Grundrisse, Nummer 42
Mai
2012

Ideologie als Subjekt ohne Prozess

Kritische Anmerkungen zu Althussers „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ & „Über die Reproduktion“ anlässlich deren Neu- bzw. Erstauflage

Dem Herausgeber Frieder Otto Wolf ist es zu verdanken, dass die Werke eines der einflussreichsten Marxisten des späten 20. Jahrhunderts, Louis Althusser, in deutscher Sprache (wieder) aufgelegt werden. Und nachdem 2011 eine neue Edition des wohl bekanntesten und einflussreichsten Textes von Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, oft – und auch hier – präsentiert wurde, ist seit kurzem auch der „zweite Halbband“ des Textes mit dem Titel „Über die Reproduktion“ erstmals auf Deutsch erhältlich. Damit liegt über 40 Jahre nach der Abfassung nun endlich jener – deutlich umfangreichere – „Urtext“ den deutschsprachigen LeserInnen vor, aus dem Althusser schließlich – mit geringfügigen Änderungen – die Teile für den berühmten „ISA-Aufsatz“ entnommen hat. Der akribischen Editionsarbeit von Frieder Otto Wolf ist es zu verdanken, dass der Entstehungsprozess der Althusserschen Ideologietheorie nun in all seinen Phasen nachverfolgt und analysiert werden kann. Dies erscheint mir aus zwei Gründen wichtig: Zum einen aufgrund der Wirkmächtigkeit des ISA-Aufsatzes, der sowohl Generationen von MarxistInnen geprägt als auch ganze Theorieströmungen wie z.B. die Cultural Studies nachhaltig beeinflusst hat, als auch zweitens aufgrund der nach wie vor virulenten Frage, die Althusser dereinst zur Abfassung des Manuskripts bewogen haben dürfte – und die spätestens seit de La Boéties im 16. Jahrhundert verfasster Abhandlung „Über die freiwillige Knechtschaft“ all jene umtreibt, die an einer Befreiung der Menschen aus Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen interessiert sind: Was sind die Mechanismen und Praktiken, die die Ausgebeuteten und Unterdrückten am gemeinsamen Kampf um ihre Befreiung hindern?

„Über die Reproduktion“ (von mir im Folgenden als „Urtext“ bezeichnet) wurde unmittelbar nach den Ereignissen von 1968 verfasst und muss auch als Auseinandersetzung Althussers mit dem Pariser Mai gelesen werden. Als Mitglied der französischen KP, die die Revolte ja verurteilt hatte und der Vereinigung zwischen kämpfenden StudentInnen und dem Proletariat nach Kräften entgegenwirkte, sah sich Althusser wohl oder übel einem Dilemma gegenüber: Einerseits galt es, der reaktionären Parteilinie eine realistischere Position entgegenzusetzen, andererseits durften die grundsätzlichen Kategorien der Partei, wie etwa diejenige des „kleinbürgerlichen“ Charakters der StudentInnen, nicht in Frage gestellt werden. Und so zeichnet der Urtext, noch stärker als der spätere ISA-Aufsatz, ein durchaus orthodox marxistisch-leninistisches Bild des Althusserschen Zugangs zur Ideologie-Problematik: Sowohl der Vorrangstellung der Avantgarde-Partei wie auch der Darstellung einer streng leninistischen Denkweise revolutionärer Machtergreifung wird relativ viel Raum eingeräumt. Spannender sind aus heutiger Sicht einige Kapitel, die im ISA-Aufsatz als Ganzes weggelassen wurden, wie jene beiden zu den konkreten Ideologischen Staatsapparaten Recht bzw. Interessensverbände sowie eines über „Reproduktion der Produktionsverhältnisse und Revolution“ und der anschließende Aufsatz über Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte.

Recht als Ideologie

Zunächst kurz zum Kapitel über den ISA des Rechts. Althusser beschreibt dessen Systemizität und Formalität, d.h. die Abstraktion der Rechtsprinzipien von den gesellschaftlichen, ökonomischen und in letzter Instanz Eigentumsverhältnissen, von denen diese dennoch abhängig sind. Hier kritisiert er mit Bezug auf Ausführungen von Marx jene Theorien eines „sozialistischen Rechts“, die selbst davon abstrahieren, dass Rechtsverhältnisse notwendiger Weise mit bürgerlichen Eigentumsverhältnissen einhergehen, und schließt daraus, dass ein Übergang zu kommunistischen Verhältnissen dementsprechend nicht auf die positiven Werte eines „sozialistischen Rechts“ rekurrieren kann, sondern vielmehr analog zum „Absterben des Staates“ auch die Institution des Rechts verschwinden muss. Des Weiteren zeigt Althusser die Verbindung von Recht und Repression, d.h., dass ersteres ohne letztere schlicht nicht existieren kann, sowie die notwendige Ergänzung des rechtlichen durch einen moralischen Diskurs. „Das RECHT ist ein formales, systematisiertes System, das nicht-widersprüchlich und (tendenziell) vollständig ist, das nicht für sich alleine existieren kann.“ (110, Großschreibung und Hervorhebung i. O.)

