Streifzüge, Heft 76
September
2019

Im Kontinuum des Lärms

Lärm dokumentiert die industrielle Bewaffnung der Gesellschaften, zeigt welche Schlachten der Alltag so schlägt. Wir sind befangen im Sound des Kapitals.

Wird es wirklich lauter oder werden wir bloß älter? Sind wir gar wehleidig? Vielleicht ist es ja ein Zeichen fortschreitender Mieselsüchtigkeit, solch ein Schwerpunktthema zu setzen. Auch für mich gab es Zeiten, da hat mich der Lärm wenig gestört, ja er wurde gesucht und gemacht. Lärm stand für Bewegung, für Aktion. Da war was los. Sich in Bewegung zu setzen, hieß alarmieren. Auffällig war der Lärm und auffallen hieß lärmen. Lärm imponiert. Den Lärmenden sowieso, aber auch den Belärmten. Jede Demonstration war nötiger Lärm, und so demonstrierten wir als Megaphone der Kritik und Verstärker der Umwälzung unsere Anliegen. Gelegentlich tun wir es jetzt auch noch, aber zumeist wollen wir unsere Ruhe haben, kommt mir vor.

Was gestern noch beeindruckte, kann morgen schon verärgern: Lärmempfindungen sind nicht nur abhängig von Schalldruck, Tonhöhe, Toninhalt, Impulsgehalt. Lärm wirkt unterschiedlich auf Personen und in Situationen. Beim jeweiligen Subjekt geht es um Bereitschaft, Verfassung, Form, Alter, Umgebung, Kondition, Gesundheit, Gewohnheit, Gereiztheit, Begehrlichkeiten oder Unterwürfigkeiten. Lärm ist kein physikalischer Zustand, sondern erst psychische Prozesse lassen Geräusche zum Lärm werden. Die implizite Frage ist, ob das Laute inadäquat, ob es sekkant ist. Erst dann, wenn es so wirkt, ist von Lärm zu sprechen. Eine Messung in Dezibel hilft hier nur beschränkt weiter. Dass Lärm ist, ist offensichtlich, bloß ab wann etwas Lärm ist, ist um einiges schwieriger zu beantworten. Belästigung und Belastung sind ebenfalls nicht eins.

Maschinen und Automaten

Urformen des Hörbaren sind etwa der Atem, der Schritt, der Laut, der Wind, der Regen, das Gewitter, der Schrei der Tiere, später dann die Sprache der Menschen. Diese Geräusche sind sehr divers, während der heutige Lärm extensiv wie intensiv dimensioniert ist. Auch der Lärm ist zu historisieren, keineswegs an objektiven und gültigen Grenzwerten zu katalogisieren.

Die kapitalistische Gesellschaft ist viel entschiedener vom Lärm beeinflusst, ja kontaminiert als alle menschlichen Zusammenhänge zuvor. Erst in der Moderne ist es so richtig laut geworden. Das Leben der Subjekte ist vom Lärm geprägt. Er ist eine strukturelle Konstante. Lärm ist nicht mehr sporadisch, sondern beständig. Er ist eine chronischen Größe, die zwar Schwankungen kennt, aber eben nie ganz aussetzt. In keinem anderen sozialen Verhältnis spielte die Stringenz des Lärm eine solche Rolle. Der Kapitalismus setzt nicht nur seine eigenen akustischen Akzente, er hat vielmehr ein einzigartiges Kontinuum des Lärms geschaffen.

Die moderne Lautstärke ist Folge von Maschinisierung und Motorisierung, Resultat der Industrialisierung des Lebens. Maschinen und Motoren machen unnatürlichen und unerhörten Lärm. Straße und Fabrik sind Wirkung und Ursache zugleich. Die Fabrik ist als Hölle des Lärms entstanden. In ihren ungezügelten Kindheitstagen gab es da keine Rücksichtnahme. Ganze Generationen wurden den frühen Exzessen der Industrie geopfert. Im Kapital heißt es dazu: „Wir deuten nur hin auf die materiellen Bedingungen, unter denen die Fabrikarbeit verrichtet wird. Alle Sinnesorgane werden gleichmäßig verletzt durch die künstlich gesteigerte Temperatur, die mit Abfällen des Rohmaterials geschwängerte Atmosphäre, den betäubenden Lärm usw., abgesehn von der Lebensgefahr unter dicht gehäufter Maschinerie, die mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten ihre industriellen Schlachtbulletins produziert.“ (MEW 23, S. 448 f.)

