Streifzüge, Heft 63
März
2015

Innocent Power

Oder: Die unschuldige Macht und ihre Effekte

Um die Macht zu verstehen, sollten wir zunächst ihre Effekte ins Auge fassen. Macht zerstört und unterjocht, wie wir alle wissen. Betrachten wir also die Folgen ihres destruktiven Wirkens.

Es gibt fünf Arten von Ruinen.

  • Es gibt romantische Ruinen, alte Burgen und Festungen, Tempel und Kirchen. Sie wurden zerstört vom Vergehen der Zeit, dadurch, dass sie nutzlos und unbedeutend wurden. Diese riesigen Bauwerke, aus denen die Götter geflüchtet sind, zeugen von der Bedeutungslosigkeit aristokratischer Kriegstugenden, monarchischen Ruhms, kirchlicher Autorität, Rittertum und Edelmut wie auch von Keuschheit, (selbst gewählter) Armut und Gehorsam.
  • Es gibt Trümmerfelder, von Menschen angelegte Siedlungen, die durch Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Erdbeben oder Vulkanausbrüche verwüstet wurden; sie zeigen die Zerbrechlichkeit menschlicher Entwürfe, ihre Verletzbarkeit durch anonyme Kräfte, die ohne bösen Willen sind, denen das menschliche Schicksal gleichgültig ist und die unvergleichlich größer sind als alles, was der bewusst geplante menschliche Kosmos hervorbringen kann.
  • Kriegsruinen zeugen vom ultimativen Übel: Die absichtliche, strategisch geplante Vernichtung der Zivilbevölkerungen – Guernica, Warschau, Nanking, Dresden, Hiroshima – und ihrer Lebensräume zeigt Verbrennung und Pulverisierung durch bewusste Entscheidungen, die unterschiedslose Zermalmung und Entwurzelung der Guten wie der Bösen, verübt von denen, die mit höchster Macht ausgestattet sind. Sie ist die warnende Fabel einer Pädagogik der Gewalt: Dies wird den Widerspenstigen geschehen oder jenen, die lieber auf der falschen Seite bleiben, wobei höhere Gewalt darüber entscheiden wird, was falsch ist. Dabei handelt es sich nicht einmal um eine Strafe, die aufgrund von Widerstand oder Rebellion verhängt wird; sie ist lediglich eine Sanktionierung der Tatsache, absichtlich oder unabsichtlich „Teil“ des Feindes zu sein.
  • Es gibt Ansiedlungen von Menschen, die durch industrielle und politische „Entwicklungen“ demontiert und zerstört wurden. Riesige Fabriken, Schiffswerften, Eisenbahndepots und Zechen verfallen, verrotten und bröckeln; früher einmal geschäftige Häfen, jetzt voller gespenstischer Skelette von Booten; verlassene Arbeiter-Townships mit ihren überwucherten Gemüsegärten, mit Brettern vernagelten Kneipen, planierten Gewerkschaftssälen und Stadtteilkinos; Dörfer an Hängen, von denen nur noch die moosbewachsenen Friedhöfe übrig sind; einstmals bunte Hauptstraßen ohne Geschäfte, die ins Nirgendwo führen und von streunenden Hunden bevölkert werden – sie alle werden von der unsichtbaren Flamme der Akkumulation des Kapitals verzehrt. Die Industrialisierung vernichtete das Land, die Entindustrialisierung beseitigte die Städte.
  • Schließlich gibt es noch die Ruinen, die von der zeitgenössischen Kunst geschaffen werden. Es scheint, dass diese Ruinen – zumindest in einigen Fällen – weitgehend in Abwesenheit von (und gegen) Macht entstanden sind. Doch dies wäre nur der Fall, wenn es sich lediglich um Darstellungen von Ruinen, nicht um Ruinen als solche handelte. Doch wenn dies so wäre, sollten wir an der Aufrichtigkeit und Authentizität der neu – erneut – radikalisierten, politischen Kunst zweifeln. Viele Arbeiten in dieser jüngsten Tradition verbinden dokumentarische Kraft mit selbstzerstörerischen Zweifeln an der Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und kognitiven Transparenz der gewählten Medien; sie wehren sich gegen die spektakuläre Verdinglichung durch hohe Dosen von Willkür.

