Streifzüge, Heft 53
Oktober
2011

Innehalten

Das Erspüren von Boden unter den Füßen

Am Ende des fossilen Zeitalters treibt die verwaltete Gesellschaft ihren Zahlenspuk ins Extrem. Die Vorstellungen der Zukunft werden von mathematischen Funktionen dominiert, bis in die Mitte des Jahrhunderts extrapoliert, der Verlauf unserer Leben geglättet und Abweichungen unter das Gesetz der Statistik gezwungen. Die Funktionen nehmen die Gestalt von Kurven an, die einer immergleich linearen, klinisch in homogene Stückchen zerlegten Zeit man einzuschreiben sich gewöhnt hat.

Der starre Blick auf die Zukunft, dem entgeht, dass er selbst sie konstruiert, enthüllt nur das, was aus ihm selber schaut, und bestätigt in seinen eigenen Augen daher die endlose Haltbarkeit dessen, was ist. Trachteten vergangene Epochen sich als Abglanz oder höchster Spross einer glorifizierten Vergangenheit zu legitimieren und feierte sich das Bürgertum klassisch im Lichte von Erfolgen, auf die es induktiv seinen Fortschrittsglauben baute, so scheint das Kapital in seinem Endzustand Rechtfertigung nur mehr aus Künftigem und der Vermeidung von Schlimmerem zu beziehen. Die Vergangenheit wird zur Last. Nicht mehr von errungenen Siegen über Mensch und Natur ist so sehr die Rede, sondern vom Bösen, das geschah, vom noch Böseren, das über uns zu kommen droht, das abgewehrt werden muss mit jedem Mittel und dem folglich alle Vorbereitung im Hier und Jetzt zu gelten hat.

Kontrolle

Wie in einem paranoiden Zirkelschluss folgt aus der Unsicherheit der Kapital gewordenen Welt der Kontrollwahn. Die Zukunft wird in ein flirrendes Auf und Ab von Detektorausschlägen am Radar der Experten eingebannt. Man glaubt, diese Gesellschaft berechnen zu können, wo doch schon in ihren alltäglichsten Operationen das Unberechenbare, Unzurechnungsfähige sich schlagend durchsetzt.

Das kollektive Denkvermögen befindet sich im Zangengriff einer paradoxen Bewegung aus fortschreitender Kontrollgewalt, die am liebsten Menschen künstlich reproduzieren und mit Chips ausgestattet als organische Roboter und Verbraucher dem Kapital zuschieben wollte, und einer ebenso ansteigenden Verunsicherung, die freilich gerade aus der allumfassenden Kontrollsucht resultiert.

Ein tiefreichendes Prinzip sozialen Lebens ist hier offenbar am Werk, wodurch aus der für die Kapital- und Staatsepoche typischen Ordnung in Form einer starren Rasterung von Verhaltensroutinen und rigiden Umweltnormen mit fast schon naturgesetzlicher Sicherheit das genaue Gegenteil entspringt. Der Gipfelpunkt bürgerlicher Vernunft ist demgemäß zugleich der Abgrund grenzenloser radioaktiver Verseuchung, unkontrollierbarer genetischer Verschmutzung, einer nach menschlichem Ermessen immerwährenden Vermüllung der Ozeane, dauerhafter Abtragung und Abtötung der Böden, jahrhundertelanger planetarischer Turbulenz des Luftraums, ökonomischer Dauerkrise und vieler anderer Facetten eines alle Raster sprengenden zügellos lebensfeindlich Unvernünftigen, das immer mehr und noch mehr Vernunft, Voraussicht und Kontrolle erforderlich zu machen scheint.

Worin gründet diese eigenartige Vernunft, die selbst ihr Gegenteil herbeizwingt?

Als Urgrund des Kapitals gilt nicht mehr ein fassungslos all-einiger Quell universellen Lebens, wie in vorpatriarchaler Zeit, ja, nicht einmal mehr ein ungleiches Menschenpaar, das ein in den erdfernen Himmel katapultierter Vatergott aus dem zu totem Staub erklärten lebendigen Boden stampft. Urgrund des Kapitals soll sein der Abgrund, der sich in den Reagenzgläsern und Versuchskammern seiner Firmen und akademischen Weihestätten auftut und im Nu die menschliche Welt — und damit sich selbst — zum Nichts machen kann. Die Macht, Leben zu gebären und zu behüten, ist ersetzt durch die Macht zu töten und zu zerteilen. Schon bei den aus den Steppen Südrusslands stammenden, frühindoeuropäischen Kurganreitern, die in das „Alte Europa“ (Marija Gimbutas), die „Donauzivilisation“ (Harald Haarmann) der Kupferzeit eindrangen und Waffen ehrten, später bei Abrahams Opfer und, mit technologischer Hebelwirkung vielfach vergrößert, in den Arsenalen dieser Tage.

