Streifzüge, Heft 61
Juni
2014

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Ich habe … Ich bin. Eine Enthüllung

Ich habe. – Ich beginne meinen Text mit „Ich habe.“ Was habe ich? Habe ich was? Was heißt das: „Ich habe“? Es sollte ein ganzer Satz werden. Dann war ich abgelenkt, und als ich wieder aufs Papier blickte, stand da „Ich habe“. Der Rest hat sich in Nichts aufgelöst. Eigentlich will ich schreiben, was mich seit langer Zeit beschäftigt bezüglich Thema Geld. Ich hab mir vorgenommen, „Geld“ für mich zu durchleuchten, zu entzaubern, zu verstehen, mich aus der Sklaverei zu befreien, aus der selbst gemachten. Aber all die Infos, die ich mir bisher zu diesem Thema schon geholt habe, waren und sind unbefriedigend. Erst im 54er Streifzug finde ich „meine“ Ansätze, die ich bisher nicht in Worte fassen konnte. Intuitiv bin ich schon in diese Richtung unterwegs. Darüber zu lesen, macht mich froh und aufgeregt. Ich werde ungeduldig, will was tun. Möchte Menschen finden, die das mit mir träumen, planen, tun und feiern. Nicht die Lösung zu finden, ist mein Anspruch, jedoch einen Weg, was zu erarbeiten, zu beweisen, dass es möglich ist, ein komplexes Leben unter Einbeziehung aller Facetten, ja aller Völker ohne Geld zu führen, zu erleben.

Es fällt mir total schwer, Worte zu finden, die nicht abgedroschen sind und das aussagen, was ich meine. Es ist ja auch in mir noch ziemlich unklar, wie es gehen könnte. Wobei ich einfach weiß, dass es möglich ist. Irgendwann war der Gedanke da, dass ich eigentlich gar kein Geld bräuchte, wenn nicht andere es von mir wollten. Deshalb finde ich auch den Ansatz von Heidemarie Schwermer etwas hatschert. Auch wenn sie selbst ohne Geld lebt, partizipiert sie bei denen, die Geld haben in einer Lohnarbeit stehen oder auf irgendeine andere Weise Geld erwerben. Es ist nun mal so, dass einzelnen ein Leben ohne Geld nicht möglich ist, lässt man das System so, wie es ist.

Lange Zeit dachte ich, Tausch wäre das Optimale. Wir tauschen einfach unsere Fähigkeiten und Gegenstände. So entsteht kein Mangel. Bei diesem Gedanken merkte ich, dass sich irgendwas nicht ausgeht. Ich konnte es nicht greifen, Aber die Konstruktion ging irgendwo ins Leere. Bis zu einem bestimmten Punkt konnte ich mir diese heile Tauschwelt schön und stimmig ausmalen. Dann plötzlich stand ich an. Meine Gedanken sind abgedriftet in andere innere Welten. Mittlerweile ist mir die Gedankenhürde, der Stolperstein, der Hemmschuh, die Unterbrechung greifbar geworden: Wir erwarten für alles eine Gegenleistung! Auch und gerade beim Tausch: „Wenn du mir die Lampe reparierst, passe ich eine Stunde auf dein Kind auf.“ Wir dürfen und wollen gar nichts nehmen, ohne eine Gegenleistung bieten zu können. Und fühlen uns ausgenützt, wenn wir was geben (sei es ein materielles Ding oder ein immaterielles Gut) und keine Gegenleistung erhalten. Mit dieser Haltung ist auch der geldlose Tausch eine Währung. Wenn mir mein Nachbar die Wohnung ausmalt, was „gebührt“ ihm dann? Was ist mir das Ausmalen „wert“? Was oder wie viel erwartet er dafür? Gleich ist mensch versucht eine Werte-Regelung zu finden: 1 x Ausmalen = 10 x Haare schneiden oder so…

Das fühlte sich ganz und gar nicht stimmig an. Somit fiel Tausch als Lösungsvariante zu Geld aus. Zwischendurch merkte ich, wie ein so ein kleines Gedänkelchen immer wieder leise um Gehör bat. Lange Zeit hörte ich nicht hin. So wuchs sich das Kleine schließlich aus und forderte Gehör: Alle bringen ihre Fähigkeiten ein, und so kann auch schon eine noch überschaubare Gruppe von Menschen in der Fülle leben, ohne auch nur eine Münze oder einen Schein in die Hand zu nehmen. Und so haben sich nach der „Tauschgedanken-Ära“ Bilder bei mir eingenistet: Ich sehe Menschen, die sich zusammentun, um sich ein gemeinschaftliches Feld und Umfeld zu schaffen. Das geht übers Gärtnern zum Haus-Bauen, zum Möbel-Tischlern, Zimmern, Hämmern, Streichen, weiter Gärtnern, immer wieder Kochen, Stricken, Putzen, Waschen, Reparieren usw. Für keine dieser Tätigkeiten braucht es Geld. Es braucht lediglich Menschen, die die unterschiedlichsten Fähigkeiten mitbringen (darunter viele, die schlicht nicht käuflich und verkäuflich sind), und die einander das Benötigte im richtigen Moment zukommen lassen. Das kann wirklich gelingen.

