Jahr 2005
Oktober
2005

Grundlagen der Gesellschaftskritik

Einführende Veranstaltungsreihe der Studienvertretung Politikwissenschaft

Wozu Kritik der politischen Ökonomie? (Florian Ruttner)

„Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut,“ ist seit längerem der Slogan eines Spots der Wirtschaftskammer Österreich, verbunden mit dem Hinweis darauf, was nicht gemeinsam mit der Wirtschaft wachse: Infrastruktur und Bildung, ja eigentlich alles. In dieser Aussage ist in bewundernswerter Schlichtheit das vorherrschende Bild des Produktions- und Zirkulations­prozesses skizziert. Kategorien wie Lohnarbeit, Kapital und Wert spielen dabei keine Rolle; die ganze Veranstaltung scheint schlicht mit dem Allgemeinwohl kurzgeschlossen zu sein, das immer dann wieder eingeklagt wird, wenn die Ergebnisse nicht mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen. Dann wird gemahnt, von der Sozialdemokratie bis zur Kirche wird mit gro­ßer Sorge auf „übersteigertes Gewinnstreben auf den Finanzmärkten“ hingewiesen, also auf unmoralisches Verhalten, das mit gesellschaftlichen Verhältnissen nichts zu tun hat, von denen man sowieso nie reden will, sondern nur von „Sachzwängen“. Diese moralische, nur auf die Zirkulationsspähre gerichtete Kritik endet aber in der Regression, im Hass aufs Abstrakte und im Lied vom einfachen, aber edlen Leben. Dagegen gilt es, den ökonomischen Prozess als das zu kritisieren, was er ist: Dinglich vermittelte Herrschaft, die einer eigenen Logik folgt. Die Kategorien dieser Logik, die gesellschaftlich objektiv gültigen Ver­kehrsformen dieser Gesellschaft sollen in dem Vortrag kritisch dargestellt und der Hinweis geliefert werden, dass sie um eines guten, emanzipierten Lebens Willen abgeschafft werden sollten.

  • Heinrich, Michael: Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart 2004.
  • Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform, Freiburg i., Br. 1997.
  • Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW 23, Berlin 1956.

Warum Staatskritik/Kritik der Politik? (Alex Gruber)

Laut Adorno ist das Recht „das Urphänomen irrationaler Rationalität“. Der junge Hegel meinte, dass der Staat „freie Menschen als mechanisches Räderwerk“ behandeln muss und deshalb aufhören soll zu existieren. Kritik, die den Marx’schen kategori­schen Imperativ „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist,“ noch Ernst nimmt, hat sich der materialistischen Kritik jener Formen zuzuwenden, die gemeinhin als unhintergehbar gelten: Der Formen von Recht und Staat. Diese sind wie Ware und Kapital als fetischisierte Formen abstrak­ter Herrschaft zu begreifen, die nicht emanzipatorisch genutzt, sondern praktisch abgeschafft werden müssen, soll am Ende mehr herausschauen als die Wiederholung des Immergleichen: die Unterwerfung des Individuums unter schein-notwendigen gesellschaftlichen Zwang.

  • Paschukanis, Eugen [1929]: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Freiburg 2003.
  • Agnoli, Johannes [1975]: Der Staat des Kapitals, Freiburg 1995.
  • Joachim, Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation, Freiburg 1994.

Elemente einer Kritik des modernen Antisemitismus (Florian Markl)

In den letzten 10 Jahren, besonders aber seit dem 11. September 2001 und dem Beginn der so genannten „zweiten Intifada“, ist weltweit eine Renaissance des Antisemitismus zu konstatieren. Er ist, um mit Henryk M. Broder zu sprechen, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Rechte und Linke, Gläubige und Ketzer, Mystiker und Rationalisten gleichermaßen einigen können. In Anknüpfung an die Kritische Theorie wollen wir einige Elemente einer Theorie des modernen Antisemitismus diskutieren und der Frage nachgehen, warum er nach wie vor weltweit Massen in Rage zu versetzen vermag. Dabei gilt es festzuhalten, dass es die moderne Gesellschaft selbst ist, die aus sich heraus den Antisemitismus gebiert. Wer, so ließe sich in Anlehnung an Max Horkheimer sagen, über erstere nicht sprechen will, der sollte auch über letzteren schweigen. Einzig im Rahmen gesellschaftstheoretischer Überlegungen ist den Wurzeln des Antisemitismus auf die Spur zu kommen.

  • Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Ders.: Gesammelte Schriften 20.1, Frankfurt/M. 1997.
  • Postone, Moishe: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Werz, Michael (Hrsg.): Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt/Main 1995.
  • Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Natan [Hg.]: Neuer Antisemitismus? Ein globale Debatte, Frankfurt/M. 2004

Einführung in die Psychoanalyse als Gesellschaftstheorie – Der autoritäre Charakter (Ljiljana Radonic)