Die Macht des Lebens besteht aus sich selbst heraus. Die Macht zu töten dagegen parasitiert, sie zehrt von etwas, was sie nicht schaffen, sondern nur kontrollieren kann. Sklave ist in Wahrheit sie, nicht das, was ihr als unterworfen gilt. Je mehr sie in ihrer Kontrollsucht überheblich voranschreitet, desto eher entpuppt sie sich als abhängig, hilflos und verheerend selbstzerstörerisch. Sie versteht immer mehr durch Zerlegung und begreift deshalb immer weniger. Der Entschlüsselung des genetischen Codes und der Gene der Menschen entspricht keine Einsicht in ihr Wesen und ihre Möglichkeiten. Die populationstheoretisch präzise Ausformulierung der Darwinschen Evolutionstheorie erklärt die großen Sprünge der Entwicklung des Lebendigen nicht. Die fortgeschrittensten Theorien der Physik eignen sich zum Bau von PCs, aber nicht mehr zum Verstehen der Welt. Gibt die Physik Einsicht in den Kosmos und der Menschen Stellung darin?

Die Autonomie des Lebendigen setzt sich als eine unbegriffene, unvorhergesehene Dynamik, chaotisch also, weil konzeptionell wie lebenspraktisch ausradierte Einheit, gegen die Macht des Tötens durch. Die sich über dem schwindelerregenden Abgrund des kapitalistischen Weltenbaus entwickelnde Risikowissenschaft und Sicherheitsforschung gleicht mehrfach multiplizierten Tabus und rituellen Methoden der Zukunftsschau eine letzte Form bloß noch fiktiver Kontrolle, zu der eine Gesellschaft greift, die ihres herrschaftsbedingten Leidens nicht mehr Herr wird.

Anpassung

Die Reform, die seit den 1980er Jahren die permanente Revolution des Kapitals bezeichnet hat, wird abgelöst durch Anpassung. Wenn Form und Inhalt, der Zwang dieser Gesellschaft und das in Gesellschaft Gezwungene, immer mehr in Eins fallen, so kann es in der Tat kaum noch um Reformen gehen, also um eine Veränderung der Form, sondern muss die Veränderung des Inhalts, die Passbarmachung an eine als unveränderlich und unbeeinflussbar gedachte soziale oder natürliche Umwelt ins Zentrum rücken. So hat Roland Atzmüller unlängst die Rolle von Bildung für die Identifikation von Ich und Krise, den Zusammenfluss von menschlichem Innenraum und sozioökonomischer Außenwelt des Kapitals analysiert. Was John Holloway als „Wir sind die Krise“ in hoffnungsvoller Kritik entziffert, gerinnt in der Praxis des Kapitals zur umso schrecklicheren Affırmation: „Die Krise bist Du“.

Im Diskurs der Anpassung wird das im selben Maße wie die kapitalstaatliche Kontrolle anwachsende chaotische Meer des Unkontrollierbaren zum absoluten Äußeren erklärt und zugleich zum Innersten des Menschseins gemacht. Anpassung bezeichnet so die letzte EntäuBerung, geradezu Selbstentleibung der Menschen, von denen außer Unpässlichkeit nichts übrig zu bleiben scheint.

Der Klimawandel bietet dafür ein Beispiel. Fast im selben Atemzug gilt er als Frucht planetarer Übervölkerung, als todbringende Konsequenz eines chaotischen Naturtriebs nach Fortpflanzung, und als Feind, gegen den man Krieg führen kann im „war on climate change“, als handelte es sich um das Alien eines fernen Planeten, das verhängnisgleich vom Himmel fiel. Das Kontrollversagen kann nur von noch mehr Anpassung, noch mehr Kontrolle kompensiert werden, das ist das eigenverantwortliche Abschneiden von Restwiderständigkeit, dessen, was in diese Welt nicht passt. Wo die Gesamtheit der Menschen als ärgerlicher Gesamtwiderstand den Lauf der Welt hemmt, wird ihre Selbstausrottung Stück für Stück zur letzten Konsequenz. Wenn die Deutschen ihren Krieg nicht gewinnen, so sollen sie eben krepieren, meinte Hitler.

