FORVM, No. 226/227
Dezember
1972

In Ungarn kommt’s wie in Polen

I. Der nationale Weg

Die demokratische Diktatur ist auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe prinzipiell mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Macht der Bourgeoisie unvereinbar, obwohl der ausdrückliche Klasseninhalt ihrer konkreten Zielsetzung und ihrer unmittelbar zu verwirklichenden Forderungen nicht über den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft hinausgeht, ja sogar die vollkommene Verwirklichung der bürgerlichen Demokratie ist.

(George Lukács, Blum-Thesen 1928)

Die Idee der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität ... wurde der Arbeiterklasse überliefert. Sie muß die Idee der nationalen Unabhängigkeit und Freiheit konsequenter verfechten als es bei der Bourgeoisie der Fall war. Die Arbeiterklasse kann nicht im Gegensatz zur Sache der nationalen Unabhängigkeit, Souveränität, Freiheit und Gleichberechtigung geraten und die universalen Interessen der Nation ihren eigenen Klasseninteressen unterordnen, weil sie sich gemeinsam nur mit den anderen werktätigen Klassen befreien kann und auch befreit hat und ihre Staatsmacht nur im Bündnis mit ihnen zu festigen vermag.

(Imre Nagy 1956)

Ich halte unsere Gesellschaft für eine Gesellschaft mit grundlegend sozialistischem Charakter. Die Macht liegt in den Händen der Arbeiterklasse, des werktätigen Volkes. Die Produktionsmittel sind — abgesehen von einigen geringen Ausnahmen — sozialistisches gesellschaftliches Eigentum; in unserem Land gibt es keine Ausbeuterklasse.

(Janos Kádár 1969)

II. Einige Voraussetzungen

Zwischen den zwei Weltkriegen ist Ungarn ein Agrarland geblieben. Die Industrialisierung fiel hinter andere europäische Staaten zurück. Es gab nur wenige fortschrittliche Industriezweige, sie wurden von Monopolen beherrscht: Kohlen- und Stahlindustrie, Bauxitproduktion und der elektronische Sektor. Dagegen verfügte Ungarn über einen gewaltigen Überschuß an Agrarprodukten. Dieser entsprang aber nicht einer hohen Produktivität, er war Resultat der Verelendung des ungarischen Dorfes. 1930 waren von 8,7 Millionen Ungarn 4,5 Millionen am Land beschäftigt. 7.500 Großgrundbesitzer verfügten über die Hälfte des Landbesitzes (oder hatten Land gepachtet), die führende Position hielt die Aristokratie, ungeachtet dessen, daß diese Klasse historisch zum Untergang verurteilt war. Die Mehrheit der Landbevölkerung, 1,2 Millionen Kleinbauern, 1,3 Millionen Taglöhner und 0,6 Millionen Knechte, lebte in drückender Armut. Der Widerspruch zwischen den unermeßlichen Einkünften der Agrarbarone und der Pauperisierung der ländlichen Massen war nur Element des Gesamtwiderspruchs. Großgrundbesitz und Dorf standen unter der Kontrolle von Kreditsystem und Industrie, das Finanzkapital wieder hatte weitreichende internationale (deutsche, englische, französische) Verbindungen. Unter diesen Verhältnissen konnte sich die ungarische Arbeiterbewegung nicht allzu schnell entfalten, dazu kam noch das völlige Fehlen politischer Arbeit im Dorf, das teilweise noch vorindustriellen Einflüssen ausgesetzt war. Das Proletariat und die Arbeiter im Kleingewerbe stellten nicht mehr als 650.000 Menschen.