Es muss sich einerseits auf einen Teil des repressiven Staatsapparats stützen und andererseits bedarf es einer „kleine[n] Ergänzung durch die moralische Ideologie.“ (Ebd., Herv. i. O.) Erst ein derartiges Verständnis des ISA des Rechts bzw. seiner beiden „Realitäten“ Staat und Ideologie lässt uns übergehen zu einer Theorie der Ideologischen Staatsapparate. Warum Althusser dem Recht eine derart zentrale Bedeutung zuspricht, wird in einem weiteren dem Recht gewidmeten Kapitel klar: Weil es „als spezifischer Apparat“ – und hier spricht Althusser wieder eine orthodox-leninistische Sprache – „den Überbau in die Basis hinein und innerhalb der Basis artikuliert.“ (240, Herv. i. O.) Während der schulische ISA unter kapitalistischen Verhältnissen der zentrale Staatsapparat ist (den unter feudalen Verhältnissen führenden kirchlichen ISA beerbend), so ist es die juristisch-moralische Ideologie (unter Hegemonie der juristischen), welche im Kapitalismus die dominante Rolle spielt (vgl. 241). Dies sind meines Erachtens wichtige Erkenntnisse, und umso bedauernswerter ist es, dass Althusser nach der Skizze seiner allgemeinen Ideologietheorie diese nicht hinsichtlich der soeben genannten hegemonialen Aspekte exemplifiziert, sondern anhand der christlichen religiösen Anrufung. Auf die damit verbundenen Probleme werde ich weiter unten zurückkommen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass im Gegensatz zum ISA-Text beim Urtext eine klarere Verortung im (partei)marxistischen Rahmen sichtbar wird. Zwar trübt der vorläufige, entwurfsartige Charakter vieler Textstellen die Stringenz der Argumentation, im Gegensatz zum stark verdichteten ISA-Aufsatz lässt der Urtext jedoch genauere Schlussfolgerungen hinsichtlich der theoretischen Annäherung Althussers an das Phänomen Ideologie zu. Dennoch finden sich hinsichtlich des eigentlichen Anspruchs Althussers, eine Theorie der Ideologie im Allgemeinen zu entwerfen, keine substanziellen Änderungen bzw. Neuigkeiten, sodass sich letztlich die Ausgestaltung der Althusserschen Ideologietheorie angesichts des nun vorliegenden Urtextes nur gering von jener des ISA-Aufsatzes unterscheidet. Die Publikation des Urtextes ermöglicht jedoch differenziertere und somit schärfere Nachweise im Rahmen des Begründungszusammenhanges einer Kritik an der Theorie Althussers selbst.

Gibt es eine Ideologie im Allgemeinen?

Ich möchte zunächst eine stark komprimierte Zusammenfassung der Ideologietheorie Althussers geben, die schwerpunktmäßig der Analyse Isolde Charims folgt, die in ihrer bahnbrechenden Studie (Charim 2002) die Kernbestandteile der Theorie in den knappen Passagen über die Anrufung der Subjekte durch die Ideologie verortet. Charim legt den Schwerpunkt auf den stark verdichteten letzten Teil des ISA-Aufsatzes, in dem Althusser seine Theorie der Anrufung entwickelt. Dem ist insofern zuzustimmen, als Althusser in diesen Passagen am weitesten über die bis dahin bekannten marxistischen Theorien von Ideologie (als falsches Bewusstsein) hinausgeht. Trotzdem muss nach Lektüre des Urtextes die orthodox marxistisch-leninistische Selbstverortung Althussers stärker als noch in Charims Analyse berücksichtigt werden, gerade angesichts der interessensverbandlichen und juridischen „Illustrationen“, mit denen er im Urtext seine Analysen anreichert.

Im Zentrum der Theorie der Ideologie findet sich die Figur der Anrufung. Entgegen der weit verbreiteten Sichtweise von Ideologie als bewusster Täuschung der Subalternen durch die herrschenden Klassen verschiebt Althusser die Erklärung der Funktionsweise von Ideologie gleichsam auf eine tiefere Ebene. Das Subjekt, und um dieses geht es ihm im Wesentlichen, ist nicht vorgängig bereits existent und wird dann ideologisch getäuscht oder verblendet, sondern die Ideologie bringt als einen Effekt ihrer Macht das Subjekt überhaupt erst hervor. Den Akt dieser Hervorbringung nennt Althusser „Interpellation“, zu Deutsch Anrufung. „Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an“, so lauten die Kurzfassung und die Überschrift des wohl wichtigsten Unterkapitels (265).