Fragmente und Ruinen

Es ist wohlbekannt, dass das Zeitalter der Romantik eine ausgeprägte Vorliebe für Ruinen hatte und künstliche Readymade-Ruinen in künstlich ungeordneten, „natürlichen“ Englischen Gärten errichtete. Dies hatte mit einem neu entdeckten „Sinn für Geschichte“ und einem Gefallen an Geschichte (im Gegensatz zur Metaphysik) zu tun. Das spezifische Genre der Romantik war das Fragment, das Genre der Meisterwerke von Novalis und der Gebrüder Schlegel. Das Fragment, der Essay, der Aphorismus, die Briefe, das Tagebuch, das vermeintliche Manifest, die skizzenhaften und programmatischen „Thesen“: Dies sind die charakteristischen Formen der wegweisenden Moderne von Montaigne und Pascal über die romantischen Aufsätze von Hazlitt und Lamb bis zur Spätmoderne von Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin. Blochs Spuren und Erbschaft dieser Zeit sowie Adornos Minima Moralia nicht zu vergessen.

Das Werk von Karl Marx, von Friedrich Nietzsche und von Franz Kafka wurde uns als Wirrwarr unvollendeter und vielfach verfälschter und fälschlich vereinheitlichter, weitgehend unzuverlässiger und pulverisierter Texte überliefert. Die großen Meister der Spätmoderne haben uns ein Feld von Trümmern hinterlassen, die zum Teil als Trümmer angelegt waren – Marx muss eine Ahnung von dem Rätsel gehabt haben, das die zum Verrücktwerden komplizierten und sich überschneidenden Versionen seines Hauptwerks (mindestens vier; für die französische Ausgabe, die einige für die eigentliche halten, hat er den ersten Band des Kapitals fast vollständig umgeschrieben) für die Nachwelt darstellen sollten.

Fragmente, Palimpseste (oder in Hamanns Fall der Cento-Stil) – nichtlineare Textsammlungen sind allesamt gewissermaßen Vorwegnahmen der Ruinierung, die den Ansturm einer subjektlosen Gewalt erwarten und ihm im Vorfeld widerstehen. Widerstand gegen personale Herrschaft – vor der Entstehung des modernen Industriekapitalismus – verstand sich als eine „Befreiung“ aus Abhängigkeiten, aus der persönlichen und politischen Abhängigkeit von Königen und Feudalherren und aus der spirituellen Abhängigkeit von der Kirche. Da der Staat mit dem Adel und, in geringerem Maß, mit dem Klerus identisch war, organisierte sich die politische Gemeinschaft als Nation oder Zivilgesellschaft (die beiden stimmen in etwa überein), die dem Territorialstaat direkt entgegengesetzt war, dessen Vormachtstellung sie jedoch auf demselben Terrain anfocht. Der Dritte Stand (überwiegend das Bürgertum) erklärte sich selbst zur Nation, und genau das war er. Eine gesellschaftliche Macht ohne die Instrumente des Rechtszwangs: Das ist es, was wir als Nation oder Zivilgesellschaft oder Bürgertum bezeichnen.

Der Dritte Stand wurde nie zum Staat, wie es einst die Aristokratie und das Königtum waren; er musste sicherstellen, dass niemand in diesem Sinne zum Staat wurde, da er Bewegungsfreiheit und Handlungsspielraum brauchte. Stände oder gesellschaftliche Klassen sind formelle Angelegenheiten: Adel oder Priestertum werden ordnungsgemäß auf Menschen übertragen, und der Staat geht durch Kooptierung, Dienstalter, Erbschaft und das Erstgeburtsrecht vor; Priestertum resultiert jedoch gerade aus dem Verlust der gesellschaftlichen Klasse, dem Verzicht auf Privateigentum, Sexualität, Familie, persönliche Autonomie: Das Priestertum ist das erste Beispiel für ein Leben-in-einer-Institution, das die Kleriker streng von den Laien trennte und dessen ekklesiastische Praktiken – wie das Bekenntnis, die spirituelle Ausrichtung und die Beschäftigung mit dem Text – als exklusiver Bereich klar abgegrenzt sind.

Ritter und Kleriker sind von gesellschaftlich höher Stehenden gesalbt. Die Klasse ist es nicht. Die Entstehung einer Klasse schließt Formalien aus: Als „Nation“ oder „Zivilgesellschaft“ rühmt sie sich ihrer Tiefe, Formlosigkeit, Spontaneität und Natürlichkeit im Kontrast, und manchmal im Gegensatz, zur Vernunft. Der von seinen Wurzeln in einer freundlichen Gesellschaft von Edelmännern abstrahierte Staat – das herausragendste Beispiel hierfür ist der Hof, der sich an die Ritter der Tafelrunde anlehnt – musste das Gesetz von einem Herrschaftsinstrument in ein System von Konzepten und Vorschriften transformieren, das später für den abstrakten Herrscher selbst gehalten wurde. Dies spiegelt exakt die andere Seite subjektloser Gewalt wider: das Kapital.

