Im Schatten
Das Beispiel einer Partisanin aus Smolensk.
Bereits im November 1941 hielt die deutsche Armee ein Gebiet besetzt, in dem vor dem Krieg 40 Prozent der sowjetischen Bevölkerung, das heißt ungefähr 70 Millionen Menschen gelebt hatten. Nach offiziellen sowjetischen Quellen erreichte die Zahl der aktiven Partisanen und Partisaninnen im Sommer 1944 mit 280.000 ihren Höhepunkt. Der offizielle Frauenanteil unter ihnen lag bei knapp 10 Prozent bzw. zwischen 26.000 und 28.000. Es wird geschätzt, dass es insgesamt zwischen 700.000 und 1,3 Millionen Personen gab, die in irgendeiner Weise (etwa auch durch verschiedene Hilfsleistungen) am Widerstand teilgenommen haben. Unter ihnen waren mindestens 50.000 Frauen.
Im sowjetischen Kontext sollte man auch an die Tatsache erinnern, dass (abgesehen von der starken Zunahme der weiblichen Arbeitskräfte während des Krieges) etwa 800.000 sowjetische Frauen in der Roten Armee dienten: als Köchinnen oder Wäscherinnen, als Chirurginnen, Sanitäterinnen, Krankenschwestern, Schreibkräfte und Telefonistinnen, aber auch als Scharfschützinnen, Fliegerinnen, Fallschirmspringerinnen, Frontsoldatinnen und Spioninnen. Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch — eine der ersten, die diese kämpfenden Frauen untersucht hat — konstatiert: „Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten so viele Frauen an einem Krieg (aktiv) teilgenommen.“
Eine Erklärung für diesen Umstand wurde von der weißrussischen Partisanin und Historikerin Wera Dawydowa geliefert: „Ich habe mich viel mit dem Krieg auseinander gesetzt, unter anderem selbstverständlich auch mit der Frage: Was bewog Frauen, in den Krieg zu gehen. Ich glaube, das ist ein nationaler Charakterzug. Die Sowjetfrau kann doch nicht unbekümmert ihr Kind baden, am Herd stehen, wenn sie sieht, dass ihrem Land, ihrem Volk der Untergang droht. Abgesehen davon hatte sich schon zu Beginn des Krieges die Emanzipation, unsere Gleichberechtigung mit den Männern bemerkbar gemacht.“
„Tanja“ aus Smolensk
Smolensk ist eine Provinzhauptstadt im westlichen Russland nahe der weißrussischen Grenze, etwa auf halbem Weg zwischen Minsk und Moskau. Sie wurde im Juli 1941 von der deutschen Armee erobert und blieb bis September 1943 besetzt. Während der Besatzung gab es schätzungsweise hundert Partisanen unter den 30.000 Zivilisten. Der Anteil der Frauen unter ihnen ist nach wie vor unbekannt, ebenso wie auch die Zahl anderer Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, die unter hohem persönlichen Risiko geholfen haben, sowjetischen Kriegsgefangenen, Juden, Partisanen und Zivilisten in der Umgebung das Leben zu retten.