Die alltagspraktischen Verweise auf die Anrufung konkreter Subjekte durch PolizistInnen – das berühmte „He Sie!“ –, worauf sich der bzw. die derart Angerufene umdreht und somit die Anrufung annimmt, sind bereits als sekundäre Akte ideologischer Anrufung zu begreifen. Um als ideologisch anrufbares Subjekt zu funktionieren, muss mensch „schon immer“ auch eines sein. Dabei funktionieren die jeweiligen Ideologischen Staatsapparate unterschiedlich, je nachdem welche konkrete Form von Subjektivität sie hervorbringen. Der schulische ISA, von Althusser zu Recht als maßgeblicher Apparat der kapitalistischen Produktionsweise angesehen, erzeugt andere materielle Praktiken und somit andere Ideologien als zum Beispiel der politische oder interessensverbandliche ISA. Eines ist ihnen jedoch gemein, und zwar die Verankerung der Ideologie in den materiellen Praktiken der Menschen. Althusser geht sogar noch weiter und spricht der Ideologie selber eine materielle Existenz zu (259f). Er zeigt dies illustrativ anhand der Paraphrasierung eines Pascalschen Ausspruchs: „Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben.“ (262) Ideologie beschränkt sich also nicht auf ein „Bewusstsein“ – ein Begriff, dem Althusser kritisch bis ablehnend gegenüberstand –, sie ist vielmehr tief in die Körper eingelassen. In diesen materiellen Praxen leben die Menschen ein „imaginäres Verhältnis zu ihren realen Existenzbedingungen“, so die Definition der Wirkungsweise von Ideologie.

Im Prozess des Überganges von den Ideologischen Staatsapparaten zur Ideologie „an sich“ geht jedoch leider deren Verbindung untereinander verloren. Es sind eben nicht die Staatsapparate, die die Subjekte anrufen, sondern die Ideologie. Welche Funktion genau die ISA im Prozess der Anrufung haben, bleibt ungeklärt. Die Ideologie verwandelt sich so unter der Hand selbst in eine Art metaphysisches Subjekt, was insofern bemerkenswert ist, da ja ein Großteil der vorhergehenden Kapitel sich eben genau mit jenen staatlichen Apparaten auseinandergesetzt hat. So bleibt ungeklärt, welche Funktion die ISA im Rahmen von Anrufungen eigentlich erfüllen; sind sie Medien, Instrumente, Rahmenbedingungen, selbst Subjekte? Wir erfahren es nicht. Was wir erfahren, ist eine Erklärung jener unsichtbaren Macht, die die Subjekte „ganz von selbst“ funktionieren lässt, und zwar nicht zufällig genau in jener Form, in der sie durch ihren „freien Willen“ die Reproduktion spezifischer Produktionsverhältnisse [1] sicherstellen. Was aber, wenn nicht? Können sinnvolle Aussagen darüber getroffen werden, warum bzw. durch welche Verschiebungen in den Praxen der Menschen „Funktionsstörungen“ hervorgerufen werden (können)? Im Rahmen des Althusserschen Ansatzes scheint mir das nicht möglich.

Eine Theorie nicht der konkreten Ideologien, sondern der Ideologie im Allgemeinen wirft also enorme Probleme auf. Diese Probleme stellen sich im Anschluss an den ISA-Aufsatz, werden allerdings auch nach Lektüre des Urtextes nicht entkräftet. Die nun folgenden Kritikpunkte arbeiten sich nicht „nahe am Text“ an den Althusserschen Aufsätzen ab, sondern sind eine Art synthetisierendes Fazit einer längeren intensiven Auseinandersetzung.

Problem 1: Ahistorizität (ewige Ideologie = ewiger Staat = ewiges Subjekt)

Um seine Theorie der Ideologie im Allgemeinen von den jeweils konkreten durch die entsprechenden ISA vermittelten Ideologien abzugrenzen, greift Althusser zu einer aus der Freudschen Psychoanalyse entnommenen Figur: Gleich dem Unbewussten wird DIE Ideologie als omnihistorische, d.h. zeitlose, eingeführt (249). Alle menschlichen Gesellschaften (an einer Stelle schränkt Althusser dies zwar auf Klassengesellschaften ein, um sich gleich darauf allerdings zu korrigieren und die Wirkungsweise von Ideologie auf alle Gesellschaftsformationen auszudehnen) produzieren Ideologie (vgl. ebd.). Dies ist für einen Marxisten eine starke Ansage, zumal ja Althusser selbst die Besonderheit der Marxschen Theorie in deren Entdeckung des „Kontinents Geschichte“ sah. Die Ideologie allerdings, so Althusser, hat nicht nur keine eigene Geschichte („ihre“ Geschichte ist vielmehr die ihrer „reellen Existenzbedingungen“, welche nur qua Wissenschaft erkannt werden kann), auch die Art und Weise ihres Wirkungsprinzips ist jenseits historisch bestimmter Formbestimmungen anzusiedeln.

Dies zeitigt notwendigerweise eine Folge, die konstitutiv mit dem Wirkungsprinzip der ideologischen Anrufung zusammenhängt: Es gibt immer schon Subjekte. „Da die Ideologie ewig (sic!) ist, müssen wir jetzt die Form der Zeitlichkeit aufheben […] und wir müssen sagen: Die Ideologie hat immer schon die Individuen als Subjekte angerufen […] Die Individuen sind immer schon Subjekte.“ (270, Herv. i. O.) Im Rahmen eines autobiografischen Einschubs erzählt Althusser dann sein eigenes immer-schon-Subjekt-Sein im Rahmen zahlreicher Anrufungen (familiarer, religiöser und schließlich marxistischer Art) nach. „So geht das Leben. […] Dieses Individuum muss dann eben damit klarkommen …“ (272f) Wir finden jedenfalls keine Spur einer Theoretisierung jenes Überganges, der aus dem „kleine[n] Kind Louis“ (272) einen wissenschaftlichen Theoretiker der Ideologie werden lässt.