Kapital und Abstraktion

Das Kapital ist eine Ansammlung von Dingen, wie der Staat eine Ansammlung von Konzepten ist.

Diese beiden Aspekte derselben Wirklichkeit haben trotz ihrer offenkundigen Unterschiede etwas gemeinsam: Sie scheinen nicht aus Personen zu bestehen. Die Namen, mit denen die offizielle Ideologie sie bezeichnet – „der Markt“ oder „der Rechtsstaat“ – suggerieren dasselbe, nämlich Unpersönlichkeit, Abstraktion. Der Kapitalismus ist nicht einfach eine Plutokratie, und der moderne Staat ist keine umherstreifende Bande von Kriegern und Schriftgelehrten. So, wie der englische Begriff „the Man“ (für Armee und Polizei, für öffentliche Ordnungskräfte; vgl. „man-of-war“, was Kriegsschiff oder Kanonenboot bedeutete) nur ein Archaismus ist, der sich unter „Kriminellen“ und in anderen subalternen Gruppen gehalten hat, so sind auch „Herrscher“ oder „die Mächtigen“ archaische Begriffe. Diese Letzteren werden als Emanationen oder Ausdrücke oder Repräsentationen „realer“ Macht angesehen. Entweder manipulieren oder arrangieren (verkaufen) sie Dinge, oder sie wenden konzeptuelle Regeln gemäß vorgeschriebener Methoden an, die beide (die Methoden ebenso wie die Regeln) auf Zusammenhang, Widerspruchsfreiheit, Stimmigkeit und Klarheit abzielen. Im einen Fall liefert das Geld, im anderen das Recht eine Sprache oder ein Medium, in dem sich die Macht – das Kapital und der Staat – ausdrücken kann.

Dieses Medium wird von außen analysiert und philosophisch vervollkommnet – die Wissenschaften der Ökonomie und der Jurisprudenz sind logische Abkömmlinge der Philosophie, bei denen die Logik beziehungsweise die Mathematik unangefochten an erster Stelle stehen –; dadurch wird das System konzeptuell gedoppelt und in die Lage versetzt, sich selbst zu kontrollieren und zu verstehen. Es gibt denkbare „transzendente“, das heißt außersystemische oder „moralische“ Ziele, wie etwa Wohlstand oder Gerechtigkeit, die das System beinhaltet; doch werden diese Ziele nicht erreicht, ist dies kein hinreichender Grund dafür, dass das System seine „Legitimität“ verlöre. Von innen betrachtet, sind Krisen oder Kriege oder Revolutionen keine „Widerlegungen“ oder „Anfechtungen“ des Systems (Ereignisse widerlegen keine Konzepte und sprechen nicht zu Dingen); sie sind einfach Aufforderungen, seine Fehler zu korrigieren. Da das Kapital und der Staat als ursprüngliche Wirklichkeiten wahrgenommen werden – was sie auch tatsächlich sind –, scheint man sie, im Unterschied zum Bourgeois oder zu den Funktionären, nicht beseitigen zu können.

„Legitimität“ ist nicht gleichbedeutend mit moralischer Rechtfertigung. „Legitimität“ tritt, wie Max Weber uns gelehrt hat, in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf, und im Unterschied zur Moral als solcher regelt sie nicht das gesamte moralische Verhalten von Individuen. Sie ist schlicht die Anerkennung einer grundlegenden Tatsache – beherrscht oder regiert zu werden –, die das von Asymmetrie und Hierarchie bestimmte kollektive Verhalten regelt. Legitimität ist Wissen. Wissen bindet Personen an Konzepte und an Dinge. Legitimität bedeutet, die herrschende Ordnung zu kennen. Selbst die Verknüpfung zwischen Personen und Konzepten oder Dingen ist kognitiver Natur, was philosophisch analysiert und interpretiert wird und werden sollte. Die Einhaltung und, falls notwendig, Veränderung von Regeln macht verantwortungsvolle Staatsbürgerschaft aus, und innerhalb der Grenzen der Legitimität gibt es einen Anreiz für die Förderung von Wissen. Je besser man die herrschende Ordnung kennt, desto besser sind die Chancen, dass die herrschende Ordnung verbessert wird, desto tiefgreifender sind die Veränderungen, die man in ihr herbeiführt, desto größer wird die Identifikation mit der herrschenden Ordnung sein. Bürger und „soziale Wesen“ sind durch ihr Wissen an die abstrakte Herrschaft gebunden. Wie jedes Wissen kann dieses aktiv sein, das heißt, es kann auf eine freie Interpretation und schrittweise Veränderung der Verhältnisse abzielen, was man in diesem Fall üblicherweise als Politik bezeichnet.