Dass gerade die Evolution des Lebendigen, einem vorherrschenden Missverständnis zum Trotz, nicht aus Anpassung an eine vorgegebene Umwelt erklärt werden kann, wie die Organismische Evolutionstheorie zu zeigen begonnen hat, nimmt sich da wie eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte aus. Die Ideologie der Anpassung ist ihrem biologischen Theoriehabitat entstiegen und verdoppelt den Alptraum, der das Leben in dieser Gesellschaft für viele, für andere in vielen Momenten und für alle in mancher Hinsicht ist. Die biologische Anpassung, als naturalisiertes Abziehbild des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft ursprünglich von Charles Darwin, vermittelt über den Soziologen Herbert Spencer, aus der Anschauung ihrer unentwickelten Manchester-Frühform entnommen, hat ihren Weg in die Gesellschaft zurückgefunden: Anpassung an den Klimawandel, an Peak Oil, an Unsicherheit.

Ehrbare Institutionen einer cehrlosen Gesellschaft ergehen sich in demographischen Prognosen, in immergleichen Wortschleifen werden Szenarien beschworen, die ein Bild der Ausweglosigkeit zeichnen, die eine Anpassung an das Verhängnis dieser Gesellschaftsform unausweichlich scheinen lassen und dieses Verhängnis damit in einer selbst erfüllten Prophezeihung erst zu vollstrecken trachten. In logischer Konsequenz der demographischen Zukunftsfiktion steht am Ende die Vernichtung der Ausrangierten. In logischer Konsequenz von Peak Oil steht am Ende die Abwicklung der Menschheit und der Tod der vielen Überzähligen. In logischer Konsequenz des Klimawandels steht am Ende die Umwandlung der blauen Himmelsatmosphäre in einen gelben Giftnebel, der angeblich vor weiterer Erwärmung schützen soll. So jedenfalls sind die Fluchtlinien der offiziellen Vorstellungen dieser Gesellschaft von sich selbst beschaffen.

Herren-Zeit

Die lineare, zerstückelte Uhr-Zeit dominiert andere Formen der Zeit, die sie behelligen und formieren, aber nicht auslöschen kann. Ihr Lauf selbst beschreibt in der analogen Mechanik einen Kreis, der Zyklus wird zur Metapher der linearen Zeit. Nur durch Zählen der Wiederkehr, der Rückkehr an den Ausgangspunkt, wird die Zeit als eine Abfolge gleicher Zeitstücke zuerst messbar. Und nur im Geist der bürgerlichen Vernunft setzen sich diese Zeitstücke zu einem Zeitpfeil zusammen, der linear von der Vergangenheit in eine endlose Zukunft weist. Digital ist es die Schwingung der Atome, ein zyklischer Prozess, der als maschinelle Metapher der linearen Zeit herhalten muss. Die Auslöschung aller Unterschiede, die diese konstruierte Zeit vorspiegelt und in limitierten Lebensbereichen auch ermöglicht, ruht auf der differenzierten Zyklizität und der Erschöpfung natürlicher Verläufe.

Die Uhr-Zeit bedient sich des Instruments anders gearteter Zeitformen, die dann nur mehr als Durchgangsform ihres Laufs erscheinen und nicht mehr mit dem Gewicht eigener Größe wirken. So ist der Kalender eine große Gestalt zyklischer Zeit, Einheit, Zahl und Abfolge der Monate ein tief sedimentiertes Relikt kreisläufiger Zeitfassung. Wie die Ware als Verkörperung von Geld-Wert erscheint, sich in ihr Gegenteil verkehrt, erscheint der Zyklus natürlicher Vorgänge so als Verkörperung einer Linearität.