Industrielle Laute generieren Lautstärken, die wir so früher nicht gekannt haben. Maschinen aller Art bevölkern den Planeten. Selten sind sie zurückhaltend, meist sind sie aufdringlich in ihrem Blasen, Brummen, Burren, Surren, Summen, Schneiden, Schlagen, Sprengen, Fräsen, Sägen, Hämmern, Plärren, Klappern, Sausen, Saugen, Dröhnen, Quietschen. Der Lärm weidet im Dasein. Erst im Kapitalismus geht der Lärm in Serie. Kein Rajon, den er nicht okkupieren will.

Der den Maschinen inhärente Lärm wird als unliebsames Nebenprodukt, als Kollateralschaden bagatellisiert, dezidiert nicht als zentrale Destruktivkraft gesehen. Sein Rhythmus ist jedoch der Rhythmus der Industrie und all ihrer Erledigungen: Produktion, Transport, Konsum, Deponierung. Die Musikalität des Raums verliert sich in den Hallen der Fabriken, in der seriellen Monotonie der Automaten. Man könnte auch sagen: Maschinen und Fahrzeuge lärmen nicht, sie sind einfach laut. Die Geräusche, die sie machen, entspringen keinem Verhalten, sondern einem Programm. Hier liegt auch der tendenzielle Unterschied zum Krach, den jemand absichtlich erzeugt, um Aufmerksamkeit zu erregen oder zu provozieren.

Schneller als lauter

Lapidar heißt es etwa gleich im ersten Satz einer Studie der Arbeiterkammer: „In den letzten Jahren hat der Verkehr sowohl auf Straße und Schiene als auch in der Luft sehr stark zugenommen. Aufgrund der erhöhten Mobilität hat sich auch die Lärmbelästigung der österreichischen Bevölkerung stark gesteigert.“ (Manfred T. Kalivoda, Verkehrslärmschutz in Österreich. Informationen zur Umweltpolitik 135, Wien 1999, S. 1) Fortschritt wird an Mobilität gemessen. Dynamik ist allgegenwärtig, Statik war gestern. Man kann gar nicht abbrechen, ja nicht einmal mehr unterbrechen. Mobilisierung ist des Staatsbürgers Pflicht. Nicht nur schnell hat es zu gehen, es hat immer schneller zu werden. Wir leben im Zeitalter der immerwährenden Beschleunigung. Es herrscht der Komparativ.

Noch nie wurde so viel transportiert wie heute. Stets wird gefahren und geflogen. Stets müssen sie anderswo sein, als sie sind. Der Verkehr wird bestimmt von der unablässigen wie zunehmenden Ortsveränderung von Menschen und Tieren, Pflanzen und Produkten. Als Waren sind sie allesamt unruhige Geschöpfe, Gejagte und Getriebene. Der Himmel der Fahr- und Flugzeuge offenbart sich als Universum des Lärms. Wir werden zugedröhnt, aber wir nehmen es hin. Der Lärm ist der Hall des Kapitals, sein unverdauter Rülpser.

Geschwindigkeit und Lautstärke korrespondieren. Je schneller, desto lauter! Lautstärke entsteht dabei oft gar nicht direkt aus den Geräten, sie ist vielmehr der Reibung von Dingen, die als gegenständliche Resultate eigentlich keinen Lärm machen (Asphalt, Reifen), durch das Tempo geschuldet. Ein Experte schreibt: „Wichtigste Lärmquelle bei Geschwindigkeiten ab 50 Stundenkilometern sind Reifen-Fahrbahn-Geräusche sowie aerodynamische Geräusche. Die dadurch erzeugte Schallintensität steigt mit der dritten mitunter sogar vierten Potenz der Geschwindigkeit an. Konkret bedeutet dies bei Tempo 140 eine Zunahme der Schallintensität um 25 bis 35 Prozent gegenüber Tempo 130.“ (Christoph E. Mandl, „Lernen S’ ein bisschen Physik, Herr Minister!“, Der Standard, 16. Februar 2019, S. 43)