Politik als unpersönliche Gewalt

Politik wird oft als Kampf oder als Kunst dargestellt. Lassen Sie uns kurz dieses irreführende Bild betrachten. Politik kann, vor allem in „freiheitlichen Demokratien“, sehr wohl darauf abzielen, eine bestimmte Regierung durch eine andere zu ersetzen, und dies kann eine leise oder eine laute Angelegenheit sein. Es ist nicht wahr, dass die auf diese Weise bewirkten Änderungen nur oberflächlich sein können. Leben oder Tod können von ihnen abhängen. Dennoch behaupte ich – weil der grundsätzliche Charakter unpersönlicher Gewalt seit dem Beginn der Moderne nicht verändert werden konnte –, dass auch der politische Kampf kognitiver Natur ist, sobald es um das Kapital und um den Staat geht; erfolgreiche Revolutionen waren deswegen erfolgreich, weil sie etwas aufdeckten, was verborgen worden war, und weil sie die verkümmerte kognitive Beziehung zwischen Personen und Konzepten, Personen und Dingen wieder herstellten. Die überlegene Handhabung dieser Beziehung – die nur kognitiv sein kann – ist selbstverständlich eine reale Überlegenheit; Wissen ist kein Automatismus. Politik als „Kunst“ ist ein ähnlicher Fall. Eine gute Intuition, psychologisches Einfühlungsvermögen, rhetorisches Geschick und ähnliches sind bei allen menschlichen Bestrebungen hilfreich. Es gibt fähige und unfähige Führer.

Machiavellis Rat, wie man Ängste schürt und Eitelkeiten ausnutzt, ist zwar überaus raffiniert, weiß aber nichts von Legitimität, was bedeutet, dass er kein wirklich moderner Philosoph ist. Was er beschreibt, ist Zwang. Es versteht sich für ihn von selbst, dass der Machthaber immer ein Prinz ist. Für die Verhältnisse des modernen Kapitalismus ist dies ohne Bedeutung. Legitime, das heißt anerkannte und stabile politische Gewalt entspringt der Anerkennung und Erkenntnis des konzeptuellen und verdinglichten Charakters der Macht. Machiavellis Macht ist offen unmoralisch, während subjektlose Gewalt immun gegen moralische Kritik (oder Zustimmung) ist. Machiavelli beschreibt, wie Personen durch Zwang, meistens in Form von Gewalt, Macht erlangen oder behalten können. Diese Dinge sind immer noch weit verbreitet, doch der Zwang, der auf eine Auslöschung von persönlichem Einfluss abzielt, wird in seiner Reichweite und Bedeutung stark beschränkt durch die intellektuellen Erfordernisse – Recht und Markt –, mit realer Macht umzugehen, die nie ganz personal ist, weil sie immer auf Konzepte und Dinge verweist.

Dies gilt auch für scheinbar rechtlose Regime wie den NS-Staat. (Vgl. G. M. Tamás, Über Postfaschismus, in: Grundrisse 45, Frühjahr 2013, www.grundrisse.net) Sogar dort gab es, ohne in Carl Schmitts Relativismus schwelgen zu wollen, eine seltsame Art des Rechts, mit einer Spaltung zwischen dem, was Ernst Fraenkel der Einfachheit halber als „Maßnahmenstaat“ beziehungsweise „Normenstaat“ bezeichnete: Obwohl die Nazis Millionen von Menschen ihrer Bürgerrechte beraubten und zahlreiche gängige Garantien der persönlichen Sicherheit aufhoben, erbten Leute Vermögen, unterschrieben Verträge, zahlten Steuern und legten in Zivilprozessen und Strafsachen bei höheren gerichtlichen Instanzen erfolgreich Berufung ein; man bestrafte Betrug und Diebstahl, hielt sich an die Straßenverkehrsordnung, machte Gewinne, adoptierte legal Waisenkinder und ahndete erfolgreich Verstöße gegen das Urheberrecht.