In gleicher Art verkehrt sich in den Szenarien der permanenten Zukunftsschau, die diese Gesellschaft immer mehr zum existenznotwendigen Ritual ihrer Haltbarkeit erhebt, die Gegenwart in eine Verkörperung ihrer Zukunft. Das Reale ist dann immer noch nicht da, die Zeit des Friedens liegt immer erst vor uns. Das zeigt sich auch in den persönlichen Biographien. Das Kind gilt als kommender Lohnabhängiger und die Gesellschaft, in der es aufwächst, richtet es immer mehr aus auf das, was es nicht ist. Schon im Vorschulalter soll es Mathematik lernen, es soll sprechen können bevor es laufen kann, und am Besten hätte schon das Baby den Volksschulabschluss in der Tasche. In den USA machte neuerdings ein Buch Furore, das sich wie die systematische Heranzüchtung der ärgsten Seelenschäden ausnimmt, indem es dazu anhält, Kinder zu vermeintlichen Künstlern, Tausendsassas und Genies zu dressieren, mit Gefühllosigkeit und Härte, zum Nutzen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit.

Der Lohnabhängige wiederum gilt als kommender Pensionist und Rentner und sein Sinn und Streben, das sich in einem wuchernden Versicherungswesen und der Verschiebung von Lebensträumen (und damit des Lebens selbst) ausdrückt, zielt auf etwas, was er nicht ist. Als Pensionistin und Rentnerin schließlich lebt eins notgedrungen da, wo alles ist, und in dieser Gesellschaft daher nichts: im Jetzt.
Nach dem Tod der Idee vom Jenseits und der vor das Patriarchat zurückreichenden Idee der Wiedergeburt gibt es dann nichts mehr, worauf hin sich eins zukunftsflüchtig gesellschaftskonform ausrichten könnte, wohin sich anzupassen es vermöchte. Also revoltiert sich eins in die eigene endlose Gegenwart oder leidet darunter oder zerbricht daran.

Woher kommt die Idee der endlos linearen abstrakten Zeit?

Die Idee der Geschichte als Linearität ist vermutlich alt, aber nicht so alt, dass nicht die Idee der Geschichte als Zyklus als eine ursprüngliche kenntlich würde, bei Platon oder in der Archäologie Europas vor der Durchsetzung des Patriarchats, wo Gräber in Gestalt weiblicher Innenkörper angelegt und der Tod offenbar als Wiedereintritt in das Mysterium undifferenzierten Lebensquells konzipiert war. Wie auch immer die Entwicklung der Idee unfruchtbarer Linearität über das patriarchale Heidentum und dann Christentum zu zeichnen ist, sie erhält noch eine Zuspitzung mit der Durchsetzung des Kapitals und der es begleitenden bürgerlichen Denkweise.

Die Last der Vergangenheit scheint aus der Zukunft hereinzubrechen

Die Substanz des Kapitals ist eine Fiktion, die Idee, dass menschliche Lebenszeit sich in Diensten oder Dingen wie ein körperloser Gegenstand vom Leben selbst absondern und in Zahlenform verkörpern lässt. Das Kommando der Kapitalisten über die Arbeitskraft der Gesellschaft lässt sich reduzieren auf die Verfügung über fremde Zeit. Anders als in der Verfügung der Feudalherren über die Zeit der Bäuerinnen und Bauern ist der Effekt der kapitalistischen Verfügung über die Zeit der Lohnabhängigen eine Entäußerung ihrer Lebenszeit, die sich den Produkten der lebendigen Tätigkeit unter diesem Kommando anzuheften beginnt und sie wie mit eigenem Leben begabt, das schließlich auch die Herren selbst unter Kuratel stellt. Wie unsichtbar bildet die zum abstrakten Wert der Waren geronnene und in Gestalt des Kapitals als fremde Macht der Gesellschaft entgegentretende festgefrorene Lebenszeit der arbeitenden Klasse die Beziehung zwischen Herren und Untertanen. Fast so, John Holloway folgend, als hätte sich das Verhältnis der Herrschaft im Verlauf der sozialen Kämpfe des ausgehenden Mittelalters bis an seine äußerste Grenze gespreizt, indem es die harten Fesseln der persönlichen Verbindung gegen die Leine des stummen Zwangs fiktiv entäußerter Lebenszeit austauscht, der die arbeitende Klasse wie von selbst immer wieder unter das Kommando zwingt, rhythmisiert freilich von der lauten Gewalt des Staates, der nicht ohne die allzu persönliche Faust der Polizei auskommt.