Nach einer kurzen Einführung in die Grundbegriffe der Freudschen Psychoanalyse soll auf deren Erkenntnisse, welche für eine kritische Theorie der Gesellschaft gewinnbringend sind, eingegangen werden. Wie hat die Kritische Theorie rund um Theodor W. Adorno die drei psychischen Instanzen – Ich, Es und Über-Ich –, sowie Freuds Triebtheorie und Massenpsychologie zur Theorie des Autoritären Charakters weiterentwickelt? Als unzulässig empfundene Regungen werden verdrängt und auf „Sündenböcke“ projiziert. Die narzisstische Kränkung, unter anderem bedingt durch das Erahnen der eigenen Ersetzbarkeit innerhalb der Gesellschaft, schafft ein Bedürfnis nach Aufwertung, am besten in einer übermächtigen Masse – eines Wir-Kollektives wie der Nation. Zum Schluss soll auf die gesellschaftlich bedingte Verkehrung eingegangen werden, die Tatsache nämlich, dass autoritätshörige, unreflektierte Menschen viel leichter in der Gesellschaft zurechtkommen, als kritische, reflektierende Individuen, welche an der unvernünftigen Einrichtung der Welt zu verzweifeln drohen.

  • Freud, Sigmund: Das Ich und das Es [1923], in: Studienausgabe Bd. III, Frankfurt/Main 2000.
  • Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1999.
  • Simmel, Ernst [Hg.]: Antisemitismus, Frankfurt/M. 1993.

Tagesseminar zur Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie (Michael Heinrich)

Anmeldung unter stv.powi@oeh.univie.ac.at

„Marxismus“ ist für die einen die Erklärung aller Welträtsel, eine „wissenschaftliche Weltanschauung“, welche jede Antwort kennt, bevor die Frage auch nur gestellt wird, für andere eine ziemlich simple Weltsicht, die alles auf den Gegensatz der Klassen reduziert, und ganz schnell in gut und böse, fortschrittlich und reaktionär sortiert. Doch schon Marx erklärte: „Ich bin kein Marxist!“ In seinem „Kapital“ lieferte er keine alternative „politische Ökonomie“ und auch keine Anleitung zum Aufbau des Sozialismus, sondern – wie der Untertitel verrät – eine „Kritik der politischen Ökonomie“. Was es mit dieser Kritik auf sich hat, warum es im „Kapital“ nicht einfach um Arbeit, sondern um „abstrakte Arbeit“ und „Fetischismus“ geht, was Kapital mit Ausbeutung zu tun hat und warum es ein „automatisches Subjekt“ ist, darum soll es gehen. Dabei wird deut­lich werden, dass sich der globale Konkurrenzkapitalismus von heute zwar nicht mit dem traditionellen, weltanschaulichen Marxismus, aber durchaus mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie analysieren lässt.

Vortrag: Kapital, Staat und Krieg (Michael Heinrich)

Kapitalistische Ökonomie und moderner Staat sind in mehrfacher Hinsicht aufeinander angewiesen. Der Staat muss die Voraussetzungen kapitalistische Produktion, die das Kapital selbst nicht produzieren kann, garantieren: sowohl die recht­lichen Verkehrsformen als auch die materiellen und sozialen Bedingungen der Produktion. Andererseits gewährleistet nur eine erfolgreiche Akkumulation, dass der moderne Steuerstaat genügend materielle Ressourcen erhält. Staatliche Politik ist daher zwar alles andere als unabhängig vom Kapital, doch ist sie auch nicht die schlichte Umsetzung eines gesamtkapitalisti­schen Interesses. Vielmehr muss sie dieses Interesse überhaupt erst als „nationales“ Interesse konstituieren, den subalternen Klassen gegenüber legitimieren und gegen konkurrierende Staaten notfalls mit kriegerischer Gewalt durchsetzen – wobei es zu den Schönheiten des modernen, demokratischen Staats gehört, dass die Durchsetzung der – gegensätzlichen – nationalen Interessen stets der Ausbreitung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten dient.

Michael Heinrich ist Redaktionsmitglied von PROKLA (Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft) und Autor von: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 2004; Die Wissenschaft vom Wert, 3. Aufl., Münster 2003 sowie zahlreicher Aufsätze zur Marxschen Theorie und zur aktuellen Entwicklung des Kapitalismus (weitere Texte siehe: www.oekonomiekritik.de).

Kritik der Kategorie Geschlecht. Perspektiven feministischer Theorie (Jutta Sommerbauer)

Die feministische Theorie stellt das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis in den Mittelpunkt ihrer Kritik. In welchem gesell­schaftlichen Kontext nahm die Politisierung des Geschlechterverhältnisses ihren Ausgang? Welche unterschiedlichen Traditionen feministi­scher Theorie gibt es? Welche Rolle spielen heute noch die einst zentralen Paradigmen von Gleichheit und Differenz? Geschlechterkritische Sichtweisen betreffen auch die Politikwissenschaft. Anhand einiger Grundbegriffe soll erläutert werden, wie feministische Theorie diese „herausfordert“. Zudem wird auf die Institutionalisierung der feministischen Theorie im Wissenschaftsbetrieb eingegangen. Können die so genannten „Gender Studies“ das transformative Programm des Feminismus umsetzen?

  • Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli: Feministische Theorien zur Einführung; Hamburg 2000.
  • Kreisky, Eva/Sauer, Birgit: Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Eine Einführung; Frankfurt/M: 1995.
  • Sommerbauer, Jutta: Differenzen zwischen Frauen. Zur Positionsbestimmung und Kritik des postmodernen Feminismus; Münster 2003.
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