Diese Ahistorizität ist nicht zuletzt deshalb besonders problematisch, da Althusser ja die Wirkungen der ideologischen Anrufungen konstitutiv mit den Funktionen der ISA verbunden sieht. Ohne Staatsapparate keine Anrufung! Sofort drängt sich ein eng damit verbundenes Problem auf: Konsequenterweise müsste die Ewigkeit der Ideologie an eine Ewigkeit des Staates und seiner Apparate gekoppelt sein. Eine derartige Theorie müsste sich jedoch konkret an den ISA indigener Gesellschaften Amerikas, diverser polynesischer Formen der Gemeinschaft, der athenischen Demokratie, diverser germanischer Stämme usw. bewähren. Eine theoretische Darstellung jenes Ideologischen Staatsapparates, der zur materiellen Praxis des Suebenknotens [2] anruft, ja das wär was …

Eine weitere Schwierigkeit hängt eng mit der eben beschriebenen zusammen: Warum „praktizieren“ eigentlich unterschiedliche Menschen unterschiedliche Ideologien? Von wem oder was hängt es ab, ob jemand beispielsweise von der faschistischen oder der marxistisch-leninistischen Ideologie angerufen wird? Inwiefern sind Ideologien gekoppelt an die Struktur gesellschaftlicher Arbeitsteilung und wo beginnt ihre relative Autonomie von dieser? Nun, da im Gegensatz zu den ewigen Prinzipien der ideologischen Anrufung diese Fragen explizit und ausnahmslos nur aus historisch bestimmten Gesellschaftsformationen heraus überhaupt erst gestellt werden können, werden sie von Althusser gleich wieder kassiert: Über die Ideologie im Allgemeinen kann nämlich nur ausgesagt werden, was wie diese selbst keinen historischen Index trägt. Voilà: Die Melange aus psychoanalytischer Ahistorizität und Nominalismus produziert eine autoimmune Theorie. Womit wir auch schon beim nächsten problematischen Aspekt der Althusserschen Ideologietheorie wären:

Problem 2: Die (psychoanalytisch-)christliche Anrufung – Beispiel oder Königsweg?

Das Kapitel, in dem Althusser die konkrete Funktionsweise der ideologischen Anrufung verdeutlicht, lautet „Ein Beispiel: Die christliche religiöse Ideologie“ (273f). Althusser stellt zu Beginn dieses Kapitels „klar, dass sich der gleiche Beweisgang mit größter Leichtigkeit (sic!) auch für die moralische, die juristische, die politische, die ästhetische Ideologie wiederholen ließe.“ (Ebd.) [3] Dass dem nicht so ist, soll im Folgenden gezeigt werden.

Auf theoretischer Ebene trägt Althusser entgegen seiner „Beispiel-Hypothese“ der Besonderheit der christlich-religiösen Anrufung Rechnung, wenn er schreibt, dass „dieses Verfahren, durch das die christlichen religiösen Subjekte in Szene gesetzt werden, von einem ganz befremdlichen Phänomen beherrscht wird: Nämlich dass die Existenz einer solchen Vielzahl religiöser Subjekte nur unter der absoluten Voraussetzung möglich ist, dass es ein ANDERES SUBJEKT gibt: ein EINZIGES, ABSOLUTES, nämlich Gott.“ (275, alle Herv. i. O.) Konkret meint Althusser die Anrufung Moses’ durch Gott am Berg Sinai, bekannt auch als „Brennender Dornbusch“. „Gott ist also das SUBJEKT, während Moses und die unzähligen Subjekte des Volkes Gottes seine von ihm angerufenen Gesprächsteilnehmer sind: seine Spiegel, seine Abbilder.“ (276) Es folgen weitere Ausführungen zu Sündenfall und Erlösung, zu Gottes Sohn auf Erden (vulgo Jesus) und dessen Wiederauferstehung. Zentral ist dabei die Verdoppelung des Subjekts – analog zur Lacanschen Variante der Psychoanalyse: Althusser verweist dahingehend sowohl auf die Spiegelmetaphorik Lacans als auch auf dessen Unterscheidung des „kleinen“ vom „großen Anderen“, wobei letzterer verkürzt als die symbolische Ordnung des Sprachlichen, ersterer auch als „Objekt klein a“, als – unerreichbares – imaginäres Objekt des Begehrens bekannt ist. Mit Althusser gegen Althusser könnte also – im Gegensatz zur Geschichte, die er als „Prozess ohne Subjekt“ bezeichnet – von der Ideologie umgekehrt als einem „Subjekt ohne Prozess“ gesprochen werden.