Nach der Niederlage der ungarischen Räterepublik 1919 konnte sich die Kommunistische Partei Ungarns (KPU) nicht mehr sammeln. Sie folgte der Hauptlinie der Kommunistischen Internationale, dem Aufbau des „Sozialismus in einem Land“ (Stalin), negativ wirkte die ungelöste und unbegriffene Bauernfrage, das Nationalitätenproblem, verstärkt durch die Kollaboration der ungarischen Sozialdemokratie mit der Rechten. Polizeiverfolgung und politischer Druck waren vehement, erst 1925 konnte in Wien der erste Parteitag der KPU abgehalten werden. Nach einem verfehlten Bündnis mit linken Sozialdemokraten begann die illegale KPU erst nach dem VII. Kominternkongreß den „Kampf gegen Faschismus und Krieg“ (1935). Nach dem völligen Scheitern der „Sozialfaschismus“-Politik Stalins propagierte die Komintern das Bündnis der Arbeiterparteien, doch der Faschismus hatte sich schon in Italien, Österreich, Deutschland durchgesetzt.

Die Volksfrontstrategie der KPU hatte erst relativ spät Erfolg, 1942 wird die „Unabhängige Volksfront“ gegründet. Sie ist die Konsequenz verschärfter Klassenkonflikte in Ungarn: Kriegswirtschaft im Dienste der faschistischen Kriegsindustrie, Inflation und ungeheurer Druck auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, gleichzeitig erhöhte politische Repression. 1944 besetzten deutsche Divisionen Ungarn, gefolgt von der Schreckensherrschaft der Pfeilkreuzler-Partei. Der ungarische Faschist Szálási versprach Hitler 1,5 Millionen Soldaten, nach einer Verfügung sollten die Fabrikeinrichtungen und der Viehbestand nach Deutschland geschafft werden. Die gesamte rollende Einrichtung der Eisenbahn und der Goldschatz der Nationalbank wurde nach Deutschland verschleppt. 80.000 jüdische Einwohner Budapests wurden in Fußmärschen nach Deutschland getrieben. Der Widerstand der illegalen KPU ist desorganisiert, die Befreiung Ungarns wird im April 1945 durch die Rote Armee vollendet.

III. „Die „neue Ordnung“

1945 stand die Produktion still, der alte Staatsapparat war zerfallen, die ungarische Wirtschaft hatte ungeheure Schäden erlitten, der größte Teil der Produktionsmittel war zerstört oder abtransportiert. Die Kader der KPU waren vom Horthy-Regime und den Faschisten mehrmals aufgelöst und vernichtet worden, es gab keine theoretische, kaum organisatorische Kontinuität. Den Kern der neuen Partei bildete die Moskauer Exilgruppe, Rákosi, Révai, Gerö, Vás und I. Nagy. Sozialdemokraten und Kleinlandwirte-Partei waren durch den Krieg noch stärker desorganisiert, sie konnten sich nur in dem Maß formieren, als es die KPU zuließ. Die Kommunisten hatten sich gleich 1945 den Apparat gesichert.

Die katastrophale Lage Ungarns nach Kriegsende begünstigte ohne Zweifel die KPU, die Anwesenheit der Sowjetarmee spielt eine untergeordnete Rolle. Als einzige Partei verfügte sie über eine starke Führungsgruppe, welche die stalinistischen Säuberungen überlebt hatte und gewillt war, eine Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild voranzutreiben. Kurz nach dem Krieg verfolgten alle kommunistischen Arbeiterparteien auf Weisung der UdSSR die Strategie der Volksfront, in Ungarn bildete die KPU eine „Unabhängigkeitsfront“ mit anderen Parteien.

Die Wahlen 1945 brachten der Kleinlandwirte-Partei die überwiegende Mehrheit, KPU und Sozialdemokratie konnten sich nur in den Städten einigermaßen durchsetzen, in Budapest eroberten sie 42% aller Stimmen. Auf Initiative der KPU wurde im März 1946 der „Linksblock“ mit Sozialdemokraten und Nationaler Bauernpartei gebildet. Die Rekonstruktion der Wirtschaft wurde nicht nur durch die Reparationslieferungen an die Siegermächte belastet, die Kleinlandwirte-Partei versuchte die linke Politik zu blockieren, die Verstaatlichung der Schwerindustrie konnte sie aber nicht verhindern. Unter der Losung „nationale Einheit“ wurde ein scheinbares Gleichgewicht der Klassenkräfte hergestellt, die Industrialisierung stärkte jedoch langfristig die Linksparteien.

