ZOOM 6-7/1998
Dezember
1998

Im Schatten der Globalisierung

Minderheiten kämpfen noch immer um ihre Rechte

In Europa leben zwischen dem Atlantik und dem Ural 750 Millionen Europäer. Aber die ethnisch-kulturellen Gegebenheiten in Europa stimmen nicht überein mit dessen staatspolitischer Organisation. Denn in Europa gibt es ca. 70 verschiedene Völker, große und kleine, aber nur 36 Staaten (mit mehr als einer Millionen Einwohner).

Das Problem der nationalen Minderheiten entstand zur selben Zeit wie der moderne Staat, der auf dem Grundsatz der Nation beruht. Das Ideal war damals der Nationalstaat, und zwar Dank seiner ethnischen und kulturellen Homogenität, aber diesen Prinzipien zum Trotz konnte nicht jede nationale Gemeinschaft ihren eigenen Staat erhalten. Experten sprechen heute in Europa von mindestens 180 nationalen Minderheiten. Die Anzahl der Angehörigen dieser nationalen Minderheiten wird auf über 100 Millionen geschätzt, was einem Siebentel der europäischen Bevölkerung entspricht.

Wanderbares Europa

Es gibt jetzt sogar in den Ländern Mittel- und Osteuropas ein heftiges Aufflammen von Bewegungen, die von ethnischen Minderheiten getragen werden. Überall in Osteuropa hat das Ende des Kommunismus Minderheiten neuen Auftrieb gegeben, die lange Zeit diskriminiert oder überhaupt nicht erkennbar waren.

In Europa gibt es 36 Staaten mit mehr als 1 Millionen Einwohnern. Einer davon, Portugal, scheint die einzige Ausnahme ohne Minderheitenprobleme zu sein. Bleiben 35.

In fünf von diesen Staaten werden bzw. wurden bis vor kurzem ethnische Konflikte gewaltsam ausgetragen (Bosnien-Herzegowina, Rest-Jugoslawien, Kroatien, Rußland, Türkei). Bleiben 30.

Von diesen haben nochmals sieben Staaten ethnische Konflikte mit Nachbarstaaten zu bewältigen (Albanien, Bulgarien, Griechenland, Estland, Lettland, Makedonien, Ukraine). Bleiben 23.

In weiteren fünf Staaten sind sichtbare ethnische Spannungen vorhanden (Großbritannien, Moldawien, Rumänien, Slowakei, Spanien). Bleiben 18.

Fazit: Nur die Hälfte der Staaten Europas blieb bisher verschont von Spannungen infolge der Minderheitenfrage, jedenfalls im beschriebenen Ausmaß, was keineswegs bedeutet, daß alle dagegen gefeit sind.

Aus der Perspektive der Minderheiten in Europa läßt sich sagen, daß schätzungsweise erst der kleinere Teil davon soweit Rechtsschutz genießt, daß ihre Existenz nicht unmittelbar gefährdet ist. Dies bedeutet, daß das Konfliktpotential infolge mangelnden oder unzureichenden Rechtsschutzes außerordentlich groß ist.

Slowenische und kroatische Minderheiten in Österreich

Die österreichischen Volksgruppen sind heute in ihrer Existenz bedroht. Kommt es nicht zu einem politischen Umdenken, wird Österreich schon zu Beginn des nächsten Jahrtausends ein „volksgruppenfreies“ Land sein. Die österreichische Volksgruppenpolitik bleibt ein Beispiel für eine defizitäre rechtliche und politische Lösung der Minderheitenproblematik. Und es gibt keinerlei Anzeichen für eine politische Wende – ausgenommen den parlamentarischen Antrag 826/A der kleinen Oppositionsparteien LIF und Grüne auf Neufassung des in die republikanische Verfassung übernommenen Artikel 19 des Grundrechtskatalogs aus 1867 (Staatsgrundgesetz) – vielmehr stehen die Vorzeichen bestenfalls auf Stagnation.

Der politische Wille der Bundesregierung reicht nicht einmal zur Ratifizierung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, einem Dokument, das den Minimalkonsens der Staaten des Europarates darstellt und die Umsetzung von mindestens 35 konkreten Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung für jede anerkannte Volksgruppe verlangt. Als Grund für die weitere Verzögerung der Ratifizierung auf unbestimmte Zeit werden staatspolitische Überlegungen angeführt.