Inwiefern die Verknüpfung von christlichem und Lacanschen Motiven tatsächlich in der Lage ist, bestimmte Figuren ideologischer Anrufung zu erklären, kann an dieser Stelle nicht behandelt werden (vgl. dazu z.B. Slavoj Žižeks Studie „The Sublime Object of Ideology, 2009), das Problem liegt allerdings anderswo, nämlich bei der Verallgemeinerungsfähigkeit des genannten Beispiels. Die von Althusser vorgestellte psychoanalytisch-katholische Praxis der Anrufung ist kaum anders als eine ebenso allgemeine Form – ein Königsweg der Ideologietheorie – zu lesen, und es ist wahrlich kein Zufall, dass Althusser sich nie der „größten Leichtigkeit“ hingegeben und „Wiederholungen“ in anderen Ideologien ausgearbeitet hat. Paradoxer Weise macht er dies selbst deutlich, wenn er just am Ende des Kapitels über die christlich-religiöse Anrufung in Bezug auf die politische Ideologie des Marxismus-Leninismus schreibt, dass diese die Besonderheit aufweist, „– für die es keinerlei historischen Präzedenzfall gibt –, eine Ideologie zu sein, die in hohem Grade von einer Wissenschaft ‚bearbeitet‘ und daher auch transformiert worden ist, von der marxistischen Wissenschaft von der GESCHICHTE […]“ (280). Offensichtlich gibt es doch mehr oder weniger ideologische Ideologien, je nach Grad der „Bearbeitung“ durch marxistische (sic!) Wissenschaft. Der sein seinerzeitiges Brennen offensichtlich gut überstanden habende Dornbusch aus der Gattung Rubus sectio Rubus (Brombeere) kann übrigens heute noch nächst dem Katharinenkloster am heiligen Berg Sinai besichtigt werden.

Problem 3: Ohne Staatsapparate keine Ideologie?

Zwar ist es die Ideologie, welche die Individuen als Subjekte anruft, immer schon angerufen hat, es bedarf aber der Institution „Ideologischer Staatsapparat“, um die jeweils konkreten Ideologien zu vermitteln. Diese konkreten ISA werden von Althusser auch taxativ aufgezählt (schulischer, familiarer, religiöser, politischer sowie interessensverbandlicher Apparat, Apparat der Information, des Verlagswesens und der öffentlichen Verbreitung, kultureller Apparat; 120). Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob jenseits dieser staatlichen Apparate, mithin überhaupt jenseits des Staates nicht auch ideologische Formen existieren können? Wäre beispielsweise im Sinne der Theorie des erweiterten Staates von Gramsci ein ZIA, ein zivilgesellschaftlicher ideologischer Apparat, denkbar? Wie steht es um ideologische Formen unmittelbar im ökonomischen Bereich der (Re)Produktion? Gleichwohl der Staat, wie wir spätestens seit Poulantzas wissen, ja auch direkt in der Ökonomie präsent ist, gibt es dennoch auch nichtstaatliche Bereiche des Ökonomischen. Sind diese zwangsläufig ideologiefrei?

Althusser berührt diese Problematik, wenn er sich mit den politischen Parteien als ISA auseinandersetzt, insbesondere natürlich mit DER PARTEI, der offiziell kommunistischen, französischen. Sein Lavieren könnte meines Erachtens so gedeutet werden: Insofern die KP eine P im bürgerlichen Staat ist, ist sie ein ISA, insofern sie wirklich K, also kommunistisch, ist, weist sie darüber hinaus. Obwohl es gerade im Falle der KPF nicht allzu schwer sein dürfte, sich diese als Staatsapparat vorzustellen, stellt sich die Frage, ob das Beispiel – konsequent weitergedacht – bedeutet, dass nicht parteiförmige politische Institutionen jenseits des Staates und somit der Ideologie stehen. Dagegen könnte natürlich eingewandt werden, dass sie dann eben keine politischen Institutionen wären, aber das würde wiederum bedeuten, dass es überhaupt kein gesellschaftliches Außerhalb des Staates geben kann – welchen Status hätte dann allerdings die Wissenschaft? Sie ist ja laut Althusser, ausgeführt vor allem in „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“ (1985), tatsächlich außerhalb der Ideologie, wenngleich auch durch zahllose Repräsentationsketten mit ihr verbunden – deren zentrale, die Philosophie, namensgebend für den Text war. Diese Problematik verweist wiederum auf das letzte hier diskutierte Problem der Ideologietheorie, nämlich die nicht vorhandene Theorie des Ausgangs aus der Ideologie. Dieses Problem ist meines Erachtens untrennbar mit den bisher genannten verwoben, sind es doch genau die Dimensionen Ahistorizität, Modellcharakter des Beispiels der christlichen Anrufung in psychoanalytischer Manier sowie Staatszentriertheit, die eine Theorie der Überwindung von Ideologie erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen. Im zweiten Teil des nächsten Problemfeldes werde ich darauf zurückkommen.

Problem 4: Keine Theorie des Übergangs = Ideologie forever?

Dieses Problemfeld wiederum gliedert sich in 2 Teile: Zuerst wird der spezifische marxistische Blickwinkel Althussers hinsichtlich der Dominanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte in den Blick genommen, anschließend der Wissenschaftsbegriff als subjektloser. Die kritische Analyse dieser Formen verweist schließlich auf die Unhaltbarkeit der Althusserschen Ideologietheorie – zumal aus einer Perspektive der Befreiung.

