zu formulieren und nicht nach einem Bruch mit diesen zu suchen.

Um dieses angesprochene Problem ein wenig zu verdeutlichen, möchten wir auf zwei, damit zusammenhängende Einwände verweisen:

Erstens: Marx ist immer davon ausgegangen, daß die „emanzipatorischen Bewegungen“ nur auf der Ebene der Gesellschaft entstehen und sich entwickeln können. Selbstverständlich wird der Staat und sein Apparat auf diese Bewegungen, wie immer theoretisch sie auch gefaßt werden (Emanzipation, Klassenkampf, Befreiung usw.) darauf (zumeist uneinheitlich) reagieren. Aus dieser Verbindung und Verknüpfung kann aber nicht geschlossen werden, der Staat (im engeren Sinne) sei ein mögliches Feld emanzipatorischer Prozesse.

Zweitens: Auf Seite 125 schreiben sie: „Der These von der ‚Einbettung’ ökonomischer Prozesse im Zuge der Globalisierung liegt eine falsche Entgegensetzung von ‚Staat’ und ‚Markt’ zugrunde, die unberücksichtigt läßt, dass Marktprozesse immer politisch begründet und gesteuert werden und der Staat nicht einfach eine außerökonomische Instanz, sondern selbst ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses ist.“ Unbestritten ist, daß der Staat die rechtlichen und praktisch-konkreten Rahmenbedingungen für die Kapitalakkumulation herstellt. Auch ist zu bedenken, daß etwa der österreichische Staat (und in anderen, vergleichbaren Ländern dürfte das nicht viel anders sein) rund ein Drittel des Bruttoinlandprodukts über das Budget umwälzt, als über gigantische Geldsummen verfügt, die er politisch einsetzt. Aber muß nicht die kapitalistische Produktionsweise aus sich heraus begriffen werden, wie hätte sonst Marx „Das Kapital“ schreiben können, in dem er doch durchgehend von der Existenz und Wirkungsweise des Staates abstrahiert? Wir wollen allerdings nicht verschwiegen, daß diese Frage auch innerhalb der Redaktion der „grundrisse“ durchaus offen ist. Doch auch um der Klärung willen soll hier eben jene Position nachgefragt werden, die davon ausgeht, daß – zumindest auf der logischen Analyseebene –die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise ohne Bezug auf den Staat dargestellt und begriffen werden kann.

Joachim Hirsch: Also bei der Frage der Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft muß man davon ausgehen, dass es theoriegeschichtlich zwei ganz verschiedene Begriffe des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft gibt. Das eine ist die frühbürgerliche Entgegensetzung von Gesellschaft und Staat - Gesellschaft als Selbstorganisation der Bürger, Demokratie - Staat als Gewaltapparat; und die zweite ist die von Gramsci mit seiner Konzeption des integralen Staates, die Staat und Gesellschaft zu einem Herrschaftszusammenhang zusammenschließt. Zwischen diesen Konzeptionen besteht ein zentraler Unterschied, weil bei Gramsci Gesellschaft nicht a priori ein Ort ist, an dem Demokratie herrscht oder entsteht, sondern Gesellschaft ist selber ein Herrschaftszusammenhang, der durch die bestehenden Verhältnisse geprägt ist und in einem bestimmten Verhältnis zum repressiven Staat steht. Das heißt, Gesellschaft ist für Gramsci der Ort, wo bürgerliche Hegemonie zunächst einmal entsteht und damit entscheidende Grundlage von Herrschaft darstellt. Ich selber orientiert mich stärker am Verhältnisses von Staat und Gesellschaft im Sinne von Gramsci. Das bedeutet nicht, dass Gesellschaft jetzt sozusagen integral oder ein geschlossener Bestandteil des herrschenden Herrschaftsapparats ist - Gesellschaft ist sowohl ein Ausdruck von Herrschaft wie auch eine Ebene, in der Selbstorganisation und alternative Projekte sowie alternative Bewegungen entstehen können. Sie ist damit ein Kampffeld, aber eines, das sozusagen nicht nur offen wäre, sondern es ist geprägt durch die herrschenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse, d.h. von Eigentumsverhältnissen, unterschiedlichen Zugangschancen, sozialer Ungleichheit. Gesellschaft ist natürlich immer formiert durch den stattlichen Herrschaftsapparat, über Finanzierung, Gebote, Verbote, Gesetzte. Ich bevorzuge diesen Komplexen Begriff von Gramsci, weil ich denke, dass der klassisch bürgerliche Begriff von Zivilgesellschaft das Problem hat, Herrschaft eigentlich nur im Staat zu sehen. Das halte ich für eine Verkürzung.

Roland Atzmüller: Das würde aber heißen, dass Marx in den Frühschriften, in denen er von einer Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft ausgeht, eher an einem bürgerlichen Staatsbegriff anknüpft, auch wenn er diesen kritisch wendet.

Ja, könnte man sagen. Ich glaube, das ist bei Marx nicht ganz so eindeutig, aber er orientiert sich stark an der Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft - das was für seine Zeit in der Theorie beherrschend war, das färbt schon ab. Es gibt ja eine lange Diskussion über Staat und Gesellschaft bei Marx, die eigentlich offen geblieben ist, man kann ihn nicht eindeutig verorten. Gleichzeitig muß man sehen, dass Gramsci einfach einen Fortschritt gegenüber Marx darstellt, hinter den man nicht mehr zurückgehen kann. Deswegen beziehe ich mich nicht direkt auf Marx, weil das sehr schwierig ist, sondern sehr stark auf Gramsci.