Wo die Produkte des Lebens als vergegenständlichte Zeit gelten, verliert es selbst seine Kraft, hört auf, wenn es sich nicht mit seiner Zeit wiederverbinden kann. Das jedoch geschieht so, dass es sich dem Taktstock dieser Zeit, dem Kapital und seinem Verwertungszyklus, unterwerfen muss. Nur dann erhält es Lohn und folglich Brot. Der Abzug der Zeit vom Leben und deren künstliche, an zahlreiche Bedingungen gekoppelte und daher ständig prekäre Wiederverbindung macht beides separat und spaltet ihre organische Einheit. Die Illusion entsteht, die Zeit könnte ohne das Leben existieren, womöglich sogar ohne den Kosmos, Füllung und Fülle der Welt. Als könnte die Zeit selbst einen Lauf vollziehen und uns sich unterwerfen.

Auf Basis dieser sozial durchgesetzten und in den Strukturen der Ideologie eingelassenen Illusion, die der Illusion ähnelt, die Macht des Tötens könne in Selbstumkehrung das Leben neu erschaffen, entfaltet sich die dem Kapital eigene Zyklizität. Sie zeigt sich zuerst als Rückkehr der vorgeschossenen Summe Geld zu ihrem Ausgangspunkt und durch Vergleich entlang des Zeitpfeils Ableitung der Profitrate. Aus der Überlagerung von linearer Uhr-Zeit und bloß quantitativem, produktivem Zyklus der Akkumulation ergibt sich das Kapital als Inbegriff von Geschichte. Auf Seiten der den Wert bildenden abstrakten Arbeitszeit und der sie möglich machenden Hausarbeit, die Verwertung speisend, gibt es dagegen nur ewige Wiederkehr zum Ausgangspunkt Null, reproduktiven Zyklus, Verlängerung der proletarischen Kondition, mit Nichts als der Hände und des Kopfes Arbeitskraft zur Vermehrung einer fremden Macht über sie selbst beizutragen und zu bloßer Potenzialität zurückzukehren, als Stoff eines anderen Geistes.

So sehr sich diese Macht aufbaut, wird indes die Last der Vergangenheit erdrückend, die getane Arbeit vergangener Hände und Köpfe beschwert jede weitere Handlung anstatt sie zu erleichtern, sie engt den Lauf der Dinge ein und zieht ihn hinab in einen Zirkelschluss aus vergangenen Schrecklichkeiten, die künftige Schrecklichkeiten notwendig hervorzurufen scheinen und deren Mittelglied eine uns immer weiter auf den Pelz rückende Anpassung bildet.

Die Kollision der auseinander laufenden Zeit-Dinge, die sich gegeneinander verselbstständigen, einerseits und der Zeit-Dinge mit der Zeit der Natur und der Menschen andererseits ist vorgezeichnet. Die Zyklizität des Kapitals, die sich in den differenten Umschlagsdauern der einzelnen Kapitalien konkretisiert, verdichtet sich kollektiv und zerbricht immer wieder an der Widerständigkeit der Welt, ein Widerspruch, der sich in den Akkumulations- und Krisenzyklen niederschlägt.

Hier und Jetzt

Die Möglichkeit der linearen abstrakten Uhr-Zeit, die, wie zu sehen war, zyklische Naturzeiten als maschinelle Metapher für etwas Anderes nimmt, sagt nichts aus über ihre objektive Realität. Die Fähigkeit der Menschen, Uhren zu bauen, die alle in der gleichen Weise funktionieren, auf die Sekunde, Millisekunde und Nanosekunde genau und noch genauer, sagt etwas aus über diese Fähigkeit, aber nichts weiter.

Daraus zu schließen, die Zeit verliefe von hinten nach vorne, wie eben in einem Zeitpfeil metaphorisch, als eine nur räumlich denkbare Anordnung dargestellt -— und die Zeit ist scheinbar immer nur als Raum denkbar, jedenfalls in indoeuropäischen Sprachen Europas, ein Hinweis auf die wesentliche Verwobenheit dieser beiden Realitätsmomente — dieser Schluss ist voreilig.