Während die österreichische Regierung für die Kärntner Slowenen und die burgenländischen Kroaten einen Katalog von 35 Maßnahmen bereits aufgrund der geltenden Rechtslage bzw. Praxis als erfüllt ansieht, ist laut Bundeskanzler Klima „für die übrigen Volksgruppen, nämlich die tschechische, die slowakische Volksgruppe und die Volksgruppe der Roma die Annahme des Teiles III der Charta nicht möglich, da diese Volksgruppen relativ klein sind und daher etwa bei einer Erlassung einer Amtssprachenverordnung oder auch einer Schaffung eines der kroatischen und slowenischen Volksgruppe entsprechenden Minderheitenschulrechtes Kostengründe relativ schwer ins Gewicht fielen.“

Bei diesem Verständnis von Minderheitenschutz sind die Tschechen und Slowaken, die Roma und Sinti in Österreich der völligen Assimilierung preisgegeben. Sie werden bei diesem politischen Verständnis von Minderheitenschutz, das ihnen von der österreichischen Bundesregierung entgegengebracht wird, auch niemals die Größe erreichen, um die für ihren Schutz und ihre Erhaltung ins Gewicht fallenden Kostengründe wettzumachen. Das zweite Jahrtausend wirft seine Schatten voraus.

Hand in Hand mit diesem Verständnis von Minderheitenschutz gehen die politischen Pläne von Teilen der österreichischen Parteien, den Aufgaben des Minderheitenschutzes für die Zukunft lediglich mit einem verfassungsrechtlichen Bekenntnis zur sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Republik Rechnung zu tragen.

Was solche Bekenntnisse bringen, zeigt sich am bestehenden verfassungsgesetzlichen Bekenntnis zum umfassenden Umweltschutz. Es verdeutlicht – so der Verfassungsgerichtshof – das öffentliche Interesse an umweltschützenden gesetzlichen Maßnahmen, das wohl auch sonst außer Streit stünde. Wenn es aber hart auf hart geht, etwa in der Frage von Steuerbegünstigungen für umweltschonende Verkehrsmittel, ist dieses Bekenntnis ohne jegliche Wirkung.

Mit großer Sorge erfüllt Slowenen und Kroaten die wiederholt bekundete Absicht Österreichs, den österreichischen Staatsvertrag für obsolet zu erklären. Der Staatsvertrag enthält in seinem Artikel 7 einige detaillierte Schutz- und Leistungsgarantien für die Kroaten und Slowenen in Kärnten, der Steiermark und im Burgenland.

Die politische Strategie wird von einer der Oppositionsparteien sehr offen ausgesprochen: Die europäische Sicherheitspolitik erhält durch das Abkommen zwischen Rußland und der NATO eine neue Dimension, Österreich die Gelegenheit, den Staatsvertrag nicht nur in Teilen, sondern in seiner Gesamtheit für obsolet zu erklären.

Den Staatsvertrag und die darin enthaltenen Minderheitenschutzbestimmungen sollte Österreich im Interesse der eigenen territorialen Integrität respektieren, ist doch der Staatsvertrag jenes Dokument, in dem die Wiederentstehung Österreichs in den Grenzen, wie sie zwischen 1920 und 1938 bestanden haben, begründet liegt, und haben doch so anerkannte Völkerrechtler wie Theodor Veiter begründet darauf hingewiesen, daß die südliche Grenze auch heute noch in Frage gestellt werden könnte, wenn sich nachweisen läßt, daß Österreich den Artikel 7 des Staatsvertrages absichtlich und willentlich verletzte. Dies umso mehr, als die Archive, die den Verlauf der Volksabstimmung 1920 dokumentieren, eigenartigerweise bis heute unter Verschluß gehalten werden.

Die Volksgruppen sind in Österreich mit einer bewußten Assimilationspolitik konfrontiert. Exemplarisch sei der Bericht der Bundesregierung über den „Volksgruppenschutz in der Republik Österreich“ vom Juli 1996 an das Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen in Genf angeführt. In diesem Bericht werden die in Österreich anerkannten Volksgruppen taxativ aufgezählt, die steirischen Slowenen befinden sich nicht mehr darunter.