Lärm ist ein gesellschaftliches Manko, ohne allerdings als solches reflektiert zu werden: „Lärm ist im Bewusstsein der Bevölkerung kein Umweltproblem, sondern ein persönliches Problem. Man kann Lärmprobleme und die Notwendigkeit von Lärmschutz offensichtlich nicht so abstrahieren wie Luftverschmutzung oder die Ozonproblematik, sondern es ist ein persönlicher Anlassfall und die eigene Erfahrung mit Lärm erforderlich, wenn man sich mit Lärm auseinandersetzt. Diese Zusammenhänge dürften auch erklären, warum der Lärmschutz trotz der vielfachen Betroffenheit oft stiefmütterlich behandelt wird.“ (Manfred T. Kalivoda, Verkehrslärmschutz in Österreich, S. 4)

Von der Fabrik in den Alltag

Fabrik bedeutete lokale Bündelung des Lärms. Die Industrie hat die Fabriken längst verlassen, sie ist überall. In der Zwischenzeit ist der Lärm viel dekonzentrierter, was überdies meint, dass er dichter geworden ist. Nicht nur in den Großstädten. Vorrangiges Alltagsproblem ist heute der Verkehrslärm, Spitzenreiter sind dabei die Kraftfahrzeuge. Der Fabriklärm hat (nicht bloß aufgrund von Arbeitsschutzmaßnahmen) seinen Zenit bereits überschritten.

Die Unwirtlichkeit der Städte ist vielfach Konsequenz pausenlosen Lärms. Ständig herrscht Traffic. Jedes Event ein Bahö, ein Spektakel. Doch wo die Sirenen stets heulen, wird man den Lärm gar nicht mehr als solchen registrieren. An den standardisierten Lärmquellen (vor allem des Individualverkehrs) sind wir alle gewohnt, wir dulden sie. Kontinuierlicher Lärm wirkt diskret, erst seine Diskontinuitäten wirken indiskret. Aufregen tun wir uns in erster Linie, wenn der Lärm das obligate Level übersteigt oder überhaupt nicht obligat ist, z.B. beim Baulärm. Baulärm stresst, er vermindert nicht nur die Wohn- und Lebensqualität, er macht Betroffene nervös und fahrig. Man wird ein anderer, noch dazu einer, der man nie sein wollte. Einmal mehr beweist sich unsere ganze Hilflosigkeit, da wir in den seltensten Fällen fliehen können. Autoaggressivität nimmt zu.

Dort, wo der Lärm unvergänglich und unumgänglich erscheint, ist der Widerstand oft auch schon erlahmt. Erfolge diverser Anti-Lärm-Initiativen halten sich in Grenzen. Gerät man bei akutem Krach schnell in Erregung, erfährt das chronische Gedröhn kaum noch eine Aversion, eher Resignation und Apathie. Bei Maschinen haben wir den Widerstand aufgegeben, es herrscht Fatalismus. Gegenüber Menschen halten wir Interventionen für zweckmäßig. Wir leben jedenfalls in Zeiten, wo Autos weniger nerven als kreischende Kinder. Es ist bezeichnend, wie eine Gesellschaft sich den Diktaten der Automaten und Maschinen fügt. Auch die Beschallung des öffentlichen Raums boomt. In den Supermärkten spielen sie John Lennons „Imagine!“, möglicherweise noch in der völligen Missinterpretation von Madonna. Aber vielleicht passt es dann auch wieder.

Nicht nur gilt: Wir können mehr erkennen als wir spüren, ebenso gilt: Wir spüren mehr als wir erkennen. Für die bürgerlichen Subjekte unserer Zeit heißt das: Lärm ist vielfach etwas, das wir haben, ohne dass es uns mehr als Besonderheit auffällt. Nicht alles, was wirkt, erscheint. Während ich hier schreibe, laufen im Hintergrund sowohl die Waschmaschine als auch der Geschirrspüler. Mir fiele das unmittelbar gar nicht mehr auf, aber da ich gerade einen Beitrag zu besagtem Thema verfasse, entgehen mir diesmal die Geräusche nicht. Aber was heißt entgehen? Sie entgehen mir auch sonst nicht, bloß nehme ich sie nicht mehr als gesondert wahr. Sie gehören einfach dazu. Man müsste die Leute auf Zeitreisen schicken, um eklatante Diskrepanzen sinnlich zu erfahren. Raumreisen sind dagegen nur ein schwacher Trost, bedenkt man noch dazu den Lärmaufwand, der alleine schon für den Transport betrieben werden muss.