1947 unterzeichnete Ungarn die Friedensverträge mit den Alliierten, das Jahr wurde aber von anderen Ereignissen geprägt. Die Vereinigten Staaten eröffneten den „kalten Krieg“ gegen die Sowjetunion: Truman-Doktrin, Marshallplan. Im europäischen Maßstab kam es zum Zusammenbruch der Volksfrontpolitik, die kommunistischen Organisationen wurden aus den Regierungskoalitionen entfernt.

Ziel der linken Wirtschaftspolitik in Ungarn ist die „schrittweise Enteignung“ der Kapitalisten und des Auslandskapitals: 1947 wurden die Großbanken verstaatlicht. Die Zeit vom Sommer 1947 bis zum Sommer 1948 wurde später als das „Jahr der Wende“ bezeichnet:

  1. 1948 arbeiteten 85% aller Werktätigen des Bergbaus und der Industrie im staatlichen Sektor. Alle Industriebetriebe mit mehr als 100 Beschäftigten wurden verstaatlicht. Allmählich erreichten Lebensstandard und Planziffern das Vorkriegsniveau.
  2. Der politische Kampf gegen den rechten Flügel der Kleinlandwirte-Partei und gegen die Kapitalisten wird mit Nachdruck geführt.
  3. März 1948 erfolgte die offizielle Vereinigung der KPU und der Sozialdemokratie zur Partei der Werktätigen Ungarns (PdUW). Der erste Parteitag programmierte: völlige Demokratisierung des Staatsapparates und Vorbereitung der neuen Verfassung; Hebung des Lebensstandards durch die Entwicklung der Produktivkräfte; Verstaatlichung der im kirchlichen Besitz befindlichen Schulen und Aufhebung des Bildungsmonopols; Vertiefung der Beziehungen zur Sowjetunion und zu den benachbarten Volksdemokratien.

Die PdUW hat die Führung des Staates inne, das Volksfrontprinzip wurde formal in der Unabhängigen Volksfront weitergeführt, mit dem Ziel, „unter der Leitung der PdUW auch die Massenorganisationen der Arbeiterschaft und der anderen werktätigen Klassen bzw. Schichten (zu) vereinen“.

IV. Der Niedergang des Stalinismus

Die Oktoberrevolution vernichtete die Privilegien, führte Krieg gegen die soziale Ungleichheit, ersetzte die Bürokratie durch die Selbstverwaltung der Arbeiter, schaffte die Geheimdiplomatie ab, erstrebte die völlige Durchsichtigkeit aller sozialen Verhältnisse. Der Stalinismus führte die widerwärtigsten Privilegien wieder ein, verlieh der Ungleichheit einen provokatorischen Charakter, erstickte die Selbsttätigkeit der Massen in einem Polizeiabsolutismus, machte aus der Verwaltung ein Monopol für die Kreml-Oligarchie und erneuerte den Machtfetischismus in einer Art und Weise, wie es sich die absolute Monarchie nicht hätte träumen lassen.

(Trotzki)

Die Volksdemokratie in Ungarn war im Gegensatz zu den neuen Staaten Albanien und Jugoslawien nicht Ergebnis revolutionärer Massenbewegungen, sondern Resultat der sowjetischen Expansion nach der Niederschlagung des Faschismus. In Ungarn gewann dieser Umstand erst Bedeutung nach der Eröffnung des „kalten Krieges“ durch die USA. Die sowjetische Bürokratie (der Begriff wird im Sinne der Theorie des degenerierten Arbeiterstaates eingesetzt) kann die KPU dirigieren, es gab weder eine revolutionäre Massenerhebung noch eine starke Bourgeoisie, diese war durch den Krieg aufgebraucht.