Das Gesetz galt für alle Menschen, nur galten viele Menschen nicht mehr als Menschen und wurden daher vom Gesetz und damit von der Macht (von der Macht als Gewalt und von der Macht als Schutz) ausgeschlossen. Für den Rest funktionierte weiterhin die unpersönliche Gewalt auf eine zweifellos grauenvolle und angsteinflößende Weise. Die Nacht der langen Messer war eine wirksame Maßnahme, um eine Willkürherrschaft einzuführen, aber nicht wirksam genug, um auch den konzeptuellen und verdinglichten Charakter der grundlegenden kapitalistischen Ordnung abschaffen zu können, obwohl Hitler vielleicht dachte, sie wäre es. Was jedoch abgeschafft wurde, war die „Demokratie“.

Unschuldige Demokratie?

Unsere Krise ist nicht die erste. Der entscheidende Fall eines solchen wirtschaftspolitischen Aufstands fand im Europa der 1920er und 1930er Jahre statt und veranlasste manche Denker dazu, sich mit dem Wesen der „Demokratie“ zu beschäftigen, die anscheinend teils durch Selbstzerstörung zerstört worden war. Doch wie Carl Schmitt ausführte: „Es scheint also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willensbildung selbst aufzuheben. Für den radikalen Demokraten hat die Demokratie als solche einen eigenen Wert, ohne Rücksicht auf die Inhalte der Politik, die man mit Hilfe der Demokratie macht. Besteht aber Gefahr, dass die Demokratie benutzt wird, um die Demokratie zu beseitigen, so muss der radikale Demokrat sich entschließen, auch gegen die Mehrheit Demokrat zu bleiben oder aber sich selbst aufzugeben. (…) Die Situation, dass die Demokraten in der Minderheit sind, tritt doch sehr oft ein. Auch kommt es vor, dass sie aus vermeintlich demokratischen Grundsätzen für das Frauenwahlrecht eintreten und dann die Erfahrung machen, dass die Frauen in der Mehrheit nicht demokratisch wählen. Dann entwickelt sich jenes alte Programm der Volkserziehung: das Volk kann durch richtige Erziehung dahin gebracht werden, dass es seinen eigenen Willen richtig erkennt, richtig bildet und richtig äußert. (…) Die Konsequenz dieser Erziehungslehre ist die Diktatur, die Suspendierung der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie.“ (Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [1923], München und Leipzig: Duncker und Humblot, 2. Auflage 1926, S. 37)

Diese These rührt von Carl Schmitts Bereitschaft her, Rousseau ernst zu nehmen: „Demokratie“ bedeutet die Identität der Regierung mit den Regierten, das heißt die Menschen in einer Demokratie sollen sich selbst regieren, und dies ist nur durch die Gleichheit und Homogenität der politischen Gemeinschaft möglich. Schmitt war sich der historischen Implikationen bewusst: „Die Aufgabe des Parlaments besteht darin, die politische Einheit zu integrieren, d. h. die politische Einheit einer klassenmäßig, interessenmäßig, kulturell, konfessionell heterogenen Masse eines Volkes zu einer politischen Einheit immer von neuem zu bilden. Damit das Volk im Staat zur politischen Existenz kommt, ist eine bestimmte Gleichartigkeit, eine Homogenität erforderlich. (…) Das System [des bürgerlichen Rechtsstaats mit seinem Parlamentarismus] hatte den Sinn der Integration des Bürgertums in den monarchischen Staat. Diesen Sinn hat es erfüllt. Heute aber ist die Situation völlig anders geworden. Heute geht es darum, das Proletariat, eine nicht besitzende und nicht gebildete Masse, in eine politische Einheit zu integrieren. Für diese Aufgabe (…) sind heute immer noch nur die Apparate und Maschinen zur Verfügung, die jener alten Aufgabe der Integrierung des gebildeten Bürgertums dienen. Die Verfassung ist ein solcher Apparat. Daher kommt uns alles so künstlich gemacht vor, daher entsteht dieses Gefühl der Leere, das man so leicht der Weimarer Verfassung gegenüber hat.“ (Carl Schmitt, Der bürgerliche Rechtsstaat [1928], in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hrsg. von Günter Maschke, Berlin: Duncker und Humblot 1995, S. 47)

Man sollte die „Demokratie“ an sich also nicht für unschuldig halten; vielleicht ist sie es nicht, denn sie wirft die Frage nach der Macht auf, auch wenn sie diese mit der politischen Gegenrede der Tautologie beantworten würde: Diejenigen, die Macht ausüben, sind diejenigen, über die Macht ausgeübt wird. Der allgemeine Wille bedeutet, dass die politische Gemeinschaft sich notwendigerweise selbst regiert und dass daher diejenigen, die nicht regieren, folglich keine Mitglieder der Gemeinschaft sind. Staatsbürgerschaft bedeutet Macht und umgekehrt. Das heißt nicht, dass es in der Demokratie keine Macht gäbe – im Gegenteil.