Nichtintendierte Folgen

Keine Entwicklung ohne Folgen auf die Lautstärke. Hoch die Beschallung der Welt. Konsequenzen jenseits der Absicht häufen sich. Der Einbau von Klimaanlagen wird zunehmend zu einem nichtintendierten Knalleffekt der Klimaerwärmung. Der Klimawandel erhöht nicht nur die Temperatur, er steigert auch Produktion und Installation von Klimageräten. Weil die Hitze nicht aufgehalten werden kann, muss es eben auch lauter werden. Niederschwelliges Surren will und will sodann nicht aufhören. Um null Uhr schalten sich die Dinger ein und um drei Uhr schalten sie sich ab. Nach geltenden Gesetzen kein Problem. Es gleicht einem externen Tinnitus. Oft nervender als jeder Krach. Gleichförmig, eintönig, unüberhörbar. Wie will man dem im Bett liegend, entfliehen? Das ist kein Meeresrauschen. Nachtruhe ist auch nicht mehr das, was sie einmal versprochen und gehalten hat. Lärm, so lehrt das Beispiel, muss nicht unbedingt laut sein. Lärmdiagnosen sind sowieso situativ, keineswegs an Dezibel gebunden.

Es wäre interessant zu wissen, wie laut es bei der Lärmsanierung zugeht, ob die Aufwände die Ergebnisse nicht übersteigen. Insbesondere werden keine Ursachen beseitigt, sondern Wirkungen minimiert. Vor allem jedoch tun sich sofort wieder Geschäftszweige auf. Probleme sind dazu da, monetarisiert zu werden. Weder Straßen noch Autos werden weniger, dafür boomen Flüsterbeläge und Schutzwände, Lärmfilter und Endschalldämpfer. Der technischen Innovation sind keine Grenzen gesetzt. Wir reagieren auf Missstände und nicht auf Zustände. Es stören die Exzesse des Lärms, kaum jedoch die lautstarke Konstitution. Die haben wir hingenommen, so als könnten wir dagegen nichts unternehmen.

Jede sinnlich-stoffliche Rechnung müsste z.B. den Lärmaufwand berücksichtigen, der nötig ist, Schallschutzwände zu produzieren, an die entsprechenden Standorte zu transportieren und dort zu installieren. Nicht nur sagen, um wie viel es an der besagten Autobahnstrecke leiser wird sondern auch um wie viel es deswegen lauter werden musste. Kurzum: Lärmschutz erzeugt Lärm. Wir steigen aus der Spirale nicht aus, sondern drehen weiter an ihr. Und irgendwann, vergessen wir auch das nicht, müssen diese Wände erneuert oder abgerissen werden. Presslufthämmer und Sprenggeräte lassen wiederum grüßen. Probleme werden multipliziert. Wohlgemerkt, wir sprechen hier dezidiert nicht von den Kosten, sondern benennen Folgen. Solche Bilanzen sind uns freilich fremd. Unserer Beeinträchtigungen sind nichts gegenüber den Geschäften, die mit alledem gemacht werden können.

Von wegen Lärmschutz: Eines der wenigen Vorteile, die Elektroautos hätten, wäre die geringere Lautstärke gegenüber Verbrennungsmotoren bei niedriger Geschwindigkeit. Doch gerade dieser Umstand führt dazu, dass besagte Fahrzeuge nicht mehr gehört, d.h. als potenzielle Gefahrenquelle im Verkehr unzureichend wahrgenommen werden. Was folgt daraus? Nun, man fragt sich nicht, wie man Automobile insgesamt langsamer und leiser dimensionieren könnte, man fragt sich, wie man Elektroautos lauter und schneller macht. Denn der Lärm ist auch notwendig, um Risken des Individualverkehrs zu minimieren. Dass solche Argumente einfach akzeptiert werden, lässt auf die Verrücktheit der automatisierten Spezies schließen.