Im Prinzip wurde die wirtschaftliche Struktur Ungarns der UdSSR angeglichen. Neben der bedingungslos geforderten Kollektivierung war 1949 in Ungarn praktisch die gesamte Industrie verstaatlicht. Die Wirtschaftspläne förderten einzig die Schwerindustrie, obwohl diese keine ausreichende wirtschaftliche Basis hatte. Das rücksichtslose Tempo der Industrialisierung, in einigen Sektoren sogar der sowjetischen Industrialisierung unter Stalin überlegen, führte zu unglaublichen Entbehrungen der Arbeiterklasse. Letztlich bewirkten die schnellen Veränderungen der Klassenverhältnisse den Aufstand 1956.

Die ungarische Industrie zeigte große Produktionsziffern, doch auf Kosten des Lebensstandards der ungarischen Arbeiter (Stagnation 1949-1953, absolute Abnahme 1951-1952). Während die Produktivität der Arbeit durch materielle Anreize erhöht wird: Stachanow-System, Lohnstaffelung, propagiert die PdUW den „Egalitarismus“ Rákosis. Das sozialistische Lohnsystem bevorzugte wenige Arbeiter, und entmutigte die Mehrheit der Arbeiter, indem es indirekt die Löhne senkte. Dieses Vorgehen lockerte die Arbeitsdisziplin, führte zum passiven Widerstand, korrumpierte ganze Schichten der Arbeiterklasse.

Auf der einen Seite steigerten die Maßnahmen der stalinistischen Bürokratie die Produktivität insgesamt, auf der anderen Seite hielten sie die Arbeiterklasse atomisiert und politisch unter Druck. Im Betrieb nehmen diese Aufgaben die Gewerkschaften wahr, die de facto ein Arm der Parteibürokratie geworden sind. Die Macht der PdUW ist aber fragwürdig, da sie im wesentlichen von der Unterstützung der Sowjetbürokratie abhängt. Die extreme Betonung der Schwerindustrie auf Kosten von Leichtindustrie, Dienstleistungsbetrieben und Landwirtschaft endet im Chaos.

Die Verringerung der Agrarinvestitionen, die Zwangskollektivierung, der Aufbau landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG), wofür die Voraussetzungen nicht gegeben waren, bewirken Stagnation und Rückgang der Agrarproduktion.

Letzte Konsequenz dieser „Irrwege“ der Bürokratie war die Auflösung der organischen Verbundenheit von Arbeiter und Partei, die die Vorherrschaft der PdUW anfangs ermöglicht hatte. Der historisch labile Charakter der Bürokratie führt notwendig zu einer Serie von Widersprüchen auf ökonomischem, politischem und ideologischem Gebiet. Die Bürokratie muß die Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte feststellen, anstatt deren Verschwinden im Maße des Vormarsches zum Sozialismus. Die Bürokratie muß mit dem „Übergang“ zum Sozialismus den Staatsapparat verstärken, um ihre Diktatur behaupten zu können. Die Ökonomie dieser Übergangsgesellschaften steht unter dem absoluten Vorrang der Erzeugung von Produktionsmitteln, zugleich sollen aber die Bedürfnisse der Massen befriedigt werden. Die Einführung des Taylorismus und des Leistungslohnes spaltet die Arbeiterklasse und demoralisiert sie.

In dem Maß, in dem die Diktatur der Bürokratie gefährdet erscheint, greift sie zum Mittel des Terrors, der öffentlichen und geheimen Prozesse und Säuberungen. Die Moskauer Prozesse (1936 bis 1938) sollen zeigen, daß Trotzki seit 1904 der Gegner Lenins und der Saboteur der Oktoberrevolution gewesen war. Der Prozeß gegen den ungarischen Außenminister Rajk soll beweisen, daß die „Tito-Clique“ niemals etwas mit Sozialismus gemeinsam hatte. Politisches Ziel der Prozesse war die Ausschaltung einer „gemäßigten“ Fraktion der Partei, Janos Kádár mußte für mehrere Jahre in den Kerker, Láslo Rajk und andere wurden hingerichtet. Die krassen sozialen Gegensätze wurden durch den Terror gerade noch übertüncht, jeder sollte sich verdächtig, schuldig fühlen.