Also: Ich bräuchte kein Geld. Und doch fand ich diesen Gedanken erstaunlich. Und so recht glaubte ich mir selbst nicht. Bin ich doch auch ein Kind des Kapitalismus. Natürlich funktioniere ich im Alltag wunderbar in dem gewohnten System. Der rebellische Gedanke ist aber wie ein Samenkorn in meinem Hirn, das aufgeht und heranwächst und sich durch nichts vertreiben lässt.

Und doch: da ist ein Quergedanke, der sich immer wieder meldet: Mit welchen Fähigkeiten bringe ich mich ein in einer vom Geld freien Gemeinschaft? Dieses Geld klebt an mir wie mit Kontaktkleber aufgepickt. Ich werde es nicht los. Es streckt seine vielen Arme krakenhaft aus in nahezu alle Bereiche meines Lebens. Meine erlernte Fähigkeit ist nun einmal, mit Geld umgehen zu können. Ich bin Buchhalterin.

Eva Maria Haas

Kinogang mit Folgen

Katastrophen interessieren mich nicht. Ihre unentwegten Spülgänge durch die mediale Kanalisation haben irgendwann meinen Sinn für das Großartige und Schreckliche daran zugeschlämmt. Dieses Allerlei an täglichem Unglück, wie es uns flutet und wie wir es gleich wieder runterlassen müssen, hat mich nie ergriffen. Wahrscheinlich hat das auch mit der eigenartigen Unverhältnismäßigkeit der Form zu ihrem Inhalt zu tun: Im Radio verliest der Sprecher die unvorstellbarsten Widerwärtigkeiten im selben sachlichen Tonfall, in welchem er uns gleich darauf mit den Wetteraussichten bekanntmacht. Er moderiert mir allweil das Unfassbare zu einer lauen, unbedenklichen Brühe portionierten Elends herunter. Das ist doch völlig reizlos! Nie steht irgendetwas ernstlich in Gefahr, nie ist die Lage aussichtslos. „Fürchte dich nicht, wir kriegen das schon wieder hin“ – das ist die unverhohlene Frohbotschaft, die unterschwellig mitströmt, und froh wird tatsächlich, dessen unbeirrbarer Glaube an die gewaltigen Reparaturkünste irgendwelcher Expertenstäbe immer noch nicht angekränkelt ist.

Vor zwei, drei Jahren hat sich aber dann doch unerwartet diese sehr eigene Ergriffenheit eingestellt, die einem nur selten und meist in ungeschminkt totalitären Umständen begegnet, vielleicht in meiner Kindheit zuletzt oder in einem Traum. Diesmal im Kino: Ich schaue Lars von Triers Melancholia. Hier wird gar nichts wieder gut. Das steht gleich zu Beginn fest und erleichtert ungemein: Zur Tristan-Ouvertüre geht in endlos langen slow-motion-Sequenzen und in atemberaubender Schönheit die Welt gleich vorweg unter, dergestalt, dass sie vom Titel gebenden Exoplaneten Melancholia einverleibt wird; zärtlich und liebevoll – ein kosmischer Kuss, Vereinigung, Untergang – nie zuvor ging mir diese Musik unter die Haut. Sie ist mehr als suggestive Untermalung, denn überhaupt gibt sich der Plot selbst als Tristan-Adaption zu erkennen, was aber eine eigene und wenn möglich: die eigene Erkundung der reichhaltigen und eigenwilligen symbolischen Ausstattung des Films keineswegs ersetzen mag.

Was mich jedoch eigentlich so erschüttert hat, war die Präzision der Entlarvung der alten formidablen Lüge, der Lüge schlechthin: dass alles gut wird und vor allem: dass es immer einen Weg dorthin gibt. So verkommen etwa die Machtgeplänkel der Hochzeitsgesellschaft vor dem Hintergrund der totalen Auslöschung immer mehr zur Farce, zum Jahrmarkt der Eitelkeiten; Claire, die rationale und realistische Schwester der Protagonistin Justine, verzweifelt an der letztendlichen Nichtigkeit ihrer, unserer lächerlichen Mittel-Zweck-Kalkulationen; jegliche Anstrengung, die im Hinblick auf eine Lösung unternommen wird, muss notwendig irregehen. Hingegen scheint Justine, die anfänglich in rätselhafte Depression versunkene Braut, immer gelassener, gelöster, präsenter und wacher zu werden, je näher Melancholia der Erde kommt.