Karl Reitter: Mein Einwand ist schlicht folgender: Die grundlegende Frage ist doch, ob man nicht die bürgerliche Gesellschaft in gewissen Aspekten aus sich selbst heraus verstehen muß. Wie hätte sonst der Marx das „Kapital“ schreiben können? Das „Kapital“ untersucht die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in engem Sinne, als Sub-Institution des Gesamts der Sozialordnung und Marx arbeitet eine Eigenlogik des Kapitalverhältnisses heraus. Der Punkt ist: bei dieser Analyse abstrahiert er vom Staat. Damit ist nicht gesagt, dass die Gesellschaft der Ort der Demokratie sei, sondern nur, dass diese Eigengesetzlichkeit erkennbar und analysierbar ist. Dass man natürlich in der Realität in der empirischen Mannigfaltigkeit vom Staat nicht abstrahieren kann, ist schon richtig, aber notwendig ist sozusagen ein zwei-stufiges Begreifen. Daher nochmals mein Einwand: wenn man Staat und Gesellschaft zu sehr ineinanderschiebt und sie grundlegenden Unterschiede einebnet- wie kann man dann noch am „Kapital“ anknüpfen.

Das ist natürlich eine ziemlich grundlegende Frage der Marx-Interpretation und betrifft den methodische Stellenwert des „Kapital“. Wir haben offenbar eine sehr unterschiedliche Position. Ich schätze das „Kapital“ als die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, wie Marx selbst schreibt. Das heißt, er arbeitet im „Kapital“ ganz abstrakt einige grundlegende Strukturelemente und Gesetzmäßigkeiten dieser Gesellschaft aus, aber er schreibt keine Theorie dieser Gesellschaft. Das ist glaube ich die Differenz. Er schreibt keine Theorie einer konkreten Gesellschaftsformation. Mein theoretischer Ausgangspunkt, das ist Gramsci, Poulantzas. Man kann die bürgerliche Gesellschaft nicht verstehen ohne Staat, man kann das Kapital nicht verstehen ohne Staat, der Staat ist selbst ein Bestandteil des Kapitalverhältnisses. Das ist eine „nichtmarxistische“ Position, das kommt bei Marx so nicht vor. Bei Marx erscheint der Staat im Kapital an ganz interessanten Stellen, z.B. beim Geld, indem er sagt, er habe das Geld einmal theoretisch entwickelt, aber praktisch funktioniert Geld nur, wenn der Staat existiert – d.h., der Staat ist selber ein Teil des realen Geldverhältnisses. In diesem Punkt gibt es ganz unterschiedliche theoretische Positionen. Mein ganz harter Grund ist; der Staat ist ein Bestandteil des Kapitalverhältnisses selber, weil das Kapitalverhältnis als reines, abstraktes nicht funktionieren kann. Interessant ist, dass bei Marx der Staat an einer Stelle ganz radikal ins Kapital eintritt, nämlich im 24. Kapitel, betitelt „ursprüngliche Akkumulation“, in dem er nochmals aufweist, dass das Kapitalverhältnis ein Gewaltverhältnis ist, das gewaltmäßig hergestellt wird und gewaltmäßig gesichert werden muß, während in den vorhergehenden Kapiteln im „Kapital“ von der politischen Gewalt eigentlich kaum die Rede ist. Marx spricht nur von der Gewalt des Kapitals und nicht von der politischen Gewalt; ich denke, das ist seinem methodischen Vorgehen geschuldet ist, dass man akzeptieren kann; man muss es wahrscheinlich sogar so machen, aber meine These ist; das „Kapital“ ist keine umfassende Theorie der bürgerlichen Gesellschaft.

Roland Atzmüller: Ich möchte nochmals nachfragen: in unseren Diskussionen zu dieser Thematik kamen wir unter anderem zum Ergebnis, dass es eine Lese- oder Interpretationsstreuung in der Gramsci-Rezeption geben kann, in der die Trennung des Staates von den ökonomischen Verhältnissen eigentlich aufgelöst wird, indem alles als Teil der hegemonialen Apparaturen wird. Damit geht ein kritischer Aspekt der ganzen Auseinandersetzung mit Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung verloren, das Problem der Trennung, der Besonderung des Staates verschwindet, und damit auch die Analyse von Klassenherrschaft.