1. Primat der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte – oder: Hat da wer den Klassenkampf vergessen?

Im Anschluss an den eigentlichen ISA-Aufsatz findet sich ein Text mit dem Titel „Über den Primat der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte“. Darin beschreibt Althusser einen substanziellen Unterschied zwischen den Strömungen der ArbeiterInnenbewegungen, die von einem Primat der Produktionsverhältnisse, und jenen, die von einem Primat der Produktivkräfte über die jeweils anderen ausgehen. Letztere werden mit den Namen Bernstein, Kautsky und Stalin identifiziert, erstere selbstredend mit der revolutionären Form des Marxismus (ergo mit Lenin, Mao – und wohl auch Althusser selbst). Im Rahmens des Popanz, den Althusser aufbaut, ist ihm auch zuzustimmen: Letztlich verkleidet ein methodisches Ausgehen vom Primat der Produktivkräfte nämlich die Doublette von Ökonomismus und Voluntarismus. Nur ein Ausgehen vom Primat der Produktionsverhältnisse stellt eine Strategie des richtigen politischen Handelns sicher, mithin jenen Primat der Politik, der dem Abwarten auf die „richtige Reife“ der Produktionsverhältnisse durch die Sozialdemokratie bzw. auf der anderen Seite der Reduktion von Menschen auf „wertvolles Kapital“, wie z.B. im Stachanowismus, entgegen gesetzt ist (vgl. 300).

Eine derartige Entgegensetzung lässt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn die Produktivkräfte streng im technizistischen Sinne, ganz wie in den „realsozialistischen“ Staaten, ausgelegt werden. Wer mit Marx hingegen auf die „Produktivkraft der Arbeit“ fokussiert, kann der Althusserschen Dichotomie nicht folgen. Vielmehr eröffnet sich durch diesen Zugang eine ganz andere Sicht auf die Möglichkeiten einer politischen Theorie und Praxis gesellschaftlicher Befreiung. Mit dem Marx der „heiligen Familie“, aber auch der „Grundrisse“ (Stichwort: General Intellect) lässt sich eine Strategie kommunistischer Politik entwickeln, die sehr wohl auf einem Primat der Produktivkraft der Arbeit aufbaut. Nur wäre dies keine technisch determinierte Sichtweise von Produktivkräften mehr, sondern eine, die auf das Vermögen der assoziierten ProduzentInnen aufbaut, auf die Fortschritte der Entwicklung kollektiven Wissens und erst nachrangig auf die damit verbundenen technischen Entwicklungen. Die Herangehensweise Althussers jedoch verbleibt streng im leninistischen Rahmen – etwas anderes hat er allerdings auch niemals behauptet. Wie jedoch die Wirkungen sozialer Auseinandersetzungen in diesem Setting gedacht werden können – und zwar jenseits einer unproblematischen Vorstellung ihrer „richtigen“ Repräsentation durch die „richtige“ Parteilinie –, bleibt schleierhaft. Dies wiederum lässt zumindest einen ideologietheoretischen Rückschluss zu: There’s no way out! Eine Theorie aber, die im kollektiven Agieren von Subjekten keine grundsätzliche Möglichkeit der Veränderung von Erkenntnisweisen und Handlungsmöglichkeiten zugesteht, kann nicht dabei hilfreich sein, die imaginären Verhältnisse zu den eigenen Existenzbedingungen zu durchbrechen.

Für Althusser ist jenseits der Ideologie also nicht ein situierter und als solcher artikulierter konkreter Standpunkt, sondern ausschließlich „die Wissenschaft“. Nur aus ihrer Perspektive kann überhaupt eine Theorie der Ideologie formuliert werden, die selbst nicht ideologisch ist. Wie aber wird so ein Schritt aus der Ideologie heraus überhaupt möglich? Mensch lese und staune: Althusser verliert darüber nicht ein einziges Wort, weder im ISA-Aufsatz noch im Urtext. Wir erfahren lediglich, dass die Wissenschaft einen „Prozess ohne Subjekt“ darstellt. Dies erscheint zunächst nachvollziehbar, da ja ein Subjekt ohne Ideologie nicht zu haben ist. Was jedoch das Subjekt im Rahmen des wissenschaftlichen Prozesses ersetzt, erfahren wir nicht. Die hehre Wissenschaft, eine Theorie der Ideologie beispielsweise, wird sich doch nicht von selbst artikulieren, ein derartiges Maß an Gespensterhaftigkeit wäre wohl selbst einem Jacques Derrida zu viel des spektralen Guten.