Im Staatsvertrag von Wien aus dem Jahre 1955 sind die steirischen Slowenen neben den Kärntner Slowenen und den burgenländischen Kroaten noch namentlich im Minderheitenschutz-Artikel 7 angeführt, im Regierungsbericht 1996 an die UNO scheinen sie nicht mehr auf – sie wurden politisch liquidiert. Durch vier Jahrzehnte wurden den steirischen Slowenen die aus dem Artikel 7 des Staatsvertrages resultierenden Rechte vorenthalten. Kein einziger Punkt aus dem Artikel 7 wurde für die steirischen Slowenen erfüllt, und 1996 werden sie politisch liquidiert und werden heute in Österreich nicht als Volksgruppe anerkannt.

Die Überzeugung und die Vernunft eines Bruno Kreisky, der in Anspielung auf den Artikel 7 des Staatsvertrages gesagt hat, daß, abgesehen von seiner tiefen Überzeugung, „daß Verträge gehalten werden müssen, es sehr ernste Gründe gibt, die auch dafür sprechen, daß es vernünftig ist, sehr vernünftig ist, sie zu halten“, diese Vernunft ist der heutigen Regierungsspitze sichtlich abhanden gekommen. Kreisky war — mag man auch ihm Versäumnisse in der Volksgruppenpolitik vorhalten können — auch ein großer Außenpolitiker und wußte daher die außenpolitische Dimension der Volksgruppenfrage einzuschätzen. Er sorgte sich um das Ansehen Österreichs, als sich zu Beginn der siebziger Jahre die Situation in Kärnten verschärfte und die 205 von Landeshauptmann Sima aufgestellten zweisprachigen Ortstafeln in einem „Ortstafelsturm“ von gut organisierten Gruppen wieder abgerissen wurden, und meinte, er werde sich das Ansehen Österreichs nicht von ein paar „pfeifenden Gassenbuben“ zerstören lassen.

Kreisky hat im Zusammenhang mit den Minderheitenschutzbestimmungen des Staatsvertrages gesagt: „Es kommt bei einem völkerrechtlich geschlossenen Vertrag nicht darauf an, ob der durch den Vertrag Begünstigte das auch haben will, denn der Vertrag wird zwischen Staaten geschlossen, und als solcher enthält er eine Verpflichtung zwischen Staaten.“

Dennoch hat Österreich mit dem Volksgruppengesetz 1976 eine 25-%-Klausel in bezug auf die Sprachenrechte vor Ämtern und Behörden und die zweisprachige Topographie eingeführt – der Verfassungsgerichtshof hat in einem Erkenntnis aus dem Jahre 1990 nämlich 5 % Bevölkerungsanteil als jene Größe festgelegt, die für Minderheitenrechte mit Territorialbezug maßgeblich ist – von 800 Ortschaften im zweisprachigen Gebiet Kärntens sollten nur noch 91 eine zweisprachige Ortstafel erhalten, in der Praxis blieb es bis heute bei 68, die burgenländischen Kroaten haben bis heute keine einzige zweisprachige Ortstafel. Es sind nicht immer nur pfeifende Gassenbuben, die das Ansehen Österreichs gefährden, es sind auch Politiker, die sich in Obstruktion üben, wenn es um Volksgruppenrechte geht.

Slowenen und Kroaten haben zumindest den Artikel 7 des österreichischen Staatsvertrages, auf den sie sich berufen können und, soweit es sich um unmittelbar anwendbares Recht handelt, auch vor dem Verfassungsgerichtshof geltend machen können. Kärntner Slowenen, burgenländische Kroaten und burgenländische Ungarn haben zumindest ein öffentliches zweisprachiges Schulwesen, die burgenländischen Kroaten und Ungarn auch ein öffentliches Kindergartenwesen, wenn auch mit vielen Mängeln behaftet.

Wie aber ist es um die anderen in Österreich beheimateten Volksgruppen bestellt?

Sie sind de facto ohne jegliche Rechte und in den Privatbereich zurückgedrängt. Das einst tschechische Wien hat heute noch einen privaten tschechischen Kindergarten, eine private Volksschule und eine private zweisprachige Sekundarschule. Und selbst diese Einrichtungen kämpfen, ebenso wie die wenigen Zeitschriften und Periodika aller Volksgruppen, im finanziellen Bereich ums Überleben.