Jetzt müssten wir auch auf die Lesarten von Gramsci in den Gramsci-Rezeptionen eingehen. Es gibt eine kulturalistische, eine bürgerliche Gramsci-Rezeption, die ihren Grund auch in den Gramscischen Ansätzen selber hat. Meiner Meinung formuliert Gramsci auch keine Staatstheorie, er hat eine Hegemonietheorie; mit der spezifischen Form „Staat“ beschäftigt er sich theoretisch nicht und das macht unterschiedliche Lesarten möglich. Ich sehe darin ein Problem bei Gramsci, und bei einer kritischen Lektüre muß dies auch mitgedacht werden Was er als erweiterten Staat begreift, ist nicht so sehr eine geschlossene Einrichtung, ich möchte aber zugeben, daß der Gegensatz von Staat und in seiner Theorie etwas unterbelichtet bleibt.

grundrisse: Sie beziehen sich immer wieder auf den Begriff des Kräfteverhältnisses, in dem der Gegensatz der Klassen zum Ausdruck käme. Auch wenn sie den erweiterten Staatsbegriff nicht in ein Kräfteverhältnis auflösen, scheint und doch dem Begriff der Kraft eine spezifische Problematik innezuwohnen. Und zwar:

Sind Widerstand und Emanzipation nicht immer an Sinn und Bedeutung gebunden? Spielt die Dimension von Würde, sozialer Identität, Lebensentwürfen und Bedürfnissen nicht immer eine, wenn nicht die entscheidende Rolle beider Formierung und Entwicklung gesellschaftskritischen Bewegungen und oppositionellen Strömungen? Zugegeben, um den gesellschaftlichen, politischen Einfluß, die Auswirkungen erkennen, ja formulieren zu können, sind die Metaphern der Kraft unabdingbar, zumal, auch das sei zugestanden, sich es eben nicht nur um Metaphern handelt. Trotzdem existiert hier ein offensichtliches Übersetzungsproblem, ein Problem, das zu wenig, ja scheinbar überhaupt keine Beachtung findet. Zweitens: Auch wenn der Begriff der Kraft und der Kräfteverhältnisse als unabdingbar zu akzeptieren ist, gibt es noch das Problem des „Durchkommens“ von oppositionellen Bestrebungen. Während es vor allem in Fordismus Themen gab, die offenbar sehr leicht „durchkamen“, etwa Lohnforderungen, gab es andererseits Bedürfnisse, die systematisch verleugnet wurden und als solche in der offiziellen Welt der Institutionen, also auch innerhalb der Sozialdemokratien und der Gewerkschaften, gar nicht existierten. Sie berufen sich im hinteren Teil ihres Buches mehrmals auf Marcuses Buch, „Der eindimensionale Mensch“. Marcuse betont ja immer wieder die „Abriegelung“ innerhalb der „offiziellen“ Gesellschaft. Von den zwei unvermittelbaren Tendenzen die er am Beginn seines Werkes nennt, die „Abriegelung“, den „Ausschluß“ eben die Eindimensionalität stellt er eine zweite Tendenz, jene der Kräfte der Befreiung, entgegen. Die Kräfte der Befreiung, und das ist ja eine Pointe seines Denkens, existierten gewissermaßen nur unterirdisch, gehen in das Spiel der Kräfteverhältnisse gar nicht ein, da sie keine Form der Repräsentation finden können. An mehreren Stellen greifen sie diesen Gedanken auf. Etwa auf Seite 169 indem sie Narr/Schubert zitieren: „Ereignisse haben nicht stattgefunden, wenn nicht über sie bereichtet wird.“ Auf Seite 201 verschärfen sie diesen Gedanken noch dadurch, daß sie eine abnehmende Kraft mit der Nähe zum Staat beschreiben: „Selbst Reformen, die mehr sein sollen als passive Anpassung an veränderte Verwertungsbedingungen des Kapitals, bedürften des Drucks eigenständiger und sich außerhalb der herrschenden Institutionen entfaltender Initiativen und Bewegungen, und je mehr sich diese -partei- und verbandsförmig - selbst ‚verstaatlichen’, desto mehr verlieren sie ihre Kraft.“ Besteht nicht das politische Kalkül des Postfordismus auch darin, die Verdichtung und Kondensation und Klassengegensätzen gar nicht mehr zuzulassen, was unter anderem in den - glücklicherweise gescheiterten - Versuchen abzulesen ist, Gewerkschaften und Arbeiterkammern in ihrer Funktion einfach zu unterlaufen.