Die völlige Entfernung der Führung von den Interessen der Massen, die Usurpation der Macht durch die Bürokratie wird für Rákosi, Gerö, Fárkás und so weiter nach dem Tode Stalins verhängnisvoll. Die Gegensätze, welche die stalinistische Politik heraufbeschworen hatte, zwingen die Erben Stalins ihre Macht aufzugeben oder bestimmte Forderungen zu erfüllen: Hebung des Lebensstandards, Beseitigung des Terrors der GPU und Gewährung gewisser demokratischer Rechte.

Der Übergang der stalinistischen Bürokratie aus ihrer terroristischen in eine „liberale“ Phase war das Werk der Bürokratie selbst, nicht das Drängen der Massen. Die „Reformen“ Chruschtschows beginnen mit der Beseitigung Berias, der für alle Verbrechen der Bürokratie herhalten muß. Dieser Akt hat unmittelbare Wirkung: das ZK der PdUW kritisiert Rákosis „Einmannleitung“, Imre Nagy löst ihn vom Amt des Ministerpräsidenten ab.

V. Das Jahr 1956

Der „neue Kurs“ Nagys bremst die Industrialisierung, die „neue“ Industriepolitik soll ein „Gleichgewicht zwischen Industrie und Landwirtschaft“ herstellen. Der wirtschaftliche Druck auf die Einzelbauern wurde zurückgenommen, Preissenkungen hoben den Lebensstandard der arbeitenden Massen, das private Gewerbe wurde beträchtlich erweitert. Vorsichtig wurde mit der Rehabilitierung der politischen Häftlinge begonnen.

Die Beziehungen der Massen zur PdUW waren um einiges widerspruchsvoller als etwa in der UdSSR. Die Gewerkschaften hatten noch eine zwiespältige Natur, die Arbeiterschaft verfügte noch über ein Bewußtsein ihrer Klasse (Streiks, passiver Widerstand) und konnte sich politisch artikulieren. Die nationale Frage stellte sich zwingend, es gab offene Ausbeutung durch die UdSSR: Reparationen, anonyme sowjetische Unternehmen, einseitige Handelsverträge und so weiter. Die „Entstalinisierung“ verlief dementsprechend komplizierter. „Die Rückzugslinie der Bürokratie, der einzige Weg, um sich ihre usurpierten Privilegien zu bewahren, öffnete die Bahn für politische Bewegung der Arbeiterklasse und der Intellektuellen. Obwohl die wirtschaftliche Lage chaotisch war, konnte sich Nagy, der mehr dem „jugoslawischen Sozialismus“ zuneigte, nur wenig gegen die stalinistische Rákosi-Clique durchsetzen. Ein überwiegender Teil des Parteiapparates stand hinter Rákosi, während Nagy nur mit Sympathie der Massen, aber nicht mit Unterstützung rechnen durfte.

Der XX. Parteitag der KPdSU fand im „Personenkult“ die Erklärung für die Degeneration des Sozialismus, als könnte damit die politisch-soziale Umwälzung und die stalinistische Reaktion benannt werden. Damit wurde Rákosis Entfernung unvermeidlich, im Sommer 1956 wurde er wegen „Personenkult“ seines Postens als Erster Sekretär enthoben.

Bürokratische Umgruppierungen an der Parteispitze können aber die sozialen Gegensätze nicht versöhnen. Die Bedingungen, unter denen die politische Erhebung ausbrach, waren ungünstiger als jene, welche die politische Revolution in Polen 1956 ermöglichten:

  1. Der Kontlikt in der Parteispitze fand nur geringen Widerhall in der Arbeiterklasse. Nagy konnte nicht mit der Unterstützung einer Mehrheit der Partei rechnen (wie Gomulka in Polen). Die revolutionären Traditionen der ungarischen Arbeiterklasse waren verschüttet, die kommunistische Bewegung zerrissen und bürokratisiert.
  2. Das Fehlen einer Führungsaltemative versetzte eine Gruppe von Studenten und Intellektuellen (wie Georg Lukács und den Petöfi-Kreis) in eine führende Rolle bei der Demokratisierung (das Programm dieser Gruppen ging nicht weiter als Lukács’ Blum-Thesen).
  3. Der stark ausgeprägte Polizeicharakter der stalinistischen Diktatur (Rajk-Prozeß, Säuberungen).