In der wahren Demokratie gehört die Macht der politischen Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger, die als solche – in Gestalt des allgemeinen Willens – Macht auf individuelle Bürger ausüben, deren Opposition neutralisiert wird durch ihre fortbestehende Mitgliedschaft in der Gemeinschaft, die in Form von politischer Motivation (Patriotismus) auf sie zurückkommt. Auf diese Weise stehen sie nicht in Opposition zu einer Gruppe mächtiger Personen innerhalb ihrer eigenen Gruppe von Staatsbürgern, sondern zu Außenstehenden, zu Menschen in anderen „Gemeinschaften“. Formal betrachtet ist dies die Geburt des Nationalismus aus dem Geist der Demokratie. Freilich nur, wenn es zutrifft, dass es in einer echten Demokratie keinen Unterschied zwischen Regierenden und Regierten gibt.

So ist die „Demokratie“ ein Kandidat für die unschuldige Macht, da sie keinen „Bürgerkrieg“ zulässt, denn es kann in ihr keine wirklichen Machtkämpfe geben, da die Macht gleichmäßig verteilt ist und daher aus dem Blick gerät – und notwendigerweise nach außen gerichtet wird.

Der andere Kandidat ist selbstverständlich der „Rechtsstaat“. Der „Rechtsstaat“ erreicht nicht das, was die „Demokratie“ angeblich hervorbringt: Das Verschwinden der Macht aus einer Nation von Gleichen. Denn der „Rechtsstaat“ ist nicht dazu bestimmt, Homogenität, allgemeinen Willen und die Machtlosigkeit von Untergruppen aller Art (abgeschlossene, getrennte Gruppen) festzusetzen. Er lässt sich in Einklang bringen mit einer sehr ausgeprägten, sogar politischen Ungleichheit, und er kann der Mehrheit – wie in der Vergangenheit durchaus geschehen – politische Rechte vorenthalten. Er könnte sogar in einer Sklavenhaltergesellschaft herrschen.

Im Gegensatz zur ursprünglichen Idee der Demokratie – die in der Antike ebenfalls in der Lage war, mit Ungleichheit zu koexistieren, solange die Armen, aber Freien gelegentlich politisch dominieren konnten – verschleiert oder versteckt der „Rechtsstaat“ die Macht nicht. Er bewirkt jedoch eine radikale Veränderung in der „Person“ des Herrschers; fragt man, wer im „Rechtsstaat“ herrscht, erhält man die Odysseus’sche Antwort: „Niemand“. Derjenige, der herrscht, ist keine Person. Ist es ein Ding?

Es ist vielleicht kein „Ding“ (denn es ist ein Konzept), doch es spiegelt zweifellos eine Ordnung der Dinge wider.