Dass Widerstand und Emanzipation immer an Sinn und Bedeutung gebunden ist, ist selbstverständlich. Es gibt überhaupt kein menschliches Handeln, das nicht Sinn und Bedeutung zur Grundlage hat, streiten können wir, ob das immer auf solche Kürzel wie Würde und Identität zurückführbar ist. Den Bezug zu Würde und Identität halte ich ein bisschen für zu hoch gesteckt, manchmal geht es schlicht um materielle Interessen, das ist Konsens. Konsens besteht auch darin, dass der Begriff Kräfteverhältnis zumindest sehr vage ist, obwohl er sehr oft in der Literatur verwendet wird, er wird auch sehr unterschiedlich verwendet und die Vagheit kommt auch daher, dass er sich auf relativ komplexe Zusammenhänge bezieht. Was heißt denn eigentlich Kräfteverhältnis? Ist es ein Verhältnis von Kräften – bei Poulantzas sind es erst mal Klassenkräfte, die sind noch relativ definierbar, bei Marx ebenso. Das Kapital ist ein Verhältnis zwischen Kräften, also zwischen Proletariat und Bourgeoisie und diese Kräfte konstituieren sich auch in ihrem Konflikt, das kann man auch noch sagen. Die eigentliche und entscheidende Frage ist nun: was ist eigentlich die Kraft in dem Verhältnis? Ich denke das ist erst mal nicht generell bestimmbar, das hängt mit Organisation, Geschlossenheit zusammen, mit der Einheitlichkeit der Ziele, der Hegemonie, also mit der Möglichkeit, die eigenen Ziele zu universalisieren, diese für allgemeingültig darzustellen. Beim Thema der Sichtbarkeit, der Formen der Institutionalisierung, da geht unendlich viel ein und der Kürzel Repräsentation verdeckt das eigentlich. In der Frage wird etwas ausgesprochen, das ich für problematisch halte, nämlich dass etwas keine Kraft sei, wenn es nicht sichtbar ist, wenn es also von der Öffentlichkeit dethematisiert wird, wenn es keine Repräsentation erlangen kann. Denken wir zum Beispiel an die jetzige Bewegung gegen den Krieg oder an die Ereignisse in Seattle und die Antiglobalisierungsproteste. Dabei gab es keine Repräsentation, das war aber ein Kräfteverhältnis, und ein ziemlich massives, das sogar in der Lage war, internationale Institutionen relativ stark ins Schleudern zu bringen. Man sollte also nicht an einem etablierten Begriff von Kräften festhalten, und sagen: Kräfte sind das, was organisiert ist, Parteien, Gewerkschaften, Parlament, Öffentlichkeit. Es gibt durchaus Prozesse und Bewegungen, die unterhalb oder jenseits dieser Strukturen verlaufen und Wirksamkeit entfalten können. In der Tat ist Herrschaft immer darauf angelegt ist, das Entstehen alternativer Kräfte strukturell zu verhindern. Die herrschende politische Apparatur ist immer darauf angelegt, dass die parlamentarische Form der Repräsentation als die einzig zulässige erscheint und das Entstehen alternativer Kräfte zu verhindern, nur gelingt das nie vollständig. Kräfte sind nicht nur das, was repräsentiert wird, es sind vielfältige andere Formen von kulturellen Zusammenhängen, von intellektuellen Zirkeln die Kräfteverhältnisse ausmachen können, Kräfte die müssen nicht unbedingt eine Form von politischer Repräsentation gewinnen.

Roland Atzmüller: Aber ist das Verständnis von Kräfteverhältnissen bei Poulantzas nicht noch fundamentaler konzipiert? Die Formulierung der Kräfte, die du jetzt verwendet hast, besitzt eine stark politizistische Schlagseite, das heißt, organisierte Kräfte werden vorausgesetzt. Der Clou bei Poulantzas besteht ja darin, die Widersprüchlichkeit des Klassenverhältnisses, das Kapitalverhältnisses an sich, als Kräfteverhältnis so aufzufassen, ist jenseits der Frage, ob Lohnabhängige sich schon organisieren oder nicht. Es ist ein Kräfteverhältnis einfach, weil es weil es widersprüchlich ist, weil es um die Realisierung von lebendiger Arbeit geht; und Poulantzas geht weiters davon aus, dass sich dieses Kräfteverhältnis im Staat ausdrückt und durch ihn verkörpert wird.

Das was jetzt als „politizistisch“ bezeichnet wurde wird dann relevant, wenn Kräfteverhältnisse verschoben werden sollen. Zunächst sie existieren als Verhältnisse, aber der Kampf ist ja die Verschiebung dieser Verhältnisse. Die Arbeiterklasse ist nicht allein deswegen eine Kraft, weil sie Arbeiterklasse ist, sondern weil sie sich organisiert, weil sie kämpft, weil sie ihre politischen Strukturen herausbildet, bestimmte Taktiken ausheckt. Dadurch wird sie zur Kraft, sie ist eine, aber zum Verschieben müssen sich die Kräfte verändern. Daraus resultiert dann dieser politischen Touch. Aber wichtig ist, die Kräfte sind erst mal da, sie wurzeln in der Struktur der Gesellschaft selber.

Roland Atzmüller: Beziehungsweise könnte man ergänzen, das die einzelnen Teile des widersprüchlichen Verhältnisses Lohnarbeit – Kapital im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang immer politisch konstituiert sind. Das muß nicht in Form einer radikalen Gewerkschaft geschehen, das kann auch ein Berufsverband sein, aber es in gewisser Weise bedeutete dies immer ein Formulieren von Interessen in der jeweiligen Arbeitsmarktsituation.

Ja, der Staat organisiert sie in irgendeiner Art und Weise, sei es in Form von Sozialstaat, von Korporatismus oder auch in Form von Diktatur, kann ja auch sein, es gibt verschiedene Formen, aber immer organisiert der Staat die Kräfte

Karl Reitter: Nochmals zur Repräsentation. Was ich aus der operaistischen Ecke gelernt habe, ist, dass man Widerstand nicht allein in der Form der Repräsentation denken kann, sondern auch das Unrepräsentierte, das Unrepräsentierbare beachten muß. Ist es bei Negri nicht schon fast ein Vorteil, wenn etwas nicht repräsentierbar ist? Das Problem wirft eine Menge Fragen auf: ist es eine Tugend, wenn etwas nicht repräsentierbar ist oder eine Schwäche, wenn Bewegungen sich nicht repräsentieren können? Weiters: Besteht nicht ein Kalkül der postfordistischen Verhältnisse darin, Repräsentationsformen zu unterlaufen? Wenn zum Beispiel Lohnabschlüsse nicht mehr durch die Gewerkschaft auf Kollektivvertragsbasis ausgehandelt, sondern direkt auf Betriebsebene abgeschlossen werden, wird die Gewerkschaft als repräsentative Organisation unterlaufen. Diese Entwicklung muß man nicht ausschließlich negativ einschätzen aber die Problematik ist unübersehbar.

