MOZ, Nummer 47
Dezember
1989
Die neue Bahn

High noon für die ÖBB

Die Transitdiskussion brachte die Straße ins Gerede, als Alternative sollen die ÖBB herhalten. Nach jahrzehntelanger „falscher“ Verkehrspolitik kämpft die Bahn jedoch ums Überleben.

Der britische Regierungschef Margret Thatcher hat gezeigt, wie man’s macht. Ihrer Dame Vorbild wiederum ist made in USA, der Ware Geist heißt Liberalismus und hat die Eisenbahnen ganz mächtig erwischt.

Vor allem in den USA.

Parallel mit dem Aufstreben der Autoindustrie ging’s dort mit der Bahn bergab. Bereits 1950 war die Länge des Schienennetzes auf den Stand des Jahres 1905 zurückgeschrumpelt. Dann, nach einer kurzen Phase der Stagnation, setzten in den frühen Sechzigern die Autolobbyisten — mit großem Erfolg — zum endgültigen Kahlschlag an: Rund zehn Jahre später durchzogen gerade noch kümmerliche zehn Prozent vom früheren Schienennetz die amerikanischen Weiten.

Vorbei war’s mit der Bahn.

Anders ausgedrückt: Reisten 1930 noch etwa 77% der Personen per Zug, sind es heute gerade mal noch 7,5%. Ein eindrucksvolles Ergebnis.

Und das macht Sinn in der Logik traditioneller Wachstumsphilosophie.

So stand die Thatcher-Administration um nichts nach und schuf — für die neustrukturierte britische Gesellschaft — ein neues öffentliches Verkehrssystem. Nach einfachem Rezept: Eine komfortable wie teure Hochgeschwindigkeitsbahn, distinguiertes Service auf den profitablen Strecken, möglichst privatisiert, weil gewinnabwerfend, metropolenverbindend, wenig in die Fläche reichend.

Nebenan schnaufen die Busse durch das Land. Billigere Tarife, kein Service, notorische Unpünktlichkeit und ständig wechselnde Fahrpläne kennzeichnen den Personentransport der anderen Art.

Ebenso setzt die EG — der Binnenmarktphilosophie folgend — auf den Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrekken, unter Vernachlässigung der Verbindungen in der Fläche. Und des Schienengütertransports.

Bahn nur dort, wo Fliegen nicht mehr geht, weil selbst die Gemeinschaft keinen zweiten Himmel einzuziehen vermag.

Und wo’s profitabel erscheint.

Ansonsten dominieren LKW und PKW. Ein allfälliges Überdenken der europäischen Verkehrspolitik seitens der Kommission zeichnet sich ebensowenig ab, wie die Beteuerungen der nationalen Regierungen, der Schiene Priorität einzuräumen, Wirklichkeit werden. Die Mitgliedsstaaten investieren, wenn überhaupt, einzig in den Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes.

Regionalbahn im Weinviertel: Von 50 Personen am Tag auf 2000
Bild: Karl Lind

Gänserndorf — Groß Schweinbarth

Im niederösterreichischen Weinviertel, auf der Strecke Groß Schweinbarth-Gänserndorf, überlegt der etwa 55jährige Zugbetreuer, wie noch mehr Personen für den Zug zu gewinnen wären. In Matzen, meint er, müßten die heimkehrenden Eisläufer/innen eigentlich auf die Bahn umsteigen. Alleine, der Fahrplan läßt’s noch nicht ganz zu. Den solle man, regt er an, doch darauf abstimmen. Ebenso bräuchte es mal wieder neugedruckte Fahrpläne, ob da was zu machen sei, fragt er meinen Begleiter, zuständig in der ÖBB-Landesdirektion für die ostösterreichischen Regionalbahnen.

Solche Probleme zu lösen, dazu hätte es vor einigen Jahren noch mehrerer schriftlicher Eingaben gebraucht. Und Fahrplanänderungen, mitten unterm Jahr, sowas gibt’s sowieso nicht.

Nicht minder engagiert und besorgt um das Schicksal der ÖBB zeigt sich der Bahnhofsvorstand in Groß Schweinbarth. Nebenbei ist er noch mobiler Kundenbetreuer, sprich Keiler der Bahn um Kunden für den Gütertransport.