Exkurs zum Subjekt

Wie ist nun das Subjekt im „Rechtsstaat“ konstruiert? „Gerade der Streit, der Interessenzusammenstoß, erzeugt die Rechtsform, den rechtlichen Überbau. Im Rechtsstreit, d. h. im Prozess treten die wirtschaftenden Subjekte bereits als Parteien, d. h. als Beteiligte an dem juristischen Überbau auf. (…) Durch den gerichtlichen Prozess sondert sich das Rechtliche vom Ökonomischen ab und tritt als selbständiges Element auf. Historisch beginnt das Recht mit dem Streit, d. h. mit der Rechtsklage; erst später erfasste es die vorhergehenden, rein ökonomischen oder praktischen Verhältnisse, die so bereits vom ersten Anfang an einen zwieschlächtigen ökonomisch-juristischen Aspekt annahmen. (…) Gleichzeitig ist das Recht im einen Aspekt die Form der äußeren autoritären Regierung, im anderen die Form der subjektiven privaten Autonomie. Im einen Fall ist das Kennzeichen des unbedingt Verpflichtenden, der unbedingten äußeren Zwangsmäßigkeit grundlegend und wesentlich, im anderen das Kennzeichen der innerhalb bestimmter Grenzen gesicherten und anerkannten Freiheiten. Das Recht tritt bald als Prinzip der gesellschaftlichen Organisation, bald als Mittel auf, damit sich die Individuen ‚in der Gesellschaft absondern‘ können. In dem einen Fall verschmilzt das Recht sozusagen ganz mit der äußeren Autorität, in dem anderen Fall setzt es sich ebenso ganz jeder es nicht anerkennenden äußeren Autorität entgegen. (…) Jeder Eigentümer und auch seine ganze Umgebung begreifen sehr gut, dass das ihm als Eigentümer zustehende Recht mit der Verpflichtung gerade so viel Gemeinsames hat, dass es dieser polar entgegengesetzt ist. (…) Das Subjekt als Träger und Adressat aller möglichen Forderungen, die Kette durch gegenseitige Forderungen miteinander verbundener Subjekte ist das grundlegende juristische Gewebe, das dem ökonomischen Gewebe, d. h. den Produktionsverhältnissen der auf Arbeitsteilung und Austausch beruhenden Gesellschaft entspricht. (…) In seiner abstraktesten und einfachsten Gestalt ist die Rechtsverpflichtung als Abglanz und Korrelat des subjektiven Rechtsanspruchs zu betrachten. (…) Die Verpflichtung tritt immer als Spiegelung und Korrelat der Berechtigung auf. Die Schuld der einen Partei ist etwas, was der anderen Partei zukommt und ihr gesichert ist. Was von der Seite des Gläubigers betrachtet Recht ist, ist für den Schuldner Verpflichtung. Die Kategorie des Rechts wird nur dort logisch vollendet, wo sie den Träger und Inhaber des Rechts in sich schließt, dessen Rechte nichts anderes sind als die ihm gegenüber bestehenden Verpflichtungen anderer.“ (Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe; aus dem Russischen von Edith Hajós, Wien und Berlin: Verlag für Literatur und Politik 1928, S. 69ff.)

Paschukanis, der das Recht als die Kehrseite des Warenfetischismus betrachtete, hatte natürlich erklärt, dass der Kommunismus eine rechtsfreie Gesellschaftsordnung sein solle, und sah in einem „proletarischen Staat“ mit einem Rechtssystem das Überleben der bürgerlichen Ordnung.

Subjektlose Macht

Als ein raffinierter alter Nazi wie Carl Schmitt den Rechtsstaat als Fälschung, ja noch dazu als jüdische Fälschung attackierte, befand man, dass er die Macht verwässere und neutralisiere (Schmitt denkt offensichlich, dass er die Macht kastriert); man meinte, dass er der willkürlichen Macht (das ist es, was der berühmte „Ausnahmezustand“ wirklich bedeutet) im Wege stehe. (Vgl. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden: Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 63) Das ist allerdings völlig absurd – nicht, weil er es nicht täte, sondern weil willkürliche Macht in der modernen Politik, die auf Warenproduktion und Äquivalenztausch beruht, immer eine Ausnahme bleibt, einschließlich der Versuche, absolute und uneingeschränkte Autorität zu erlangen, die im 20. Jahrhundert in verschiedenen Formen unternommen wurden. Da „Legitimität“ Wissen ist, ist das Recht ein konzeptuelles System, das sich auf Handlungen zwischen Menschen und Interaktionen zwischen Menschen und Institutionen und Interessengruppen bezieht, und Subjekte werden sowohl als Träger wie auch als Resultat solcher Handlungen betrachtet (und tatsächlich konstituiert). Da die legitimen Vertreter des Staats (Beamte) gehorchen und das Gesetz anwenden sollen, und da ihre Anordnungen befolgt und von Bürgern ausgeführt werden, die dem Recht unterstehen und nicht den Personen, die zur Ausübung von Macht befugt sind – welche allein dadurch, dass sie das Gesetz anwenden, keine gesellschaftlichen Privilegien genießen –, ist Macht wirklich subjektlos. Widerstand ist daher ipso facto illegal. Jede Person ist einer kognitiven (Legitimität) und konzeptuellen (Legalität) Ordnung unterworfen, die Gegenstand von Interpretationen und damit von Kontroversen und Debatten ist; doch sie kann nicht umgestürzt werden, weil es sich nicht um eine Macht handelt, die mit einer als ein Privileg geerbten und als Tradition aufrechterhaltenen Autoritätsstruktur ausgestattet ist.