2. Wissenschaft: Die „große Andere“ der Ideologie?

Nicht, dass die Unterscheidung zwischen ideologischen und un-ideologischen Formen von Wissen nicht von entscheidender Bedeutung ist. Im Rahmen etwa einer Theorie „situierten Wissens“ (Singer 2005) wäre es möglich, Parameter für die Wissenschaftlichkeit bei gleichzeitiger Bestimmung und Begründung eines spezifischen (ideologischen) Standpunktes anzugeben. Zentral dafür wäre jedoch eine Theorie des Überganges; eine solche hatten Althusser und seine Schüler – allen voran Étienne Balibar – im Rahmen des Projekts „Das Kapital lesen“ (1972) für die Transformationen von Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen auch durchaus im Blick. In den ideologietheoretischen Arbeiten Althussers jedoch finden sich keinerlei Ansatzpunkte für eine derartige Theorie des Überganges, des Scheiterns des Anrufens, der unterschiedlichen Wertigkeit differenter Ideologien etc. Eine Ideologie im Allgemeinen ist eine Ideologie im Allgemeinen und war schon immer eine Ideologie im Allgemeinen – und sie wird auch immer und in aller Zukunft eine sein. Dabei liegt das Problem nicht darin, dass auch Menschen in post-kapitalistischen Gesellschaften Formen imaginärer Verhältnisse zu ihren realen Existenzbedingungen herausbilden könnten, sondern dass per definitionem eine Veränderung im Modus der Produktion von Ideologie durch Staats(!)apparate und der Produktion von Subjekten durch die Ideologie ausgeschlossen wird. Epistemologisch ist es nach Althusser ebenso folgerichtig wie politisch falsch, sich erst gar nicht mit der historischen Entwicklung von Arbeitsteilungen und Klassenzusammensetzungen, von Revolten und Revolutionen aufzuhalten. Eine derartige Herangehensweise müsste nämlich eben von den Widerständen, historischen Verwerfungen, ja vom Nicht-Funktionieren und vom Scheitern ideologischer Anrufungen ihren Ausgang nehmen.

Theoretische Aussagen über eine politische Strategie des Scheitern-Lassens von Anrufungen oder – mit Foucault und Butler gesprochen – einer kritischen Entsubjektivierung rücken damit aus dem Blickfeld, ebenso theoretisch gehaltvolle Aussagen über mögliche Strategien alternativer Anrufungen oder Einschätzungen unterschiedlicher ideologischer Effekte. Diese wären allerdings der Einsatz einer kritischen Wissenschaft, die sich ihrer historisch-politischen Situiertheit bewusst ist, diese selbst wiederum reflektiert und offen legt. Kritisch oder herrschaftsaffin: Es gibt jedenfalls keine Wissenschaft von der Gesellschaft ohne die diese betreibenden Subjekte und ihre politischen Haltungen, ohne ihr unhintergehbares gesellschaftliches Verhaftet-Sein. Wissenschaft ist eben nicht das Andere der Ideologie schlechthin, kritische Differenzierungen sind jedoch auch innerhalb des „wissenschaftlichen Universums“ möglich, ja unumgänglich, und müssen neben formaler Widerspruchslosigkeit die zugrunde liegenden Strukturen gesellschaftlicher Arbeitsteilung in ihrer historischen Genese und Umkämpftheit ebenso analytisch mit einbeziehen wie politische Konjunkturen und Ereignisse.

Fazit: Niemals den Klassenkampf vergessen! oder: Es gibt keine Ideologie im Allgemeinen

Die oben kritisch ausgeführten Aspekte der Althusserschen Ideologietheorie lassen meines Erachtens nur einen Schluss zu: Die Ideologie im Allgemeinen gibt es schlicht und ergreifend nicht. Dies bedeutet nicht, dass die Arbeit an einer kritischen Ideologietheorie unnötig ist, ganz im Gegenteil: Angesichts der notwendigen Theoretisierung der historischen Kontextualisierung von Ideologien einerseits und andererseits der Tatsache, dass Ideologien immer konkret sind, muss sich auch deren kritische Theorie dem adäquat erweisen. Lenin paraphrasierend kann gesagt werden, dass eine kritische Theorie der Ideologie immer eine konkrete Analyse einer konkreten Ideologie bedeutet – hinsichtlich der formalen Konkretisierung der jeweiligen Ideologie als auch des Nachweises ihrer historischen Kontextgebundenheit und ÜBERWINDBARKEIT! Dies bedeutet nicht, alle Lektionen Althussers über Bord zu werfen; Ideologie manifestiert sich in und durch materielle Praxen, Ideologie konstituiert konkrete Subjekte und Ideologie ist – nicht zwangsläufig, aber oft – durch Staatsapparate vermittelt, mithin gar durch sie produziert. Und ja, auch emanzipatorische Kräfte und Kollektivsubjekte sind nicht davor gefeit, (antiemanzipatorische) Ideologien zu (re)produzieren.

Nichtsdestotrotz muss eine kritische Theorie der Ideologie zuallererst auf ihre Transformierbarkeit, wenn nicht auf ihre Überwindbarkeit abzielen. Es braucht also primär einen epistemologischen Zugriff auf jene historischen Prozesse und Ereignisse, in denen Ideologie nicht wirksam ist bzw. unwirksam wird! Und diese Prozesse und Ereignisse sind meist politischer Natur bzw. durch soziale Bewegungen ins Werk gesetzt. Nur in kollektiven Handlungen emanzipatorischer Kräfte zerbrechen ideologische Konstruktionen und identitäre Verfestigungen. Dabei ist die Begleitung und Artikulation durch WissenschaftlerInnen von großer Wichtigkeit, aber auch und gerade eine kritische Theorie der Ideologie kann sich nur dann produktiv entwickeln, wenn sie ihre Inspiration aus den Kämpfen um Entunterwerfung, um Verweigerungen ideologischer Anrufungen und/oder aus kollektiven Produktionen von alternativen Gegenanrufungen bezieht. In jedem Fall aber bedeutet dies eine endgültige und vollständige Abkehr von der – nicht zuletzt von Althusser gepflegten – marxistisch-leninistischen Vorstellung (oder besser doch Ideologie?) „sozialer (sic!) Revolution“ als „Ergreifung der Staatsgewalt“, um dann „neue Produktionsverhältnisse zu errichten.“ (214) Wenn letztlich die Differenz zwischen dem ISA der Religion oder der Familie und jenem der Kommunistischen Partei keine qualitative ist, da sich ja beide im Rahmen der allgemeinen Funktionsweise der ideologischen Anrufung befinden, stellt sich die Frage, ob es nicht doch vielleicht an der äußerst konkreten und falschen Ideologie der französischen KP lag, dass als deren Mitglied eine bestimmte Schwelle auch in der Theoriebildung nicht überschritten werden konnte. Dies lässt der weit ausführlichere Urtext meines Erachtens deutlicher erkennen als der komprimierte ISA-Aufsatz.