Die Weinviertler Strecke ist mittlerweile Herzeigeobjekt der ÖBB. Einer von den Abschnitten, denen Verkehrsminister Streicher 1986 noch keine Chance geben wollte. Denn die Menschen, so die Regierungsmaxime, schenkten ihre Präferenz dem Automobil.

So frequentierten vor der „Streckenattraktivierung“ gerade mal um die 50 Personen per Tag die Eisenbahn. Als dann 1986 Arbeiterkammer und Gewerkschaft die Modernisierung erreichten, ging’s nur mehr bergauf. Heute benutzen an die 2.000 Menschen den Zug, und das täglich.

Ein Ergebnis, das alle Beteiligten überraschte, in der Alltagspolitik jedoch noch wenig Resonanz finden konnte.

Wenn auch das Beispiel nicht unbedingt auf alle anderen Regionalbahnen übertragbar scheint, zeigt es doch eine klare Tendenz: Die Menschen sind — bietet man geeignete Rahmenbedingungen — durchaus bereit, sich vom Autofetischismus zu lösen.

Und sei’s auch nur aus finanziellen Gründen. Denn die Bahn erspart vielen Haushalten das — bis vor kurzem notwendige — Zweitauto. Soll heißen: Die Familienvorsitzenden fahren mit dem Automobil zur Arbeit, die Gattinnen per Bahn zum Einkauf.

Alles in allem also rund 3.000 öS mehr im Monat. Nicht eingerechnet der volkswirtschaftliche Gewinn: Die deutliche Reduktion des Straßendurchzugsverkehrs mit allen seinen ökologischen und sozialen Folgekosten. Weniger Unfälle, weniger Dreck, weniger Lärm, weniger Streß usw. Dafür mehr an Kontakten.

Seit die Menschen mit der Bahn pendeln, begegnen sie einander weniger anonym. Sah man seine/n Nachbar/i/n in Zeiten des Autos gerade mal beim Wegfahren oder Heimkommen, sitzen sie nunmehr im selben Zug. Waren früher viele der Bahnarbeiter gezwungen, in einer anderen Region zu arbeiten, was hieß weniger Familie, weniger Beziehung, kommen sie heute täglich nach Hause.

Und Gänserndorf — Groß Schweinbarth ist nicht die einzige Regionalstrecke im Lande.

Wenig Kursänderung

Ergebnisse und Überlegungen, deren Rationalität kaum angezweifelt werden kann. Doch die österreichische Verkehrspolitik folgt anderen Wegen: seit Jahrzehnten denen des europäischen Aufbruchs.

Und damit der — wie’s Knoflacher gerne nennt — Lückenschlußphilosophie. So schließen wir die Lücken zwischen Ost und West, Nord und Süd und überhaupt allem, wozwischen wir sind. Was mit dem Brenner begann, findet aktuell seine konsequente Fortsetzung, so, als sei die ganzen drei Jahrzehnte gar nichts passiert: Rechtzeitig zum großen Run gen Osten bauen wir fürs schnellere Fortkommen die schnellere Straße.

Gesteht man dem Technokraten Rudolf Streicher zu, Einsicht zu haben in die Notwendigkeit, was ändern zu müssen, muß man ihm die Möglichkeit absprechen, wirklich was unternehmen zu können. Der Sachzwang zwängt, und neben der totalen Einbindung in ein europäisches Straßenverkehrssystem verhindert die jahrzehntelange Vernachlässigung der ÖBB die sofortige Alternative Bahn.

„Seit Jahren heißt es, wir müssen europäisch sein“, meint denn auch der ÖBB-Unternehmensplaner Peter Steininger, „und man hat Straßen gebaut. Die Eisenbahner hat man verhungern lassen.“ Rund 250 Milliarden habe man, sagt Robert Thaler, Verkehrsexperte an der TU-Wien, im Zeitraum 1964-84 in den Straßenbau gesteckt. Gegenüber 50 Milliarden für die Bahn.

Auto- und Petroindustrie setzten ihr, der Eisenbahn, kräftig zu, Österreich zog, europakonform, mit.

So lange, bis die Bahn nicht mehr schnaufen konnte. Eine aufgeblähte, weitenteils unproduktive und phantasielose ÖBB-Verwaltung, eine Gewerkschaftsführung, die lange Zeit ausschließlich für die Erhaltung ihrer eigenen Macht argumentierte, unmotivierte Mitarbeiter/innen sowie eine kaum existente Logistik und eine lückenhafte Infrastruktur ließen die ÖBB schließlich zu dem degenerieren, womit sie sich heute herumzuschlagen hat: zum Objekt parteipolitischer Interessen.