Dem stimme ich zu. Man könnte es vielleicht radikal anders formulieren: die unmittelbare Selbstbestimmung der Menschen ist nicht repräsentationsfähig – wird sie aber realisiert, ist es eine Kraft. Es ist doch logisch: meine Selbstbestimmung kann ich nicht repräsentieren lassen – Repräsentation ist immer Delegation von Macht – die kann in bestimmten Situationen notwendig sein – Lohnarbeiter können nicht sich selbst organisieren, sonst wären sie keine Lohnarbeiter, sondern sie müssen diese Form der Repräsentation in Parteien und Gewerkschaften finden. Aber man muss aufpassen und darf Kräfteverhältnisse nicht auf Repräsentation reduzieren. Repräsentation spielt eine Rolle; die Zerschlagung bestimmter Repräsentationsmechanismen – und das geht von den Gewerkschaften bis zur Entmachtung der Parlamente – ist natürlich ein Resultat der Kräfteverhältnisse. Es kann aber auch passieren, dass aus einer solchen Entwicklung eine radikalere Form der politischen Interessenvertretung folgt, und daher die Kräfte der Arbeiterklasse auch stärkt. Wenn diese selektiven Repräsentationsmechanismen, die im Staatsapparat präsent sind, zerstört werden, muss das nicht unbedingt heißen, dass die Kräfteverhältnisse zu Lasten der Unterdrückten verschoben werden, sie können sich dann gegebenenfalls anders organisieren. Diese Entwicklung ist eine Frage der Politik und erfolgt nicht automatisch. Aber im Ausgangspunkt stimmen wir überein.

grundrisse: Sie stehen den Aussagen von Hardt und Negri in deren Arbeit „Empire“ sehr kritisch, ja ablehnend gegenüber. Einerseits scheiten es uns, als ob sie doch an einige Thesen orientieren, wird ihr Gegenkonzept nicht wirklich klar.

Folgende Punkte scheinen uns mit einigen Thesen des „Empire“ gut vereinbar. Sie sprechen vom Übergang von Militär- in Polizeiinterventionen. Polizeiaktion drückt ja nicht nur ein Kräfteverhältnis aus, sondern ist mit der These verbunden, das „Empire“ kenne kein „Außen“. Auf Seite 193 beziehen sie sich positiv auf Polanyi, der, wie sie resümierend schreiben, davon ausgeht, daß der Kapitalismus überhaupt nur existieren und sich entwickeln konnte, weil von Anfang an „soziale Gegenkräfte“ wirksam waren. Sicher, diese These ist nicht ident mit der operaistischen Auffassung, die ArbeiterInnenklasse/Multitude treibe das Kapital vor sich her, aber insofern ähnlich, als die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus strukturell an „soziale Gegenkräfte“ gebunden ist. Und das ist doch etwas anders als zu sagen, die ArbeiterInnenklasse konnte partiell gewisse Interessen durchsetzen. Auf Seite 196 etwa wird die Bedeutung der immateriellen Arbeit anerkannt: „Die Auseinandersetzungen um die Produktion und Aneignung von Wissen sind damit nicht nur ein Funktionsbestandteil der postfordistischen Akkumulations- und Regulationsweise, sondern enthalten auch ein sprengendes Moment.“

Was nun ihre Kritik am „Empire“ betrifft: Sie gehen in Ihrer Charakterisierung des Staatensystems und der internationalen Regulation methodisch von den einzelnen Nationalstaaten aus. Der globale Kapitalismus sei „eine Verknüpfung voneinander abhängender einzelstaatlichen Akkumulationsregimes und Regulationsweisen“. In diesen Zusammenhang lehnen Sie auch die klassische Imperialismustheorie ab und beschreiben das Verhältnis Zentrum -Peripherie als veränderliches Netzwerk gegensätzlicher und verbundener staatlicher Einheiten. Hier scheint es also als ob Sie den Begriff des Imperialismus, wie er in der linken und kommunistischen Bewegung verwendet wurde und wird, ablehnen. (S 75-76). Andererseits kritisieren Sie Negri/Hardt mit den Worten: „Statt über ein aus diffusen politisch-ökonomischen Netzwerken bestehendes ‚Empire’ zu spekulieren, sollte also besser von einer grundlegenden Neustrukturierung imperialistischer Herrschaftsverhältnisse geredet werden, in denen die konkurrierenden Staaten als Gewaltapparate eine entscheidende Rolle spielen.“ Dieser letzte Passage scheint doch im völligen Einklang mit klassischen Imperialismustheorien zu stehen. (S 148) Sehen sie wieder eine zunehmende Bedeutung der klassischen Imperialismuskonzepte? Ist es nicht zunehmend so, daß man die globalen Strukturen zum Ausgangspunkt der Analyse machen muß und daraus erst die Rolle der staatlichen und anderer „staatlicher“ Formen - sie nennen das „Internationalisierung der Staates“ - ableiten sollte? Verliert man nicht durch den Versuch wie in der fordistischen Periode vom Nationalstaat ausgehend die internationale Ordnung zu begreifen gerade das neue an der Situation aus den Augen? In vielen Details scheinen sie mit Einschätzungen, die in Negri/Hardt getroffen werden, übereinzustimmen andererseits polemisieren sie an einer Reihe von Stellen mit den Konzepten aus Empire, indem sie z.B. deren Relativierung der Bedeutung des Nationalstaates als Behauptung der simplen Verschmelzen von Staat und internationalen Kapital hinstellen. (S 122) Uns scheint doch der interessante Gedanke der Überlegungen im „Empire“ nicht in den deskriptiven Positionierung der Staaten und anderer Formen in der „Pyramide“ zu liegen: Wesentlich für die Konzeption des Empires ist, dass der klassische Imperialismus mit der rigiden Hierarchisierung der Beziehungen zwischen Kolonialmacht und Kolonie, die Eingrenzung der Welt (das Einfärben der Weltlandkarte) mit der Tendenz des Kapitals zur Überwindung aller Grenzen im Widerspruch steht. Dieser Widerspruch tritt auf, weil es nach der Eroberung der Erde kein Außen mehr gibt. Für Negri/Hardt ist die US Form der Weltbeherrschung (die US Verfassung ist ja Vorbild) eben nicht Imperialismus sondern Empire, weil er die starren Verhältnisse des klassischen Imperialismus auflöst, die Landkarte nicht mehr „einfärbt“ sondern die ganze Welt tendenziell zum offenen Feld für das internationale Kapital macht. Diese Nichtrigidität konstatieren sie ja ebenfalls, wie oben beschrieben. Gerade weil uns eine Vielzahl von Beschreibungen, die sie machen, detaillierter und genauer erscheinen als die oft sehr metaphorischen und anfechtbaren Details der „Empire“, hätten wir uns eine das „Empire“ ernst nehmende Kritik von Ihnen gewünscht - ähnlich tiefgehend wie ihre Besprechung des letzen Buches von Holloway.