Die spontane Erhebung des Jahres 1956 hatte von Anfang an Doppelcharakter:

Die Kampfmittel nahmen klassisch proletarische Formen an: Straßendemonstrationen, Betriebsbesetzungen, Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, allgemeine Bewaffnung der Arbeiter.

Das Fehlen eines revolutionären Kommandos im Oktoberaufstand begünstigte das Wiederaufleben kleinbürgerlicher Elemente, in der Endphase konterrevolutionäre Aktivität (Mindszenthys Radioaufruf am 3. November zur Wiederherstellung der alten Ordnung).

Nichts fürchtete die Sowjetunion mehr als das Beispiel der Arbeiterdemokratie. Als Nagy, im Oktober wieder Ministerpräsident geworden, die Bewegung nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte, rief Kádár nach der „Hilfe“ der UdSSR. Die militärische Intervention der sowjetischen Truppen schlug die politische Revolution nieder.

VI. Die Wirtschaftsreform

Kádár ging im Fraktionskampf als Sieger hervor, weil er sich auf die Seite der Sowjetbürokratie stellte. Die PdUW wurde aufgelöst und eine neue Partei konstituiert, die auch formal das Neubeginnen symbolisieren sollte. Jene Kader, welche das Bewußtsein der PdUW und der KPU ausgemacht hatten, blieben außerhalb. Die Bewegung wurde „sozialdemokratisiert“, die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) verlor immer mehr an organisatorischer Aktivität und politischer Bedeutung. Sie wurde zur Partei des „sozialen Aufstiegs“, die Arbeiterschaft bildet heute bereits eine Minderheit in ihr.

Alle Illusionen der Arbeiter über ein Hineinwachsen der Bürokratie in die Arbeiterdemokratie waren zerstört. Die Bürokratie erkannte, daß nur durchgreifende wirtschaftliche Maßnahmen die arbeitenden Massen passiv an sie binden können. Bereits im 3. Quartal 1957 erreichten Reallohn und Produktionsergebnisse neue Rekordhöhen. In Ungarn hatte die Bürokratie leichtere Hand als etwa in der ČSSR, es war leichter in der Industrialisierungsetappe Umreihungen vorzunehmen, als in der entfalteten Industrie der ČSSR Umstrukturierungen vorzunehmen. Das bedeutet aber nicht, daß Wachstum der Wirtschaft die grundlegenden Konflikte des ungarischen Systems beheben könnte:

  1. Gegensatz zwischen Primärsektor (Investitionsgüter) und Sekundärsektor (Konsumgüter);
  2. Gegensatz zwischen Wachstum der Industrie und stagnierender Landwirtschaft;
  3. Permanentes Ansteigen der Arbeitsintensität und Zurückbleiben der Löhne und des Konsums;
  4. Widerspruch zwischen Planziel und der zentrifugalen Tendenz des Einzelbetriebes.

VII. Perspektiven

In welcher Situation befindet sich Ungarn heute? Welche Kräfte und welche sozialen Gegensätze sind wirksam, auf welche Zukunft weisen sie hin?

  1. die herrschende Bürokratie:

    Die ungarische Bürokratie hat durch „freie“ wirtschaftliche Entwicklung (Wirtschaftsreform) eine politische Krise, wie zuletzt 1956, verhindern können. Das ökonomische Laissez-faire fördert aber das Verlangen nach demokratischen Freiheiten, welche wieder den bürokratischen Apparat gefährden.

    Drei Richtungen beherrschen und teilen sich die ursurpierte Macht:

    Die Gruppe um Janos Kádár stützt sich auf die Vergangenheit (wirtschaftlicher Aufstieg), ihr gegenwärtiger Halt beruht auf der Unterstützung durch den Parteiapparat und die „zentralistischen“ Kräfte der USAP, ihre eigentliche Stärke liegt in der Verbindung zur Sowjetbürokratie. Eine Ablösung Kádárs ist gegenwärtig nicht unwahrscheinlich, das bedeutet aber keinesfalls eine Niederlage dieser Gruppierung.