Äußerst bedenkliche politische Praktiken erleben wir auch bei den politischen Mitspracherechten, soweit man die österreichische Form überhaupt als solche bezeichnen kann. Österreich hat zur Behandlung von Volksgruppenfragen konsultative Organe eingerichtet, die sogenannten Volksgruppenbeiräte. Die Institution der Volksgruppenbeiräte ist alles andere als unproblematisch, sind sie doch von der Bundesregierung bestellte Organe. Dieses Konzept der Volksgruppenbeiräte ist an sich verfehlt, weil es der Bundesregierung zu große Einflußmöglichkeiten verschafft und keine echte autonome Minderheitenvertretung bewirkt.

Für Volksgruppenvertreter wird so der Drang zum Opportunismus massiv spürbar, ernten sie doch für ein diskretes Schweigen in solchen vernichtenden Situationen Lorbeeren und den Ruf der politischen Klugheit und Besonnenheit, manche sogar das politische Überleben, für aufrichtige Standpunkte hingegen tiefste Geringschätzung und politische Ausgrenzung.

Es wird in Österreich zum System, die Konkurrenz der Minderheitenorganisationen zu instrumentalisieren und zu einem Instrument der Blockade auf dem Weg zu einem weiteren Ausbau des Schutzstandards auszubauen – Argument: „Die sind sich ja selbst nicht einig.“

Die Institution der Volksgruppenbeiräte ist ein solches Blockadeinstrument. Sie sind, wie es vor Jahren schon die Rektorenkonferenz festgestellt hat, eine Fehlkonstruktion. Wegen des derzeitigen Bestellungsmodus können die Volksgruppenbeiräte Aufgaben der demokratischen Repräsentation, Partizipation, Legitimation und Selbstverwaltung – alles unabdingbare Voraussetzungen für einen fruchtenden Dialog – nicht erfüllen. Sie haben die Funktion, der internationalen Öffentlichkeit den Anschein zu vermitteln, in Österreich werde in Volksgruppenfragen ein permanenter politischer Dialog geführt, in Wirklichkeit aber werden sie als Schutzfilter der Regierungspolitik eingesetzt. Verbesserungsmaßnahmen mit Wirkung sickern durch diesen Filter nur noch in homöopathischer Dosis durch.

Den Volksgruppenbeiräten vergleichbare Organe gibt es auch in Finnland für die schwedische und samische Minderheit. Allerdings ist die Repräsentativität und Legitimation der Mitglieder, damit aber auch die Funktionalität gewährt, da sie in indirekter Wahl unter den Mitgliedern der Gemeindeparlamente bestimmt oder bei den Samen von den Volksgruppenangehörigen direkt gewählt werden. Funktionierende ausländische Beispiele könnten auch Österreich als Modell dienen.

In Anbetracht dieser besorgniserregenden Entwicklung muß auch die Bundesregierung zur Einsicht gelangen, daß es in bezug auf den Volksgruppenschutz in Österreich für eine Politik der kleinen Schritte längst zu spät ist. Es bedarf in der Volksgruppenpolitik eines wirklichen politischen Umdenkens. Erst auf der Grundlage der Erkenntnis, daß sinnvolle Minderheitenpolitik kein politischer Gnadenerweis ist, sondern eine elementare Notwendigkeit für eine Demokratie, wird vernünftige Minderheitenpolitik erst wirklich möglich.

Die wesentlichen Verfassungsgarantien des Volksgruppenschutzes in Österreich beruhen auf völkervertraglichen Verpflichtungen, die Österreich im Gefolge der beiden Weltkriege eingehen mußte. Dies besagt zum einen, daß der gegenwärtige Verfassungszustand kaum als Ausdruck von Grundentscheidungen gelten kann, die das österreichische Volk eigenständig über den rechtlichen Schutz seiner ethnischen Minderheiten getroffen hat. Zum anderen bringt es jener völkervertragliche Ursprung des Minderheitenschutzes mit sich, daß dieser nur rudimentär und uneinheitlich ausfällt.