Lärm flutet sogar Räume, denen er eigentlich entzogen ist. Wenn es mich frühmorgens zum Laufen treibt, dann suche ich in erster Linie die Bewegung, in zweiter Hinsicht auch Ruhe. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Beim Joggen im Schönbrunner Schlosspark begegnen einem Lieferwägen, Laubbläser, Motorsägen, Rasenmäher, Zwergtraktoren im Zweitaktermodus. Gelegentlich ist es drinnen lauter als draußen. Meistens geht es noch gut, ab und zu wird es ungut.

Laut und Leise

In der unmittelbaren Konfrontation hat Leise gegen Laut keine Chance. Das ist übrigens nicht bei allen Gegensätzen so. Prallen Hell und Dunkel aufeinander, so bleibt entweder der Kontrast vorhanden oder, kommt es zur Vermischung, finden sich beide Momente in der Mixtur wieder. Ähnliches gilt für Heiß und Kalt. Mischt man Flüssigkeiten unterschiedlicher Temperatur, gleichen sich Wärme und Kälte an.

Mischt man Lautstärken, wird es nicht leiser. Stille hat gegen Lärm das Nachsehen. Stets. Lärm ist eine repressive Größe. Geräusche, die unter einem gewissen Level anzusiedeln sind, verschwinden, sind unhörbar, obwohl vorhanden. Da nur noch das Lauteste registriert wird, wird alles andere, obwohl existent, verdrängt. Das Ungehörte erscheint somit als unwirklich. Leises erstirbt regelmäßig im Lauten, der Lärm in der Stille hingegen nie. Diese Antipoden heben sich nicht auf. Laut verweist Leise in die Sphäre des Nicht-Wahrgenommenen.

Lärm überdeckt vieles, nicht bloß Geräusche mit niedrigerem Pegel, er beeinträchtigt auch andere sinnliche Reize. Der Lärm bricht des Lebens Vielfalt, er reduziert unsere Rezeption. Lärm tangiert nicht nur die Lautstärke. Er verändert die gesamte Umgebung. Lärm verträgt sich schlecht, spielt sich sofort in den Vordergrund. Es schmeckt alles anders, wenn es zu laut wird.

Die permanenten Geräusche (Straße, Stadt, Fabrik, Lokale …) verdrängen alles, was unter ihrer Frequenz liegt. Wenn allerdings etwas andauernd lästig ist, wird es nicht mehr als lästig empfunden, sondern als gegeben, also normal hingenommen. Penetranz geht in Kontinuität unter. Wir haben uns an den Lärm gewöhnt. Wir sind ihn gewohnt, er ist fast immer zugegen, und meist wirkt nur noch Außergewöhnliches unerträglich. Je ruhiger es wird, desto mehr können wir hören, vor allem nuanciert hören. Und zwar weil der gesättigte Lärmpegel gefallen ist.

Puncto Lärm sind wir nicht Hörer, wir sind Hörige. Der Bedrängnis ist nicht zu entgehen. Bei all dem Lärm nicht Schaden zu nehmen, ist kaum möglich. Auch physisch. Augen kann man schließen, Ohren dagegen nicht. Hier hat die Natur keine Klapp- und Schutzvorrichtung vorgesehen. Auslieferung erfolgt pur. Eine ganz schräge Möglichkeit äußere Geräusche zu negieren, ist es, Fremdlärm durch Eigenlärm zu ersetzen. Man stülpt sich Kopfhörer über die Ohren und begegnet der Welt fortan autistisch. Außenbeschallung wird substituiert, indem wir sie übertönen. Je lauter man hört, desto schwerhöriger man wird. „Aus heutiger Perspektive wird deshalb rund jeder dritte Jugendliche im Alter von 50 Jahren ein Hörgerät brauchen“, konstatierte eine Expertin am „Tag gegen den Lärm“ am 24. April.

Ruhe und Stille

Es ist schon ein Unterschied zwischen: „Sei ruhig!“ und „Gib Ruhe!“. Das Wort „ruhig“ ist primär ein Adjektiv der Lautstärke. „Ruhe“ andererseits ist ein Substantiv, das wesentlich mehr umfasst als die erwähnte Dimension. Auch ist zwischen „der Ruhe“ und „dem Ruhigen“ zu differenzieren. Ruhe ist leise, sie ist nicht lautlos, aber lärmarm. Sie kredenzt Absichtslosigkeit, sie muss nicht liefern, transportieren, produzieren, kommunizieren. Sie genügt sich selbst, sie ist genügsam. Ruhe schreit nicht.