    Die „linke“ Gruppe der Bürokratie ist zahlenmäßig unterlegen, sie stützt sich objektiv auf die Gewerkschaft, sie hat einigen Einfluß in den niederen Funktionärsschichten. Die „linke“ Richtung ist an die „zentralistische“ gebunden, beide wollen die Verfügung über den Plan nicht aufgeben, das würde das Ende ihrer Privilegien bedeuten. Beide schützen die verstaatlichten Produktionsmittel, sie sind an einer Restaurierung des Kapitalismus nicht interessiert.

    Die „rechte“ Gruppe der Bürokratie rekrutiert sich aus Regierungsapparat und Betriebsleitern. Diese Funktionen werden zur Zeit noch vom Parteiapparat kontrolliert, langfristig zeichnet sich eine Loslösung dieser Richtung aus dem bürokratischen Milieu ab. Diese „rechte“ Fraktion, zu der auch verschiedene Mitglieder der Regierung zählen (stellvertretender Ministerpräsident P. Valyi) hat Doppelcharakter. Einerseits ist sie an der Stabilität der Bürokratie interessiert, andererseits an der Profitabilität der Betriebe (Betriebsleiter erhalten 80% der Gewinne, die in den Beteiligungsfonds gehen). Der Interessenkonflikt zwischen Technokratie und Restauration des Kapitalismus ist noch nicht entschieden. Die Mehrheit der Betriebleiter zeigt offene Sympathie für den kapitalistischen Westen, Kapitalanlagen im Ausland sind häufig. Ob die Betriebsleiter an einer technokratischen Entwicklung interessiert sind, Beispiel DDR, ist in Ungarn mehr als fraglich. Zumindest hat sich die kapitalistische Rationalität in dieser Gruppe noch nicht endgültig etabliert, eine Umkehr ist noch möglich. Einiges hängt vom Eingreifen der Sowjetbürokratie ab: welcher Fraktion sie endgültig zustimmt.

  2. militärischer Apparat.

    Dieser Apparat nimmt eine nicht unbedeutende Rolle ein. Es steht aber außer Zweifel, daß er sich an der Zentralbürokratie orientieren wird. Gemeinsame Interessen hat er mit Betriebsleitern nicht, die Ausweitung des Konsumsektors bedeutet sogar kurzfristig eine Einschränkung der Rüstungsaufwendungen. Die Masse der Streitkräfte ist politisch labil, 1956 war die Mehrheit hinter den Aufständischen und hat das Eingreifen der UdSSR nicht unterstützt.

  3. Mitglieder der LPG.

    Die Bauern machen 25% der ungarischen Gesellschaft aus. Ihr politisches Bewußtsein und ihre soziale Lage ist komplex: vielen ist noch der Terror der Zwangskollektivierung in Erinnerung, die hohe Besteuerung etc. Die rasche Industrialisierung auf Kosten des Agrarsektors hat lange Zeit Stagnation für die Landwirtschaft bedeutet, Versorgungskrisen in der Lebensmittelproduktion bewirkt. Auch in der Gegenwart sind viele Bauern an einer individuellen Bewirtschaftung mehr interessiert, die bürokratischen Zwangsmaßnahmen haben das Besitzstreben eher verhärtet als beseitigt. Ein Ziel der Wirtschaftsreform war denn auch die Befriedung der Bauern (Preishebung von Agrargütern um 17%). Als Klasse sind die Bauern keine Stütze der Bürokratie.