Der rechtliche Schutz der Volksgruppen in ihrem Bestand sowie ihre Organisation in Vertretungskörpern konvergieren beide im Postulat einer Ausgestaltung des grundrechtlichen Minderheitenschutzes als kollektives Recht. In der österreichischen Rechtsordnung finden sich Ansätze für einen solchen gruppenrechtlich konzipierten Minderheitenschutz im Nationalitäten-Schutzartikel des monarchischen Staatsgrundgesetzes aus 1867, dem aber die Anwendbarkeit auf die Minderheiten des republikanischen Österreich abgesprochen wurde.

Als Begründung hiefür wurde der Umstand geltend gemacht, daß die Republik Österreich nicht, wie der habsburgische Vielvölkerstaat, von einer Reihe unterschiedlicher Volksstämme, sondern von einem ethnisch fast homogenen Staatsvolk getragen sei und das Problem daher heute nicht im Nationalitätenrecht, sondern nur mehr im Schutz von Minderheiten bestehe. So sehr es zutrifft, daß sich die faktischen Voraussetzungen im angeführten Sinn verschoben haben, so wenig vermag dieser Umstand die pauschale Schlußfolgerung zu tragen, daß das altösterreichische Konzept des Nationalitätenschutzes damit einfach obsolet geworden sei.

Im Gegenteil. Gerade die Ansätze zu einer gruppenrechtlichen Konzeption gewinnen gerade unter den veränderten Voraussetzungen einer Minderheitensituation noch an Bedeutung: Während ethnische Gruppen als Komponenten eines multinationalen Staates einander in ihrem Bestand kaum ernsthaft gefährden können, sehen sich ethnische Minderheiten einem massiven Assimilationsdruck von seiten der Mehrheitskultur ausgesetzt. Dies macht gerade die Erhaltung der Minderheitskultur zu einem grundrechtlichen Hauptanliegen, welches eben nur als kollektives Recht adäquat umsetzbar ist.

Darüber hinaus kann das einem kollektiven Volksgruppenschutz immanente Moment politischer Selbstbestimmung unter der republikanischen Legitimationsvoraussetzung der Volkssouveränität besser zur Geltung kommen, als dies unter den Bedingungen des monarchischen Konstitutionalismus möglich war. An der gruppenrechtlichen Grundidee hätte eine Neukonzeption des verfassungsrechtlichen Volksgruppenschutzes somit anzusetzen.

Europäische Lösungen?

Unter dem Postulat eines kollektiven Minderheitenschutzes wird es zur zentralen Aufgabe in der Minderheitenpolitik – und das nicht nur in Österreich, sondern auf gesamteuropäischer Ebene –, die Volksgruppen in den Staatsaufbau zu integrieren und an der politischen Willensbildung zu beteiligen, da dem Gemeinschaftsbewußtsein und der Loyalität nur durch politische Beteiligung gedient sein kann.

Der Staat, der es ernst meint mit der Integration von Volksgruppen, wird Organisationsformen und Mechanismen der Willensbildung anbieten müssen, über die ein repräsentativer Wille der Volksgruppe festgestellt bzw. gebildet werden kann. Vielfach bedarf die Volksgruppe hier selbst erst eines organisatorischen Gefüges der Integration, um ihre historische Spaltung zu überwinden.

Die Personalautonomie, also die staatlich verfaßte Selbstorganisation der Volksgruppe, in Form einer öffentlich-rechtlichen Personalkörperschaft ist eine der großen Herausforderungen für das europäische Volksgruppenrecht, denn der Idee der Personalautonomie wohnt ein Problemlösungspotential inne, das bisher noch nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft ist. Großer Vorteil ist dabei nicht zuletzt, daß es ein nahezu universell verwendbares Modell darstellt, unabhängig von Zahlenstärke, Siedlungsstruktur und territorialer Dominanz der Volksgruppe.

Auf europäischer Ebene ist das Modell der Personalautonomie in Finnland verwirklicht, Estland hat 1993 ein Gesetz über die Kulturautonomie der nationalen Minderheiten verabschiedet, Ungarn hat in der Folge seines neuen Minderheitengesetzes ein System derartiger öffentlich-rechtlicher Personalkörperschaften aufgebaut, und auch in Slowenien hat die Selbstorganisation der ungarischen und italienischen Volksgruppe in Form öffentlich-rechtlicher Personalkörperschaften lange Tradition.