Am 3. Juli 1941 hielt Stalin seine erste öffentliche Kriegsrede. Der Krieg hatte bereits elf Tage zuvor begonnen. Er rief zu einem umfassenden Volkskrieg gegen die Eroberer auf: „In den vom Feind besetzten Gebieten müssen Partisaneneinheiten gebildet werden (...) um gegen die feindlichen Truppen zu kämpfen (...), Brücken und Straßen in die Luft zu jagen, Telefon- und Telegrafenverbindungen unbrauchbar zu machen, und an Wälder, Lagerhäuser, Transportmittel usw. Feuer zu legen.“
Vor dem 3. Juli war Smolensk schon mehrmals bombardiert worden. Den meisten der rund 160.000 Einwohner gelang es, vor der Einnahme der Stadt durch die deutsche Armee zu fliehen. Unter den ungefähr 30.000 Menschen, die nach dem Einmarsch der NS-Truppen noch in Smolensk blieben, fanden sich überwiegend die sozial Schwächeren, die Armen und die Alten. Für sie war es aus Geldmangel, auf Grund fehlender Partei-Verbindungen oder auch, weil sie keine Verwandten auf dem Land hatten, unmöglich gewesen, rechtzeitig zu flüchten. Im Sommer 2000 interviewte ich in Smolensk eine ehemalige russische Widerstandskämpferin, die zu einer Partisanengruppe gehört hatte. Ich werde sie „Tanja“ nennen. Sie erinnerte sich: „Die Deutschen kamen sehr schnell bis Smolensk, weil alle geflohen waren. Die gesamte Führung war geflohen. Niemand war zurückgeblieben. Die einzigen Leute, die geblieben waren, waren die, die nirgendwohin fliehen konnten.“
In einem Umfeld, das von systematischer Vernichtungspolitik, allgegenwärtigem und willkürlichem Terror gekennzeichnet war, konnten die meisten Zivilisten nicht viel mehr tun als sich, so gut es gerade ging, persönlich durchzuschlagen. Sich den Partisanen anzuschließen beziehungsweise aktiven politischen Widerstand zu leisten, wurde von vielen als fast automatischer Selbstmord angesehen. Tanja, damals erst 17 Jahre alt, war insofern eine Ausnahme. Sie schloss sich bald nach der Invasion einer Partisanenzelle an. Sie habe sich eigentlich nicht für Politik interessiert, aber der Leiter der Zelle sei ein ehrlicher Freund ihres Großvaters gewesen. Sie kämpfte, „um das Mutterland (Rodina) zu retten“. Wie sie betonte, hegte sie keinerlei pauschalen Hass gegen „die Deutschen“ als Volk. Auch nicht, nachdem NS-Soldaten versucht hatten, ihre Großmutter zu verhaften, weil sie sie irrtümlich für eine Jüdin hielten.
Als Partisanin hatte Tanja die Aufgabe, an ihrem Arbeitsplatz Informationen zu beschaffen. Sie arbeitete im örtlichen Hauptquartier der deutschen Armee, wurde aber enttarnt und verhaftet. Während der Verhöre, denen sie im Gestapo-Gefängnis unterworfen wurde, waren es russische Kollaborationspolizisten, die dazu abkommandiert waren, sie zu prügeln und zu foltern, wobei ihr das gesamte Gebiss herausgeschlagen wurde. In der Folge wurde sie zuerst nach Krakau und daraufhin nach Buchenwald deportiert. Als die amerikanische Armee das KZ Buchenwald befreite, war sie bereits seit langem in einem Zustand, in dem sie sich dem Tod näher fühlte als dem Leben.
Ich habe bei meinen Archiv-Recherchen ein Dokument der deutschen Besatzungsmacht entdeckt, in dem für einen Tag im Sommer 1942 die Gefangennahme einer jungen Partisanin in Smolensk, die im örtlichen Hauptquartier der deutschen Armee gearbeitet hat, berichtet wird. In diesem Zusammenhang wurde die Tatsache hervorgehoben, dass es den Besatzern durch diesen „Fang“ gelang, gleich 80 weitere „Banditen“ zu identifizieren und festzunehmen, was in der kalten bürokratischen Sprache des Berichts mit der Formulierung wiedergegeben wurde: „Der erfolgreiche Ansatz ging von der Festnahme eines Mädchens aus.“
Dieses Mädchen war mit hoher Wahrscheinlichkeit meine Interviewpartnerin. Die brutalen Foltermethoden, derer sich dieser „erfolgreiche Ansatz“ bediente, finden in dem Bericht natürlich keine Erwähnung. Ob ihre Peiniger Tanja auch vergewaltigt haben, konnte ich nicht feststellen. In der Regel waren aber eine oder mehrere Vergewaltigungen Teil der Folter von Partisaninnen und Widerstandskämpferinnen.
Nach dem Krieg kehrte Tanja nach Smolensk zurück und ergriff den Beruf einer Deutsch-Russisch-Übersetzerin. Das Trauma, das sie erlebt hat, ist auch 60 Jahren später noch sichtbar. Nach wie vor hat sie keine Zähne mehr. Gemeinsam mit ihrer Tochter und Enkeltochter lebt sie in einer sehr kleinen Wohnung. Im Gespräch, das sie mit mir über die Zeit der nazideutschen Besatzung geführt hat, war sie nicht bereit, ehemalige Mitbürger von Smolensk namentlich zu erwähnen.