Ich fang damit an, warum ich das Hardt/Negri-Buch nicht kritisiere und das Holloway-Buch schon: das hat einen einfachen Grund: das Hardt/Negri-Buch ist inzwischen so abgrundtief kritisiert worden, das muss man nicht ständig wiederholen; Holloway ist neu – übrigens bin ich mit ihm befreundet und wir haben eine lange Geschichte von theoretischen Differenzen. Mein Verhältnis zu Hardt/Negri ist relativ einfach – ich halte das Buch für theoretisch verfehlt, also wirklich grundsätzlich verfehlt. Da wir die gleiche Welt angucken und damit gleiche Feststellungen machen, kann es sein, daß wir zu gemeinsamen Positionen kommen, die hab ich nicht aus „Empire“ übernommen. „Empire“ hab ich erst kürzlich eigentlich gelesen, und es natürlich klar wenn man die Entwicklung des globalen Kapitalismus anguckt, dann gibt es bestimmte Dinge, die einem auffallen müssen.

Ich denke, dass in der Tat das Imperialismusthema in diesem Zusammenhang auch deutlich macht, wo die Unterschiede liegen. Die Äußerung, dass die ganze Welt tendenziell zum offenen Feld für das internationale Kapital wird, die hat ja genauso gut für das 19. Jahrhundert gegolten,; ich frag mich, was an dieser These neu sein soll. Seit der Kapitalismus existiert ist er ein globales System, nur für eine kurze Zeit unterbrochen durch die russische Revolution, aber sonst immer. Und die Frage ist nicht so sehr, ob wir den Imperialismus haben, sondern welche Gestalt er annimmt. Ich würde es theoretisch so sagen, daß der Kapitalismus sich nur in der staatlichen politischen Form reproduzieren kann – und das ist mein starker Punkt. Was die politische Spaltung der Welt betrifft, dass er auf internationale Ungleichheitsverhältnisse, auf Peripherisierung, auf ungleiche Entwicklung gegründet ist; das alles beschreibt schon Lenin ganz richtig. Es ist ein Grundmerkmal des Kapitalismus, dass er nie die Gestalt eines homogenen, weltumspannenden ähnlichen Verhältnisses annimmt, sondern immer ungleich, gespalten, konflikthaft bleiben wird. Nur die Art und Weise, mit der sich das herauskristallisiert, das ändert sich mit der historischen Gestalt des Kapitalismus und mit der historischen Gestalt der Staaten und des Staatensystems. Und da gibt es jetzt wirklich einen Unterschied: ich denke, dass die Imperialismusanalysen von Lenin, Luxemburg, Hilferding usw. in ihrer beschreibenden Art und Weise - besonders bei Lenin sind sie sehr beschreibend – für heute nicht mehr ausreichen, das ist ganz klar. Sie reichen nicht aus, trotzdem können wir von Imperialismus reden; wir müssen nur genau sagen, wie sich dieser Imperialismus heute konkret ausprägt. Dafür gibt es ein paar Hinweise; erstens ist der heutige Imperialismus nicht mehr kolonialistisch, das hängt mit der unterschiedlichen Form der Produktion und der Realisierung von Mehrwert zusammen. Es ist heute nützlicher und der Entwicklung der Produktivkräfte und der Vergesellschaftungsverhältnisse adäquater, Märkte und nicht politische Gebiete zu erobern.

Bernhard Dorfer: Oder Märkte abzuschließen, das war ja der Sinn des Kolonialismus.

