Wurzelwerk, Wurzelwerk 12
Juni
1982

Im Rotstilzchen, anderswo und überall!

Allen Initiatoren, Sprechern, Zersetzern und Verhinderern eines „unabhängigen“ Jugendzentrums Wr. Neustadt seien die folgenden Zeilen ins Stammbuch geschrieben:

Klar, wir wissen um die Aussichtslosigkeit alternativer Projekte, gibt es doch schon zahlreiche Studien und Analysen, die ihren systemimmanenten Ghettocharakter entlarven. Klar, sie fristen ein inselartiges Dasein in einer von spätkapitalistischem Konsumzwang beherrschten Umwelt; ihr Einkommen hängt maßgeblich davon ab, daß die „Szene“ dort regelmäßig ihr anderwärts verdientes Geld ausgibt; ihr Überleben ist nur auf der Basis freiwilliger Selbstausbeutung der Mitarbeiter gewährleistet, die zudem fast durchwegs noch auf andere Geldquellen wie Stipendien, Sozialgelder, Jobs angewiesen sind; ihre Produktivität laviert aufgrund des Einsatzes völig veralteter Technologien gerade noch — wenn überhaupt und nur durch ständige Subventionierung aus Spenden und Überarbeit — an der untersten Ebene der Konkurrenzfähigkeit dahin; ihre Hauptaktionsfelder sind der Dienstleistungs- und Sozialbereich, wo sie den Staat wesentlicher Aufgaben entheben; ihre Funktion hat letztendlich systemstabilisierenden Charakter, stellen diese Alternativnischen das bestehende System doch keineswegs in Frage, im Gegenteil, sie tragen noch zur Entwicklung alternativer Marktnischen bei; ihre Arbeit weist mangelnde Professionalität und Qualität auf, ihre Produkte und Dienstleistungen sind schleißig, schlampig und allzulässig, deren Preise dennoch relativ hoch und ganz und gar nicht „alternativ“, ihre Nachteile gegenüber kommerziellen Betrieben können also ausschließlich durch die Gutmütigkeit der Alternativkunden ausgeglichen werden, die durch den Alternativkonsum das Gefühl vermittelt bekommen, dazuzugehören.

Nun. Wir, das heißt eine Gruppe von 8—12 Leuten, entschlossen uns, entgegen all diesen berechtigten Einwänden der Realität zum Trotz, vor 2 1/2 Jahren, das autonome Kommunikationszentrum Rotstilzchen zu eröffnen; ein „Beisl“ mit biologischer Küche, internationalem Zeitungscafé, politischen und kulturellen Veranstaltungen an den Wochenenden. Eine Kontaktstelle für Arbeitsgruppen, Termine, Informationen, ein Ort zum Kennenlemen, Diskutieren, Feiern.

Entgegen der Logik systemstabilisierender Selbstausbeutung wollten wir den Kampf aufnehmen gegen die Un-Kultur sozialdemokratischer Wien-Kultur. Unsere politische Arbeit sollte nicht vom Wohlwollen einiger Subventionsgeber abhängen, uns schwebte vor, Raum und Möglichkeit zu bieten für kritische unabhängige Diskussion zur Entwicklung einer autonomen Position zum herrschenden Gesellschaftsbrei. Die eigene ökonomische Basis des sich selbsttragenden Vereinsbeisls sollte etwaigen Fremd- und Selbstzensurmaßnahmen den Riegel vorschieben und gleichzeitig luftleere Diskussionen in einen Rahmen praktizierter Selbstverwaltung und stadtteilorientierter Gegenöffentlichkeit stellen.

So weit, so gut. In langen Diskusisonen und Kämpfen rangen wir darum, abstrakten Begriffen von kollektiver Arbeit, kollektiven Entscheidungsstrukturen, gemeinsam getragener Verantwortung, rotierender Arbeitsaufteilung, Abschaffung der Grenzen zwischen „Machern“ und „Kunden“, hartem Kern und Randfiguren, Kopf- und Handarbeitern ... Form und Inhalt zu verleihen.

Es gelang, ein kontinuierliches autonomes Veranstaltungsprogramm mit Schwerpunkten wie Entwicklungspolitik, Ökologie und Frieden, kritischen Filmen und Diskussionen zu aktuellen Themen auf die Beine zu stellen. Was damit aber noch nicht gelang, ist die Einbindung unserer Mitglieder in einen kontinuierlichen Diskussions- und Arbeitsprozeß. Die Qualität unserer Veranstaltungen unterscheidet sie zwar in der Regel eindeutig von der Konkurrenz kulturellen Wien-Kultur- und Festwochenkonsums. Wien erstickt förmlich unter der Fülle des Angebots guter „Alternativkultur“-Veranstaltungen, ja es sind kaum Karten zu bekommen. Programme jedoch, die jenseits der Grenze von Angebot und Nachfrage, Hintergrundinformationen zur Anregung politischen Handelns liefern werden davon erdrückt. Sie „ziehen“ nur, wenn sie in oben erwähnte alternative Marktlücke vorstoßen.

Es geht nicht darum, unserer Besuchern oder besser unseren Nicht-Besuchem Konsumhaltung vorzuwerfen Der Verlockung, zu konsumieren, kritisch versteht sich, punktuell und anonym unterliegen auch wir. Wir machen unsere Arbeit im Rotstilzchen weiter, verunsichert, ob mangelnde Nachfrage ein Zeichen nicht vorhandenen Bedürfnisses ist, euphorisch, wenn gute Programm die abendlichen Umsätze in die Höhe schnellen lassen.

Doch was heißt eigentlich „wir“? Nicht alle entschlieBen sich fürs verbissene Weiterkämpfen, nicht alle sind bereit, wieder und wieder über Machtstrukturen, Gewaltentrennung und inhaltliche Gemeinsamkeit zu diskutieren, nicht alle halten die Kluft zwischen täglicher Realität und gemeinsam formulierten Ansprüchen aus. Die Fluktuation ist, wie in den meisten Alternativprojekten, groß. Die Offenheit der Gruppe löst den harten Kern nicht auf. Erfahrungsvorsprünge zu neuen Mitarbeitern werden nicht abgebaut. Schuld ist jeder und niemand zugleich. Die Strukturen der großen Gesellschaft spiegeln sich im kleinen wieder. Wir sind keine Insel. Wir stehen mitten drin.

Lösen können wir diese Probleme nicht, indem wir das Rotstilzchen zusperren, aus Enttäuschung darüber, daß die Verwirklichung eines alternativen Arbeitsstils in unserer Gesellschaft Illusion bleibt. Gerade weil das Rotstilzchen keine Insel ist, auf der Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit zur Selbstverständlichkeit geworden sind, müssen wir weitermachen. Wir müssen weitermachen und die Fruchtbarkeit der Spannung zwischen der Utopie in unseren Köpfen, der gelebten Praxis in unseren gemeinsamen Projekten und der alltäglichen Realität der spätkapitalistischen Industriegesellschaft ausnützen, zur Verschiebung der Grenzen, zur Veränderung der Strukturen. Im Rotstilzchen, anderswo und überall.


Forum Alternativ im Rotstilzchen
1050 Wien, Margaretenstr. 99

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