Die Opposition gegen ein solches System kann, philosophisch betrachtet, zweierlei Formen annehmen und wird üblicherweise als Abneigung gegen den „Liberalismus“ formuliert. Die eine Form ist das Bestreben, wie im Faschismus die lebende – körperliche, emotionale und kämpferische (kriegerische) – Persönlichkeit zu rehabilitieren. Die andere Form ist emanzipatorisch und bleibt daher ebenso philosophisch wie das „Staatsrecht“ selbst; daher misstrauen ihr alle, deren Verzweiflung sich ebenso gegen das Kognitive und Konzeptuelle wie gegen die Macht selbst richtet, die im Fall des „Rechtsstaats“ durchaus kognitiv und konzeptuell ist. In den besten revolutionären Schriften der jüngeren Zeit, die alle aus demselben französischen ultraradikalen Milieu (Tiqqun, Unsichtbares Komitee) stammen, sind die philosophischen Stigmata – trotz eines manchmal irreführenden äußeren Anscheins – offenkundig. Die Parti imaginaire hat sehr gut verstanden, dass die Reaktion auf die demokratische Homogenität und die zunehmend abstrakte subjektlose Gewalt (deren Bindungen an die politische Wirklichkeit von städtischen oder kommunalen Entscheidungsprozessen und wechselseitigen hermeneutischen Bemühungen abgerissen sind) der Bürgerkrieg ist, eine permanente Revolution von niedriger Intensität. Der Bürgerkrieg ist per definitionem konzeptuell.

Die Doppelmacht von Kapital und Recht kann nicht – wie das bodenlose Versagen aller Spielarten des traditionellen Sozialismus gezeigt hat – durch eine konkurrierende Machtübernahme gebrochen werden, die zwar den Staat übernimmt und Zwang ausübt (und wie!), jedoch dessen wesentliche, gänzlich abstrakte (nicht verborgene) Struktur intakt lässt. Nur der Bürgerkrieg, sagt die Parti imaginaire, stellt durch eine philosophische Kritik die Dimension des Politischen wieder her und damit eine Staatsbürgerschaft ohne Beziehung zum Staat [im engl. Original: citizenship unrelated to the state] (einer untergeordneten Machtstruktur, die dem Recht und dem Kapital dient). Eine Staatsbürgerschaft, die mit Kritik einhergeht und die der Legitimität und Legalität ihre Anerkennung entzieht, ist die einzige lohnenswerte Konkurrenz zum „Rechtsstaats“, weil sie eine vergleichbare konzeptuelle und physische Kraft besitzt. Es ist eine neue „Staatsbürgerschaft“, die auf Ruinen gegründet ist.

Eine Macht, die durch Homogenität und Symmetrie oder durch totale Subjektlosigkeit und Konzeptualität unschuldig gemacht wird, ist für eine moralische Kritik an Erniedrigung und Schmerz undurchdringlich. Die Auswirkungen von unschuldiger Macht können Knechtschaft und Erniedrigung oder willkürlich zugemutetes Elend sein, aber sie können keine willentlichen Absichten der Macht sein, da konzeptuelle Systeme keinen Willen haben. Die philosophische Kritik der Macht muss ihrer Unschuld Rechnung tragen.

Wir stehen vor der Wahl, die Gegenmacht unschuldig zu machen oder ganz auf Macht zu verzichten. Weder das eine noch das andere erscheint befriedigend. Die moralische Rechtfertigung von Gegenmacht, das heißt, die konzeptuelle Praxis der Legitimation nachzuahmen, ist untauglich und selbstzerstörerisch. Dem Zelebrieren von reiner Aktion fehlt es an konzeptueller Stärke, daher ist es durch den Charakter des Spätkapitalismus zum Scheitern verurteilt. In der Kunst und in der Politik Ruinen zu schaffen, ist möglicherweise eine bloße Replik, ein Simulakrum der kreativ zerstörerischen Wirkung des Kapitalismus.

Es gibt viel Hass – aber wie nützlich kann es sein, kognitive und konzeptuelle Strukturen zu hassen? Der Bürgerkrieg sollte sokratisch sein, wenn er gewonnen werden soll. Die höchsten politischen Formen von Bourgeoisie und Proletariat sind zerstört. Das Kapital und das Recht treten in ihrer reinsten Form auf. Wenn man den Widerstand atavistisch auf eine neue Religion im Sinne einer revolutionären oder konterrevolutionären Wiederherstellung des Glaubens an eine unreflektierte, hermeneutisch naive Legitimität reduziert, wird er vereinnahmt werden. Die konzeptuelle Kraft der Rebellen sollte ebenso groß sein wie die der unschuldigen Macht, eigensinnig verteidigt von Männern und Frauen, die nach Freiheit streben.

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