Existent ist realiter, das heißt in der unmittelbaren Erfahrung, nur das Hier und das Jetzt. Alle Vergangenheit ist in diesem bewegten Zustand enthalten, der unbeholfen gesagt das Leben selbst ist, ebenso alle Zukunft. Die Vergangenheit und die Zukunft, die, personifiziert fast wie Götter, unsere Sprache und damit zwangsläufig auch unser Denken bevölkern, sind Fiktion. Diese Fiktionen verweisen auf etwas Reales, andernfalls hätten sie nicht die kollektive Lebenswelt bestimmend zur sozialen Denknorm erhoben werden können — allerdings gibt es auch andere Sprachund Denkstrukturen, die ohne Zeitbegriff im indoeuropäischen Sinn auskommen, was sie als gleichermaßen mögliche und damit reale Welten ausweist. Dieses Reale existiert jedoch immer nur in einem Punkt, nur dort kann es erfahren werden. Auch die Planung von Zukunft, die Trauer um Vergangenes findet statt in einem Hier und Jetzt, das nichts kennt außer sich selbst, ununterschiedene Gegenwärtigkeit, ewige Momentaneität im Sinn einer augenblicklichen Zeitlosigkeit.

Nicht existiert etwas außer allem, was jetzt existiert.

Freisein

Ein wahres Paradox, kann Befreiung weder individuell noch kollektiv als Bewegung hin auf eine Zukunft konzipiert werden. Sie ist wesentlich Freisein, das ist oder ist nicht und widerspricht der Idee des Fortschritts, der sich einer unerreichbaren Zukunft nähert. Sie kann freilich in Stücken geschehen, aber sie selbst existiert, sei es als ein Stück oder als ein Ganzes, nur und immer hier und jetzt. Sicherlich hat eine Befreiung bestimmte Voraussetzungen. Die können aber nicht in der Zukunft liegen, sie müssen vielmehr im Hier und Jetzt, das heißt zugleich immer wieder neu, beständig gegenwärtig eingespürt und aufgefühlt werden, ohne Ausflüchte in eine Fiktion von Gegenwart an einem anderen Ort am Zeitpfeil.

Man kann immer eine logische Erklärung der Zwangsläufigkeit der Vergangenheit konstruieren. Man könnte in hundert Jahren eine zwangsläufig schlüssige Erklärung des Verlaufs des uns Heutigen Gegenwärtigen geben. Man wäre indes ebenso gut in der Lage heute eine exakte Prognose des morgen nicht Eingetretenen zu geben — und tut dies mit nicht näher bekannter Sicherheit in unzähligen Fällen.

Das Kapital findet seinen Urgrund in der Auslöschung aller Differenz und damit allen Sinns in seiner Doppelbewegung aus der immer gleichen Rückkehr-Schleife entlang eines sich endlos erstreckenden Zeitpfeils, der aus seiner Akkumulation eine Art von Dauerspirale macht. Der Ideologie der Bedürfnisbefriedigung, die seine Verfechter ins Feld führen wollen, spricht der realen Unmöglichkeit, dieser Zeitstruktur gemäß je zufrieden zu sein, Hohn. Der Student, der seine wahren Leidenschaften unterdrückt, um dereinst, nach Abschluss seiner Ausbildung, in geruhsamer beruflicher Stellung das zu tun, was ihm wirklich Freude macht, nimmt Erich Fromm zum Beispiel, erliegt einer Illusion. Ein Milliardär könnte mit seinen finanziellen Mitteln ein Übermaß an Gutem tun und tut es eben genau deshalb nicht, weil er als Milliardär von solchem Charakter sein muss, der verhindert, dass er sein Geld altruistischen Zwecken widmet. Ein Milliardär, der keiner sein will, wäre keiner geworden.

Der Weg bestimmt das Ziel, das erreicht werden kann. Gilt der Weg als Metapher für die Linearität der abstrakten Zeit, so ist der Schritt das Bild der Zyklizität organisch differenziert gegliederter, rhythmisierter Zeit. Ebensowenig wie Sinn und Freude einer musikalischen Darbietung in ihrem Schlussakkord liegen, sollte die Konzentration auf die Bedingungen des Freiseins sich in eine Weg-Ziel-Dichotomie zerstreuen. Befreiung liegt im Verlust von Fußfesseln, nicht im Erreichen eines Ziels.

Es darf Abschied genommen werden davon, etwas erreichen zu sollen, dessen Voraussetzungen sich nicht schon vollständig, und seien sie noch so tief verborgen, im Hier und Jetzt finden. Der Macht des Hier und des Jetzt sollte der Vorzug gegeben werden gegenüber der Entleibung aller Wesenskräfte in die Fiktion einer Zukunft, die wie aus einem Schattenreich unangreifbar uns in ihren Zwang einbannt.

Zukunft ist nicht, Gegenwart alles.

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