Das passiert ja heute in anderer Form wieder. Natürlich ist die EU auch eine protektionistische Gruppierung, aber nicht mehr eine nationalstaatliche, die NAFTA genauso. Wenn z.B. Bush den Irak angreift, dann nicht deshalb, um den Irak in eine Kolonie im formellen Sinne zu machen, sondern um eine gefügige Regierung einzusetzen, das reicht. Wir leben in der nachkolonialen Zeit, in einer Zeit der selbständigen Regierungen, in der Kolonien nur mehr einen Restbestand darstellen. Das bedeutet aber nicht, dass der Imperialismus nicht mehr besteht – diese Frage ist in der Neokolonialismusdebatte schon länger abgehandelt worden.

Ein weiterer Punkt hat den Imperialismus sehr stark verändert. Aufgrund der militärtechnischen Entwicklungen, der Position der USA nach dem Fall der SU sind innerimperialistische Militärkonflikte nicht mehr direkt möglich. Was nicht heißt , dass nicht kriegerische Konflikte stattfinden – siehe Afghanistan, Balkan, Afrika. Diese Kriege waren immer imperialistische Kriege, auch Kriege, in denen Konflikte zwischen den kapitalistischen Metropolen eine Rolle gespielt haben, aber sie werden nicht mehr als direkte Kriege geführt und können das auch nicht mehr. Das mag sich durchaus wieder ändern, aber im Moment ist es so. Kurz gefasst: ich glaube, dass der Imperialismusbegriff nicht verabschiedet werden sollte, weil er dem Kapitalismusbegriff inhärent ist, aber gleichzeitig ist zu bedenken, dass der Imperialismus historisch sehr unterschiedliche Formen annimmt und damit auch sehr unterschiedliche Dynamiken und Konfliktmomente beinhaltet.

Bernhard Dorfer: Für mich wurden jetzt zwei ganz zentrale Punkte der Imperialismustheorie angesprochen. Der erste Punkt betrifft ein wesentliches Moment des Kolonialismus, nämlich die Abschließung. Lenin hebt in seiner Imperialismustheorie darauf ab, daß in der Peripherie abgeschlossene Gebiete geschaffen wurden, die sich exklusive in der Hand einer imperialistischen Macht befanden. Jetzt zu sagen, das habe sich gegenwärtig halt stark verändert und sei daher als Neokolonialismus zu bezeichnen– so kann man mit dem Leninschen Imperialismusbegriff nicht umgehen, weil in der Leninschen Imperialismusanalyse die Abschließung der Gebiete einen zentraler Punkt darstellt. Und die Kontinuität in der Tatsache zu sehen, daß es damals wie heute entwickelte Zonen gibt und in Unterentwicklung gehaltene Zonen, geht an dem Punkt der Abschließung vorbei.

Der zweite Punkt betrifft die Form der Konkurrenz. Gegenwärtig wird die innerimperialistische Rivalität auf der ökonomischen Ebene ausgetragen, wobei zweifellos unterschiedliche Engagements, sei es am Balkan, sei es im Irak zu beobachten sind. Aber keineswegs aktuell ist die Situation, aus der die Leninsche Imperialismusanalyse heraus geschrieben worden ist und worauf sie wieder hinprojiziert wurde, nämlich, dass es da zwischen den imperialistischen Blöcken akut und in absehbarer Zeit zu Konflikten kommt. Somit sind zwei Essentials der Leninschen Imperialismustheorie weggefallen, das Prinzip des Abschlusses und der offene, militärische Konflikt. Wenn die zwei zentralen Sachen wegfallen und nur mehr bleibt: Kapitalismus hat entwickelte und in Unterentwicklung gehaltene Zonen und über diese zwei Momente locker darüber hinweggegangen wird, und wir einfach salopp von „Neokolonialismus“ und „neuen Formen“ sprechen, steht der Imperialismusbegriff insgesamt zur Debatte.

Wenn man das ganz stark machen will und die Leninsche Konzeption von Imperialismus als Imperialismus bezeichnet, dann sollte man den Begriff verabschieden, das ist richtig, der existiert in der Weise nicht mehr. Das ist vielleicht eine sehr technische Frage, ob man den Begriff weiter behält oder doch auch eine politische Frage. Politisch halte ich es deshalb für ganz wichtig, weil in der ganzen Globalisierungssoße, auch von der Linken – und auch von Hardt/Negri so getan wurde, als würde sich die Welt unter ein Prinzip vereinheitlichen, und das ist falsch. Es ist ja nicht nur so, dass wir auf der Welt immer noch abhängige Gebiete haben, Zentren, Armut, Wohlstand, also diese ganzen Spaltungen innerhalb der Welt, sondern man muss auch sehen, dass es in der Logik des Kapitals liegt, diese immer wieder zu reproduzieren. Das ist der Grund, weshalb ich am Imperialismusbegriff gerne festhalten würde, weil er sozusagen das, was Lenin schon irgendwie begriffen, allerdings nicht so richtig begründet hat, festhalten kann. (Luxemburg hat versucht, den Imperialismusbegriff zu begründen, ihre Begründung halte ich für falsch.) Daher soll wenn ihn als analytischen Begriff stärken soll und nicht als deskriptiven.