„Streicht Euch nicht heraus“
Die Erforschung des Themas „Frauen im Widerstand“ muß lückenhaft bleiben, insbesondere im sowjetischen Kontext. Das liegt zum einen daran, dass viele Quellen entweder vernichtet wurden oder nach wie vor unzugänglich sind. Zum anderen verhindert das Bild einer idealisierten, romantischen Welt von Widerstandskämpfern und Soldaten als exklusiver Männerbund, und die Auffassung, dass Krieg eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit sein müsse, eine adäquate Würdigung der Rolle von Frauen im sowjetischen Widerstand. In der russischen Sprache spiegelt sich das schon in den etymologischen Wurzeln der Worte für „Frau“ und für „Mann“ wider: Männer (mužčiny) zeigen Mut (mužestwo) — Frauen (ženšiny) heiraten (ženiat).
Ein weiterer Grund ist, dass bei einem stärker auf weibliche Opfer gerichteten Blickwinkel die Niederlagen eines Widerstandskampfes deutlicher hervortreten und romantisierende Vorstellungen von furchtlosem Heldentum verblassen oder an Glaubwürdigkeit verlieren. Tatsächlich schätzt man, dass im Zweiten Weltkrieg mehr als ein Viertel der umgekommenen Bevölkerung der Sowjetunion weiblichen Geschlechts war: Sieben Millionen Frauen und Mädchen. Es scheint immer noch starke psychologische Barrieren dagegen zu geben, über gefallene oder gefolterte Widerstandskämpferinnen zu berichten.
Sowohl in Frauen selbst als auch Frauen gegenüber scheinen Widerstände dagegen wirksam zu sein, traumatisches Erleben zur Sprache zu bringen. Die ehemalige sowjetische Scharfschützin Tamara Stepanowa meinte dazu: „Die Männer konnten das alles durchstehen. Ein Mann ist eben ein Mann. Aber wie wir Frauen es schafften, das weiß ich selber nicht. Wenn ich heute auch nur daran denke, packt mich das Grauen, aber damals konnte ich alles einfach so aushalten: neben Leichen schlafen, schießen. Ich habe Blut gesehen, und ich weiß noch sehr gut, dass Blut auf dem Schnee besonders stark riecht. Wenn ich das aber heute erzähle, wird mir schon schlecht.“
In einer im Juli 1945 gehaltenen großen Rede erläuterte der sowjetische Staatspräsident Mikhail Kalinin auf sehr bezeichnende Weise, wie sich die heldenhaften Soldatinnen in der Nachkriegszeit zu verhalten hätten: „Seit dem ersten Tag der Oktoberrevolution hat in unserem Land die Gleichstellung der Frauen existiert. Nun aber habt Ihr noch in einem weiteren Bereich die Gleichberechtigung für die Frauen gewonnen: mit der Waffe in der Hand in der Verteidigung Eures Landes. Aber erlaubt mir — als einem, der mit den Jahren weise geworden ist — Euch eines zu sagen: Streicht Euch nicht großartig heraus, wenn Ihr in Zukunft Eure praktische Arbeit leistet. Sprecht nicht über den Dienst, den Ihr geleistet habt — überlasst es lieber anderen, das für Euch zu tun. Das wird Euch besser anstehen.“ Ganz im Sinne von Kalinins Forderung wurde ihr Einsatz — besonders auch der Einsatz der Widerstandskämpferinnen — weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt. Über ihre Motivationen, ihren Mut, ihre enorme Ausdauer und Findigkeit bleibt noch viel zu erforschen und zu berichten.
[1] Swetlana Alexijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Ge
sicht. Hamburg 1989, S. 10
[2] zit. nach ebd.., S. 60
[3] Joseph Stalin: The Great Patriotic War ofthe Soviet Union.
New York 1943, S. 15
[4] Sonderarchiv Moskau, f. 500, op. 1, d. 775, ll. 391-92
[5] zit. nach Alexijewitsch, a. a. O., S. 9
[5] Mikhail Kalinin: Communist education. Selected Speeches and articles. Moskau 1953, S. 428
Leider sind bei diesem Beitrag schon in der Druck-Ausgabe (1.) die Fußnoten-Verweise im Text verloren gegangen und (2.) die Numerierung der Fußnote [5] offensichtlich falsch. Der Authentizität halber wird dies hier vorerst so belassen, bis wir die mißlichen Fehler korrigieren können.
