In allen Einzelheiten
Margret Kreidls Buch umkreist auf faszinierende Weise das Thema „Eigenwahrnehmung“ und „Wahrnehmung“. Unter „Eigenwahrnehmung“ verstehe ich nach Oliver Sacks jenes Sinnesorgan, das uns z.B. darüber informiert, ob wir stehen oder sitzen, lächeln oder böse schauen — ohne daß wir uns unserer Körperhaltung oder unseres Gesichtsausdrucks in einem Spiegel vergewissern müssen. Zur „Wahrnehmung“ ein Zitat von Yoko Tawada: „Irgendwann bemerkte ich, daß sich die Leser der phonetischen Schrift in einem Museum ganz anders verhalten als ich. Auch Gemälde nehmen sie scheinbar wie phonetische Schrift wahr. Das heißt, sie betrachten die Gemälde nicht stumm, sondern übersetzen sie eilig in die gesprochene Sprache. Sie fragen sich ständig: Was sehe ich im Bild? Was ist dort abgebildet? Was ist das Konzept des Künstlers?“
Margret Kreidl, die ihren „Kleinbuchstaben“ in sechs Bilder aufteilt, scheint uns von solchen „Fragen“ abbringen zu wollen — hin zu anderen Wahrnehmungsweisen oder Überlegungen. Vielleicht vollziehen wir auch Schritt für Schritt den Bildaufbau nach, den der „Katalog“ uns vorschlägt. Die Aneinanderreihung von Beschreibung in enträtselt-klarer Sprache und die Vereinfachung der Sätze auf das (auch grammatikalisch) „Wesentliche“ lassen das Gerüst der Sprache sichtbar werden, die enorme Variationsbreite sprachlicher Äußerungen gerade im strengen Korsett der Grammatik. So weisen diese „Beschreibungen“ über „Beschreibungen“ hinaus: Sie verweisen in den Raum der Sprache selbst, dorthin, wo niemand schulmeisterlich fragt, was „der Dichter“ sagen will, sondern wo, ich zitiere Eva Meyer (die wiederum sich auf Wittgenstein stützt): „... das Bild mir sich selbst sagt.“
In den kurzen Prosastücken „Mein Gesicht“ (zum vierten Bild gehörend) beschreibt Margret Kreidl spezifische Zurichtungsformen des Gesichts — des Gesichts, das sich selbst niemals „von außen“ sehen kann. Kreidl ermöglicht gewissermaßen die Blickrichtung von außen nach innen, oder, um es anders auszudrücken, sie spürt dem Innen als einer Funktion des Außen nach. Vielleicht weist sie aber auch „nur“ nachdrücklich darauf hin, daß die Konstruktion des Außen und seine (fragwürdige) Interpretation zu den Tätigkeiten des Innen gehört? Ganz fremd begibt sich Kreidl in Gesichter, beobachtet Auftritte oder spürt der Vielzahl anderer Identitäten, versteckt in ihren Namen und der Geschlechtszugehörigkeit, nach. Der bittere ironische Unterton der „Rosen, männlich“ ergibt sich etwa aus der Konstruktionsformel der Identitäten.
Die Ingredienzen dessen, was „ein Bild“ ist, werden immer wieder neu gemischt. So gibt es einerseits Träume, aber auch Skizzen und Skulpturen, in denen das Bezeichnende vom Bezeichneten (oder das Bezeichnete von seinen Funktionen?) gelöst erscheint. Die Skizzen und Skulpturen erinnern an Freuds Traumdeutung, stehen aber gerade nicht in dessen psychologisierendem Kontext und treten nicht als Kürzel auf, stehen auch nicht in der Tradition des Freudsehen Kampfes zwischen „Es“ und „Über-ich“. Dementsprechend wohnt in den Skulpturen (die ja keine Skulpturen sind, sondern Texte) nicht der Zwang der Interpretation, sondern im Gegenteil, eine Aufforderung zur Bilderstellung und Bildbetrachtung.
So geht die Leserin von Bild zu Bild und bemerkt dabei, daß diese „Bilder“ das begriffliche Denken angenehm umspielen, irritieren, zu Bewegung antreiben, ihm Impulse geben, Platz einräumen, es freundlich und freundschaftlich hegen und pflegen.
Das Buch von Margret Kreidl sei allen LeserInnen aufs Wärmste empfohlen.
Margret Kreidl: In allen Einzelheiten. Ritter Verlag, Klagenfurt 1998, 112 S, öS 188,—