grundrisse: Es sind ungefähr 20 Jahre vergangen seitdem sie programmatisch – nach den Erfahrungen der Debatten der 70er Jahre – eine ‚Reformulierung’ der Staatstheorie als Ziel formuliert haben. Ein Teil dieser Reformulierungsstrategie war auch die „Anwendung“/Erprobung des an Marx orientierten staatstheoretischen Analyseinstrumentariums auf konkrete Formen des kapitalistischen Staates. In ihren Arbeiten ergibt dies eine Abfolge der begrifflichen Verdichtung konkreter kapitalistischer Staatsmodelle vom fordistischen Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat. (Dazwischen liegt wenn mensch so will, das ‚neue Gesicht des Kapitalismus ohne Alternative’) Welche theoretischen und konzeptionellen Fortschritte scheinen ihnen für die Entwicklung der staatstheoretischen Debatte in dieser Zeit zentral? Inwiefern sind sie geeignet die gegenwärtigen Dynamiken kapitalistischer Staatlichkeit zu analysieren. In welchem Verhältnis stehen sie zu Fragen konkreter emanzipatorischer Politik/Praxis?

Anders ausgedrückt, was bedeuten die in der Begrifflichkeit des nationalen Wettbewerbsstaates angedeuteten Veränderungen für die Konzeption eines „radikalen Reformismus“? Letzterer schien (schon in ihrer Diskussion aus dem Jahre 1990) und scheint stark behaftet von den Erfahrungen der Durchstaatlichung der Gesellschaft und Integration der Widersprüche, wie sie neue Produktions- und Lebensformen geschaffen werden. Im nationalen Wettbewerbsstaat aber ist – bspw. unter dem Schlagwort Rückzug des Staates – die Schaffung von Produktions- und Lebensformen jenseits der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung auch politisches Programm und Kampffeld. Zivilgesellschaft, Empowerment, Eigenverantwortung, Netzwerke sind Herrschaftstechnologien geworden.

Nützen Staat und Kapital vereinfacht gesprochen die Chancen, die ihnen die Krise des Fordismus und die Angriffe auf den ‚sozialdemokratischen Konsens’ geboten haben, um auch die bürokratischen und etatistisch-disziplinären Formen etwa von Sozialpolitik und Gemeineigentum zurückzudrehen? Oder ist davon auszugehen, dass der Fordismus und seine Krise als Grundlage der soziökonomischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten Jahre, auch zu einer Reorganisation der gesellschaftlichen Kampffelder und Konfliktlinien geführt haben?

Was so zur theoretischen Entwicklung zu sagen ist – also ich komme ja ursprünglich von der Staatsableitungsdebatte her, die sich eines ziemlich schlechten Rufs erfreut, die ich aber für wichtig halte, weil sie versuchte, auf Basis der Marxschen Theorie eine Analyse der politischen Form zu erzeugen. Der Irrtum bestand lange Zeit darin, Staatstheorie mit der Theorie der politischen Form zu verwechseln. Theorie der politischen Form ist nicht Staatstheorie, genauso wie die Theorie der Wertform noch keine Geldtheorie ist. Für mich hat das bedeutet, mir sukzessive Theoriebestandteile anzueignen, die es ermöglichen, auf die Ebene der konkreten Staatsanalyse zu kommen. Das fing an mit Poulantzas. Poulantzas hat auf mich einen ziemlich großen Einfluss ausgeübt und über ihn bin ich auf Gramsci gekommen. Dann kam die Regulationstheorie, die ziemlich wichtig war, Foucault, und schließlich die internationale politische Ökonomie. Diese ist relativ neu, das hängt sicher mit der Weltentwicklung zusammen; nach 1990 mußte man einfach internationale politische Ökonomie machen, aber das war der Theoriestrang. Die Logik dahinter ist, sich sozusagen an die Realität der politischen Verhältnisse immer weiter anzunähern, also von der abstrakten Analyse zur Realität des Staates und der Staatenwelt und der Rezeption von Theorien, die das eher ermöglichen, vorzudringen.

Mit dem radikalen Reformismus: da hat sich eigentlich am Konzept wenig geändert; ich gebe zu, dass dieses Konzept in den 80er Jahre sehr stark nationalstaatlich eingegrenzt war, etwas anderes gabs da eigentlich auch nicht. Heutzutage muss man das anders formulieren, man kommt damit aber in gewisse Probleme. Die Frage ist, wie verhält sich das, was man als internationale Bewegungen bezeichnen kann zu den nationalstaatlichen politischen Räumen?

Ich vertrete ja die ganz starke These, dass internationale Bewegung, als abgelöste internationale Bewegung, gar nicht existiert; es sind immer lokale, regionale nationale Kräfte, die sich in bestimmten Punkten und Phasen international verdichten. Wenn man von den Kräfteverhältnissen ausgeht, also die Kraft einer internationalen Protestbewegung bestimmen will, so hängt diese sehr stark von ihrer Verankerung in der nationalen Gesellschaften ab. Der nationalstaatliche Rahmen bleibt ein wichtiger Bezugspunkt. Trotzdem muss man betonen, dass radikaler Reformismus – und dies habe ich schon den ersten Konzeptionen des radikalen Reformismus betont – dieser nicht auf nationaler Ebene beschränkt sein kann, das geht gar nicht. Doch dieses Problem und diese Herausforderung ist in meinem neuen Buch („Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen“) erst kursorisch behandelt.

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