ÖBB-Diskussion: Zyklischer Aufschrei der ÖVP
Bild: Karl Lind

Partei und Bahn

Konnte die ÖVP mit der Bahn traditionellerweise wenig anfangen — jede Investition dort schafft sozialistische Wähler/innen —, zeigte sich die SPÖ nicht minder ratlos, als es darum ging, die Mär von der Bahn als notorischer Defizitträgerin zu entkräften.

Die Idee, der Straße ihre tatsächlichen Kosten anzurechnen und damit in die inhaltslose Diskussion um Bahndefizit, Pensionen, Personalabbau usw. seriöse volkswirtschaftliche Argumente einzubringen, kam den Sozialdemokraten selbst dann noch nicht, als anderswo bereits konkrete Berechnungen von ökologischen und sozialen Folgekosten des Straßenverkehrs vorlagen.

Dafür folgte man — wieder einmal — dem westeuropäischen Trend: Aufmüpfige Menschen und ein immer schwieriger zu finanzierender Straßenbau bewegten manche Wirtschaftbranchen zur Ausschau nach neuen Ufern.

Als alle daran gingen, an neuen Bahnkonzepten für ihre dahinröchelnden Staatsbahnen zu werken, mochten heimische Verantwortliche nicht nachstehen. Dem Vorbilde gleich, begann man auch hierzulande an eine „Neue Bahn“ zu denken, soll heißen: an einen Ausbau zum Hochgeschwindigkeitsnetz.

So präsentierte im Jahre 1986 denn Arthur D. Little seine „Konzeption und Erarbeitung der Planungsvorgaben für das Hochleistungsstreckennetz Österreichs“. Dieselbe Gruppe hatte das Modell für die Schweizer „Bahn 2000“ geliefert.

Spezifisch österreichischen Eigenheiten ist es seitdem zu verdanken, daß Littles Konzept nicht ganz verwirklicht werden wird.

Arbeiterkammer und ÖBB-Gewerkschaft vermochten dem Vorschlag nicht allzuviel abzugewinnen. Der neu installierte Bahnchef Heinrich Übleis zeigte sich „Alternativen gegenüber durchaus aufgeschlossen“, so der ÖBBler Hans Litschauer. Übleis halfen seine relative Unbekümmertheit — „Warum muß man das so machen, erklären Sie mir das mal, ich verstehe das nicht?“ — und einiges Verhandlungsgeschick. Schließlich sensibilisierte das Transitproblem Öffentlichkeit wie Politiker darauf, die Bahn auch noch zu etwas anderem verwenden zu können denn als Mittel, möglichst schnell anderswohin zu gelangen.

Die Bahn läßt sich wieder verkaufen.

Momentan ringt man nun um Kompromisse. Fordern die einen den schnellen Ausbau zum Hochgeschwindigkeitsnetz, mit allen seinen Großbauprojekten, setzen die anderen auf die Verbesserungen von Regionalstrecken sowie die Erarbeitung eines Integrierten Taktfahrplans — IT91 — bis zum Jahre 1991.

Schaffe die ÖBB den IT91 nicht, meint Thaler, sei keine wirkliche Verbesserung möglich. Und er kritisiert den überhasteten Bau der Großprojekte: „Wenn der IT91 steht, dann kann man immer noch sagen: so, und die Projekte brauchen wir wirklich. Die Logistik bleibt aber das Wichtigste.“

Mitte November wurde eines der umstrittensten Vorhaben mal wieder aufgeschoben: der Bau des Semmering-Tunnels. Andere werden folgen, es wird zunehmend schwerer, Riesenprojekte gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen. Auch dies bringt die Bahn in Not, fürchten doch die Hochgeschwindigkeitsnetzgegner/innen um das Budget zur „Neuen Bahn“ und um nötige Maßnahmen, überhaupt einen IT hinzukriegen.

Denn einigt sich die Koalition nicht auf einen gemeinsamen Nenner, dann passiert gar nix. Und gemeinsamer Nenner heißt in diesem Fall: einige Regionalstrecken attraktivieren, einen — löchrigen — IT91 und einige Bauprojekte. Österreichisch eben, aber immerhin.