Ruhe ist nicht gleich Stille. Ruhe ist vielmehr gesättigt und geladen mit leisen Tönen: dem Rauschen des Windes, dem Rascheln der Blätter, dem Gezwitscher der Vögel, vielleicht auch noch mit dem Surren der Motoren, wenn sie nur weit genug weg sind. In der Ruhe herrscht der Ton, nicht die Tonlosigkeit. Wer den Übergang von Ruhe zur Stille lauschen will, der höre Gustav Mahlers letzten Satz aus seiner Neunten Symphonie, vor allem den Schluss des Adagio. Im Gegensatz zur Stille ist Ruhe nicht gespenstisch, sondern ruhig und damit auch beruhigend. Sie liegt auf uns, ohne auf uns zu lasten. Ruhe offeriert die Gemächlichkeit einer lebendigen aber moderaten Bewegung. Sie formiert sich ohne Aufdringlichkeit und Drangsalierung. Gleitet. Besänftigt. Ist mild.

Doch auch Ruhe kann es in sich haben. Denken wir an den tückischen Frieden des Waldes, dieses wohltemperierte Rauschen, das uns angenehm berührt, unser Gemüt streichelt. Aber gerade des Waldes Klang ist, sind wir ehrlich, durchdrungen vom Töten und Getötet-Werden. Das Knistern und Knacken ist nicht so anheimelnd, wie wir uns einbilden. Was uns wohlig erscheint, kostet immerfort Leben, da west das Sterben. In dieser Behaglichkeit haust der Tod und damit ist nicht der Jäger gemeint. Lebensläufe bedeuten dort insbesondere ein Laufen um das Leben, ein Nachlaufen und ein Davonlaufen. Während wir uns erholen, werden andere ein letztes Mal abgeholt. Mit Begriffen der Sozietät ist das schwer zu fassen. Das aber nur nebenbei, damit nicht der unselige Verdacht entsteht, hier wird eine heile Natur gegen eine böse Kultur verteidigt.

Leidensschlüsse

Gehört das Geräusch zu den Räuschen? Kategorial nicht unbedingt, trotzdem sollten wir nicht vorschnell Nein sagen. Ein fulminantes Konzert ist zweifellos ein sinnlicher Rausch. Lautstärke fungiert hier als Aufputschmittel. Ohne einer bestimmte Anzahl von Dezibel würde das nicht gelingen. Man denke an diverse Rockevents. Indes, Räusche sind nicht gleich Räusche. Handygeräusche sind auch irgendwie Räusche, Räusche, die via Klingelzeichen Zustimmung erheischen. Wir sind nicht nur anrufbar, wir sind abrufbar geworden. Es gleicht einem unsinnlichen Dauerrausch. Andauernd bimmelt es. Kaum werde ich angecallt oder angesmst, habe ich zu reagieren. Nebenbei bemerkt zwingen Mobiltelefone zum ständigen Mithören von Gesprächsfetzen. Es ist so, als würde man en passant angerotzt.

Ist pulsierendes Leben ohne lautes Dasein zu haben? Sicher nicht, aber daraus ist nicht zu schließen, dass die beiden gleichzusetzen wären. Das Leben ist kein Spektakel, auch wenn es einem so präsentiert wird. Es ist zweifellos ein Unterschied, ob das Laute einen Einschnitt im Alltag darstellt oder ob es selbst das Kontinuum ausmacht. Lärm hat als positive Facette des Lebens durchaus seine Meriten, aber eben bloß als expliziter Aspekt, nicht als implizites Hintergrundrauschen gegen das es keine Mittel mehr gibt. Solch Ohnmacht ist nicht zu akzeptieren, sondern zu denunzieren.

Nicht jeder Lärm ist eine Lärmbelästigung. Auch laut mag es gelegentlich zugehen, aber wann und wo und zu welchem Anlass, das sollten wir selbst entscheiden und nicht die Geschäfte, die damit gemacht werden. Insbesondere Schweigen und Nichtstun sind zu kultivieren. Anstatt uns gegenseitig in Mitleidenschaft zu ziehen, sollten wir zur Leidenschaft anstiften.

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