Was sich im Film so plastisch darstellt, steht jedem von uns noch ganz unspektakulär bevor – alles zerfällt irgendwann. Die Frage die mich nicht mehr loslässt: Wie kann ich mit dieser Gewissheit umgehen? Wie kann ich, das Ende vor Augen, tief ins Leben einwurzeln (wollen)? Leben, als wär dieser Tag mein letzter – oder einer von unendlich vielen? Die erleichternde Ratlosigkeit, mit der man am Ende (des Films) entlassen wird, gibt vielleicht einen Hinweis auf eine uneinbringlich bleibende Antwort: Der Augenblick ist alles, was wir haben, darin ist nichts, das einer Verbesserung bedürfte. Jedenfalls lebt es sich bedeutend leichter, hat man erst einmal die Apokalypse hinter sich. Selbst Adorno konnte im Tristan noch Tröstliches entdecken: „Indem es die Angst des hilflosen Menschen ausspricht, könnte es den Hilflosen, wie immer schwach und verstellt, Hilfe bedeuten, und aufs neue versprechen, was der uralte Einspruch der Musik versprach: Ohne Angst leben.“

Severin Heilmann

Der kontemporäre Zustand der Welt

Liebes,

ich war gerade vier, als die verspiegelten Parabole in den Erdumkreis gebracht wurden. Jetzt, vierzig Jahre später, weiß ich mit Gewissheit, dass die Sonne in meiner Lebenszeit nicht mehr direkt auf die Erde strahlen dürfen wird.

Ich bin einer von genau 4.004.423 Menschen, die momentan auf der Erde leben. In diesem eigenartigen Jahrhundert gibt es genaue Kenntnis darüber wie viele Menschen leben und wie viele sterben, um daraus zu schließen, wie viele geboren werden dürfen, ohne die verbliebene Lebensfläche zu überfordern. Falls es dich jemals geben sollte und du diesen Brief jetzt gerade lesen solltest, dann nur, weil irgendeine unvorhersehbare Katastrophe etwa vierundzwanzigtausend Menschen in den Tod gerissen hat und deine Mutter und ich dadurch weit genug auf der Geburtenwarteliste vorgerückt wären, um in unserer gebärfähigen Zeit ein Kind bekommen zu dürfen.

Oder der Meeresspiegel sank und gab Land frei, doch das ist eher nicht anzunehmen. Wieso auch? Tatsächlich steigt der Meeresspiegel noch immer an. Die Versuche, das Eis in den Weltraum zu verfrachten, sind gescheitert, auch alle anderen Bemühungen, die Erdtemperatur zu senken, sind missglückt oder ihre Effekte blieben weit unter den Erwartungen. Selbst der gewagte und unermesslich aufwendige Versuch, die Sonne mittels gigantischer halbdurchlässiger Spiegel, die in der Erdumlaufbahn wie eckige Monde mitkreisen, zu entkräften, brachte nur wenig. Die Kontinente versinken unaufhörlich im Meer.

Ich habe übrigens schon Teile der versunkenen Welt, der Städte unter dem leer gefischten Meer, mit eigenen Augen gesehen, es erinnerte mich an das Märchen von Dornröschen. Ich werde eine Kopie dieses Märchens an den Brief heften, eigentlich solltest du jetzt, wenn du diesen Brief umdrehst, sie dort vorfinden. Diese Städte, die wir mit U-Booten befahren, um dort Brauchbares zu sammeln, wirkten auf mich, als ob sie, durch die Katastrophen der Geschichte in ewigen Schlaf versetzt, nun ihrer Erweckung durch einen hoffnungsfrohen Kuss harrten.

Über die jüngere Vergangenheit kann und will ich Dir nicht viel erzählen, einiges müsstest Du aber durch Geschichtsbücher schon erfahren haben. Die letzten großen Kriege, welche jene vom Wasser zurückgedrängten, in immer kleineren Lebensräumen sich gegenseitig bekämpfenden und, als Nahrung knapp wurde, gar auffressenden Menschen (insofern dieser Begriff da noch zutraf) solange ausfochten, bis die wenigen Überlebenden, die dann immer noch zu viele waren, sich auf eine weltumspannende Geburtenkontrolle einigten und diesen Vollzug von Computer gesteuerten, nach demokratisch gewählten Vorgaben programmierten Drohnen durchführen ließen, waren wohl das grässlichste was dem Menschengeschlecht je widerfahren sollte. Insofern Du, und das wäre mein größter Wunsch, dich solchen Schrecken, wie dem Eingriff einer solchen Drohne in das Glück einer jungen Familie, die ohne Erlaubnis ein Kind in die Welt setzte, bisher entziehen konntest, so möchte ich dir Details solcher Art gerne ersparen, muss aber befürchten, dass du viel irrsinnigere Erlebnisse über dich ergehen lassen, oder wenigstens beobachten musstest; denn sofern heutigen Schätzungen geglaubt werden kann, müsste die Bewohnerzahl der schrumpfenden Kontinente mittlerweile zumindest um ein Zehntel verkleinert worden sein, um die Menschheit vor weiteren territorialen Konflikten und Hunger zu bewahren.

Nun mein Kind, ich wünsche Dir jedenfalls das Allerbeste und verbleibe hoffnungsvoll,

Dein Vater Sigismund

Lukas Hengl
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