Österreichisch auch das Zwei-Ministerium-Unikum, eines zuständig für das Straßennetz, das andere für die Bahn. Das eine ist rot, das andere schwarz. Während somit Rudolf Streicher rührende Plädoyers für die Schiene hält, setzt sein Ministerkollege Wolfgang Schüssel zum Spatenstich für die Ostautobahn an.

Der Wahnwitz hat Methode.

Robert Thaler beschreibt sie: „Das Bautenministerium war immer schwarz, das Verkehrsministerium immer rot. Bei den letzten Regierungsverhandlungen war es schon fast fix, daß die Bautensektion raus- und ins Verkehrsministerium kommt. Da hat die VP aber eingesprochen, denn bei den Personalvertretungswahlen hätten sich dann die wenigen schwarzen Bundesstraßenbeamten im großen roten Verkehrsministerium verloren.“

Das ist österreichische Verkehrspolitik, so sieht sie aus.

Hinter dem parteipolitischen Alltagshickhack stehen allerdings auch massive Wirtschaftsinteressen. Weiß die Planerzunft und die — aufgeschlossene — Bauwirtschaft mittlerweile, wo’s langgehen muß, zeigt sich die Fahrzeug- und Petroindustrie beharrlich. Bahnstrecken sind nicht nur zur Planung, sondern auch zum Bau geeignet. Daß es auch neue Fahrzeuge braucht, interessiert nicht allzusehr, noch werden genug Autos verkauft. Und Erdöl gibt’s auch noch ausreichend.

Hält die bundesdeutsche Autoindustrie — mit einem rund 10%igen Anteil am BIP — Politiker und Gewerkschaften an der Leine, treibt es hierzulande die Zulieferindustrie recht bunt. Vor allem BMW und GM nutzen ihre Möglichkeiten. Im Verbunde mit der mächtigen Bauwirtschaft, die, stets auf der Lauer, nach unbetonierten Plätzen sucht. „Wir haben hier einen überproportionalen Einfluß der Bauwirtschaft“, sagte Thaler, „große Unternehmen, die wiederum den Großbanken gehören. So die CA und Universale, oder die Länderbank mit der STUAG. Die Banken stellen die nötigen Kredite zur Verfügung.“

Und die Bevölkerung zahlt. Es sei, sagt Thaler, somit der Einfluß der heimischen Bauwirtschaft, überspitzt formuliert, mit dem der Autoindustrie in der BRD vergleichbar.

Zwischen ökonomischen Interessen sowie Widerstand seitens der Bevölkerung und alternativ denkenden Verkehrsplanern und ein paar Politiker/innen wird sich der ÖBB Schicksal entscheiden.

Aus einer „historisch“ gewachsenen strukturellen Benachteiligung heraus bleibt ihr wenig Spielraum zum selbständigen Handeln. Das Konzept der „Neuen Bahn“ bzw. was als solches bezeichnet wird, ist Ausdruck der notorischen Defensivhaltung.

Nicht Ergebnis eines Gesamtverkehrskonzeptes, keiner Überlegung folgend, nach der die Projekte einer übergeordneten Logistik nach zu bauen wären, ist es die Summe von Versäumnissen, Interventionen, Verbesserungen, Zufälligkeiten usw.

Und der blinden Orientierung an den verkehrspolitischen Wünschen der EG. Mit den Bestrebungen zur Vollintegration wird es auch weiter so bleiben, wie’s schon immer war. Öffentliche Politikerbekenntnisse zur Schiene als Kosmetik und Beruhigung, mit keinen oder nur wenigen realpolitischen Konsequenzen. Der Personalabbau bei der ÖBB wird weitergehen, die ÖVP zyklisch aufschreien, wenn die privilegierten Bahnarbeiter immer noch so früh in Pension gehen dürfen, wenn der Zuschußbedarf der Schiene wieder einmal viel zu wenig gesenkt wurde. Da stört’s auch nicht wirklich, daß der Zuschußbedarf der Straße weit höher liegt.

Dabei, meint Thaler, hätte Österreich durchaus die Möglichkeit, anders zu handeln. „Wir könnten ja gegensteuern, schließlich sind wir ein Transitland, das haben wir als Faustpfand. Die Reaktionen auf so eine marginale Maßnahme wie das Nachtfahrverbot haben ja gezeigt, was passiert. Gemeinsam mit der Schweiz wäre viel zu machen, denn schließlich müssen die ja durch.“

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