Eine Verdrängung dieser Konzepte aus der Volksgruppenpolitik kann fatale Folgen haben, wäre dadurch doch die Möglichkeit eines konstruktiven Umgangs mit der Minderheitenfrage vertan. In seiner für das moderne Nationalitätenrecht grundlegenden Schrift „Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage“ schrieb Karl Renner (ein Austromarxist): „Die Meinung, daß es sich in der nationalen Frage nur um irgendeine gerechte Staatspraxis, um einige sinnreiche Formen des Amtssprachenrechts oder gar nur um geschickte parlamentarische Kniffe... handle, können doch wahrlich nur politische Kinder haben.“ Und weiter: „Die Amtssprachenfrage und alle nationalen Fragen von der Universität bis zur Straßentafel herab sind bloße Symptome. Wer sich dieser Einsicht verschließt, wird ewig irren, auch wenn er sich selbst für unfehlbar hielte. Man nehme nur einmal an, Tschechen und Deutsche willigten in die allgemeine Doppelsprachigkeit der Beamten ein: Ist dann nur das Geringste geändert? Entzündet sich der Kampf nicht immer wieder vom Neuen, da, dort, überall, in Gemeinde, Land und Staat? Das Problem ist ein Staatsproblem und kommt nicht zur Ruhe, bevor die Nationen ihre Einheit und Freiheit durch ihre staatsrechtliche Anerkennung sichergestellt sehen. Genießen sie diese, dann werden alle, die Einzelfragen und Streitpunkte einfache technische Probleme, die sich selbst lösen.“ Wie recht Karl Renner hatte, zeigt die Praxis der Nationalitätenpolitik leider jeden Tag aufs Neue.

Das Österreichische Volksgruppenzentrum hat gemeinsam mit der Südtiroler Volksgruppe für die österreichische EU-Präsidentschaft neue Initiativen für einen globalen Minderheitenschutz im EU-Recht in Angriff genommen. Im Auftrag der Südtiroler Landesregierung erarbeitete die Europäische Akademie Bozen einen Vorschlag für konkrete Rechtsakte und Maßnahmen zum Minderheitenschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Eine klare rechtliche Position der EU zu dieser Frage ist angesichts des bevorstehenden Beitritts mehrerer mittel- und osteuropäischer Staaten dringend erforderlich; als politisches Kriterium wird der Minderheitenschutz von den Beitrittskandidaten bereits ausdrücklich gefordert. Einen verbindlichen rechtlichen Standard gibt es aber auch in den fünfzehn Mitgliedstaaten der EU nicht.

Die österreichische Ratspräsidentschaft ist dieser Initiative gegenüber sehr zurückhaltend, bis dato wird eine Übergabe des Papiers an den Ratsvorsitzenden hinausgezögert.

Unserer Überzeugung nach kann nur ein internationales Minderheitenstatut, akzeptiert und garantiert von allen Beteiligten, die Zeitbomben entschärfen, die gewisse Minderheiten, die durch Launen der Geschichte oder die Brutalität Stalins von anderen Völkern eingeschlossen sind, darstellen. Die einzige zivilisierte Lösung besteht in jedem Fall darin, diesen Völkern ihre kollektiven Grundfreiheiten wirksam zu garantieren, was impliziert, daß spezielle soziale Gruppierungen, insbesondere die nationalen Minderheiten, die Möglichkeit erhalten, die ihnen angemessenen Institutionen zu schaffen.

Deshalb liegt die einzige wirkliche Lösung für die Minderheiten darin, sich als politische Körperschaft zu konstituieren und in dieser Rolle an der Macht beteiligt zu werden, zumindest was die Fragen angeht, die sie direkt betreffen.

Die Debatte um das problemangemessene Instrumentarium ist im Kern eine rechtspolitische Debatte. Die völkerrechtlichen Standards sind kaum existent, und soweit welche existieren, sind sie extrem inhaltsarm, wie das Rahmenabkommen des Europarates, das alle Züge eines Kompromißpaketes auf der Ebene des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ trägt. Eine Ausrichtung der künftigen Debatte an den bestehenden internationalen Texten wäre insofern inhaltlich gleichbedeutend mit einem Verzicht auf substantiellen Schutz überhaupt, ja letztlich identisch mit der Aufgabe der Zielsetzung des Minderheitenschutzes überhaupt.

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