  4. Intellektuelle.

    Die Mehrheit der Studenten und Intellektuellen sind in Bürokratie und Technokratie integriert, als soziale Schicht vertreten sie die Forderung nach mehr bürgerlichen Freiheiten („Prager Frühling“ 1968). In Ungarn gibt es — im Gegensatz zu anderen sozialistischen Staaten — eine große Minderheit marxistischer Intellektueller, die sich um Lukács und seine Nachfolger sammelt. Diese Tradition hat aber nicht verhindern können, daß unter den Intellektuellen Illusionen bestehen, besonders über eine mögliche „Synthese“ zwischen Sozialismus und „freier“ Marktwirtschaft. Für Intellektuelle, die selbst mitten im Transformationsprozeß dieser Gesellschaft stehen, und einer starken politischen Repression ausgesetzt sind, ist das nur zu verständlich. Man gibt in dieser Situation individuell nicht nach, theoretisch macht man Revisionen. Die scheinbare Ruhe der Arbeiterklasse verleitet zum Umbau der Kritik der politischen Ökonomie und zum Glauben an die Integrationsfähigkeit des Kapitalismus. Schließlich verschiebt der Intellektuelle die Betonung auf „die Situation“ des Menschen, die Erfahrung der Entfremdung. Zentrale Kategorien der politischen Ökonomie werden fallengelassen, wichtig werden „radikale Bedürfnisse“ und Fragen des „Alltagslebens“. Dennoch haben Intellektuelle und Studenten eine freisetzende Wirkung (Oktober 1956, ČSSR und Jugoslawien 1968), sie sind die Vorläufer, von dem was kommt.

  5. Arbeiterklasse.

    Mit dem Hervortreten des Marktes und anderer konkurrenzkapitalistischer Elemente geraten die Arbeiter objektiv in Widerspruch zu einem System, das ihnen die Vorherrschaft verspricht. Das Prämiensystem, die Arbeiter erhalten nur 15% aus dem Beteiligungsfonds (Gewinne), verschärft die Spaltungsbereitschaft der Klasse und schafft eine pauperisierte Schicht, im wesentlichen unqualifizierte Arbeiter, welche keine Zweit- oder Drittarbeit aufnehmen können. Qualifizierte Arbeiter geraten in Opposition, weil sie sich durch die Managerleitung übervorteilt sehen. Im November 1971 kam es aus diesem Grund zu mehrtägigen Arbeitsniederlegungen in großen Budapester Betrieben. Die Konkurrenz der Betriebe untereinander nimmt heute derartig krasse Formen an, daß der Staat „unterlegene“ Betriebe subventionieren muß.

    Die Identifikation der Arbeiterschaft mit dem System hängt von den konkreten Lebensbedingungen ab. Droht eine reale Senkung des Lebensstandards, kommt es zum Aufruhr wie in Polen.

    Politisch ist die Arbeiterklasse schwach. Ihre Interessen werden von der Gewerkschaft schlecht vertreten, es gelingt oft nicht, Tagesforderungen durchzubringen. Das heißt zugleich: die Bürokratie verfügt auch über keine straffe Kontrolle. Mit Zunahme der Konkurrenz und „Liberalisierung“ der Wirtschaft werden auch „stabile Preise“, wie Brot und Milch, in den Sog der Erhöhung geraten. In Ungarn spricht man heute von einer drohenden Preiserhöhung elementarer Lebensmittel. In Polen waren ähnliche Preiserhöhungen Anlaß für die Streiks und Massendemonstrationen in Danzig. In Ungarn zeichnet sich dies ab. Die Bürokratie verfügt derzeit über wenig „Spielraum“: entweder fördert sie weiter die „Liberalisierung“ oder sie greift auf zentralistische Maßnahmen zurück.
    Beides wird die Arbeiterschaft nicht zu besserer Arbeit verleiten, Schlendrian und passiven Widerstand beseitigen. Nicht zuletzt hängt die weitere Entwicklung von der Emanzipation der Arbeiterklasse in anderen sozialistischen Staaten ab und dem Ausgang der revolutionären Kämpfe in anderen Teilen der Welt.

Eines ist gewiß, welchen Weg die ungarische Gesellschaft auch einschlagen wird, Restauration des Kapitalismus oder politische Revolution, die Bürokratie wird keinen von beiden überleben.

(Über die ungarische Wirtschaftsreform erscheint ein eigener Artikel.)

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