Zusammengefasst: Die Produktion von Subjektivität ist ein wichtiger, vielleicht sogar der zentrale ideologische Vorgang, die Form der Subjektkonstitution selbst ist jedoch gebunden an spezifisch modern-kapitalistische Rahmenbedingungen. Es macht schlicht und ergreifend keinen Sinn, von mittelalterlichen Subjekten zu sprechen. Es gilt also, den ideologischen Mechanismen in ihren unterschiedlichen Varianten auf die Schliche zu kommen, und diese wiederum sind in unterschiedlichen historischen Epochen ebenso different wie in weit voneinander entfernten Weltgegenden. Die Ideologie der fordistischen Kleinfamilie in westeuropäischen Ländern der 1950er Jahre funktionierte eben total anders als jene des Fußballs im Rahmen des costaricanischen Nationalismus in den letzten zwanzig Jahren! Eine adäquate Ideologietheorie müsste sich also sowohl mit den konkreten sozialhistorischen Herausbildungen ideologischer Formen als auch mit den Erfahrungen sozialer Bewegungen auseinandersetzen – und nicht zuletzt mit dem Eingebettetsein dieser Formen in geostrategische Konjunkturen und vor allem solche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Klassenzusammensetzung. Für ein Weiterarbeiten in diese Richtung gibt es auch mehrere Beispiele, von Sohn-Rethel über Stuart Hall und Poulantzas bis hin zu den ideologietheoretischen Schriften des (frühen) Žižek. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Wahrheit der Ideologie jedenfalls ist immer historisch und konkret, ihre Theorie müsste den Ausgang nicht von den Produktionsverhältnissen, sondern von der umkämpften Reproduktion der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit nehmen, denn darin (mehr oder weniger) verborgen finden wir das Vermögen, das Kapitalverhältnis und auch andere Formen von Unterdrückung und Herrschaft aufzusprengen. Althussers Ansatz hilft uns dahingehend nur bedingt weiter.

Das Hauptproblem seiner Ideologietheorie, ja des strukturalen Marxismus generell, ist sein „Niemals-Aufhören-Können“, die Funktionsmechanismen der Herrschaft zu studieren. Aus diesem Erkenntnisinteresse heraus kann sie bzw. er niemals den Durchbruch zu einer Theorie der Befreiung erreichen, sondern bleibt epistemologisch notwendig an den Rahmen herrschaftlicher Vergesellschaftung gebunden. Eine Theorie der Befreiung aber muss von den Elementen des Nicht-Funktionierens der Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital ausgehen. Niemals das Erkenntnisinteresse des Klassenkampfes vergessen!

Literatur:

  • Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband, Hamburg 2010
  • ders.: Über die Reproduktion. Ideologie und ideologische Staatsapparate, 2. Halbband, Hamburg 2012
  • ders.: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Hamburg 1985
  • ders. und Balibar, Étienne: Das Kapital lesen, 2 Bände, Hamburg 1972
  • La Boétie, Étienne de: Von der freiwilligen Knechtschaft, Frankfurt 2009
  • Charim, Isolde. Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie, Wien 2002
  • Singer, Mona: Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies, Wien 2005
  • Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology, New York / London 2009

[1Die Rolle der Reproduktionsarbeit, ideologietheoretisch hochbrisant, meist von Frauen geleistet und im Rahmen der zweiten Frauenbewegung zum zentralen Angriffspunkt einer Ideologiekritik in Theorie und Praxis, wird von Althusser übrigens mit keinem Wort erwähnt.

[2Der Suebenknoten ist eine, dem Stamm der Sueben zugeschriebene, typisch germanische Männerfrisur, die durch Abbildungen, archäologische Funde und schriftliche Überlieferungen nachgewiesen ist.

[3Nahe liegend wäre vielmehr die Exemplifizierung des Anrufungsprozesses anhand jenes Staatsapparates gewesen, dem Althusser völlig zu Recht die zentrale Rolle im zeitgenössischen Kapitalismus zuschreibt: der Schule. Es sei an dieser Stelle allerdings darauf hingewiesen, dass mit „L´école capitaliste en France“ der Althusser-Schüler Christian Baudelot und Roger Establet 1971 eine (nicht ins Deutsche übersetzte) Studie erschienen ist, die sich genau dieser Thematik widmet (vgl. auch die Hinweise Frieder Otto Wolfs in seinem Nachwort, 315f).

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