FORVM, No. 225
November
1972

Kann die neue Volksfront siegen?

Zum gemeinsamen Programm der französischen Sozialisten und Kommunisten

In der Vergangenheit hatten die Parteien, die sich in Frankreich zum Sozialismus bekennen, zweierlei Programme: ein Maximalprogramm und ein Minimalprogramm.

Das erste entsprach völlig den Voraussagen und Arbeitshypothesen, wie Marx und seine Nachfolger sie formuliert hatten. Alle Produktionsmittel sollten vergesellschaftet und die Macht den Arbeitern übergeben werden. Das Ziel war, in den Worten des Programms der SFIO (Sozialistische Partei Frankreichs), „eine kollektive oder kommunistische Gesellschaft aufzubauen“.

Das Minimalprogramm war viel bescheidener. Hier handelte es sich im wesentlichen um die Verteidigung der Demokratie, eine Reihe von unmittelbaren Forderungen und bestimmte Reformen, darunter die Verstaatlichung von einigen Wirtschaftssektoren. So gedachte man schrittweise die Domäne des Staates zu erweitern, ohne die Wähler abzuschrecken.

Die gemeinsame Erklärung, die am 21. Dezember 1966 von François Mitterand namens der demokratischen Linken und von Waldeck Rochet namens der Kommunistischen Partei Frankreichs der Presse übergeben wurde, ist ein Musterbeispiel dafür. Dort wird gefordert, an die Stelle „des Vorrangs des Atomwettrüstens den grundsätzlichen Vorrang des Rechtes auf Wohnung, der Volksgesundheit und vor allem der Bildung und der wissenschaftlichen Forschung zu setzen, die Löhne, Gehälter und Pensionen zu erhöhen und Gesetze zur Sicherung der sozialen Wohlfahrt und zur Senkung des Pensionsalters zu erlassen“. Gefordert werden ferner eine „Bodenbewirtschaftungspolitik, die den menschlichen Bedürfnissen und den regionalen Gegebenheiten Rechnung trägt“, und eine „Modernisierung der Landwirtschaft, die der Bauernbevölkerung bessere Lebensbedingungen und gerechte Vergütung ihrer Arbeit sichert“. Schließlich wird die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und der Kommerzbanken verlangt.

Das gemeinsame Programm, auf das die beiden Parteien sich 1972 geeinigt haben, ist ganz anders beschaffen. Auf der Tagesordnung steht heute nicht mehr eine Korrektur der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern der Übergang zu einer neuen, die noch nicht gänzlich sozialistisch sei, aber der Macht der heute herrschenden Klasse ein Ende setzen soll. Gefordert wird die Verstaatlichung der Firmen Suez, Rothschild, Paribas, Union parisienne, Rhône-Poulenc, Peéchiney, Saint-Gobain, Wendel-Thomas, Dassault, Schneider, ITT, Compagnie Générale d’Electricité. Das sind Firmen, deren Jahresumsatz zusammengenommen 120 Milliarden Francs ausmacht, das würde faktisch dem französischen Kapitalismus den Todesstoß versetzen.

Außerdem sollen die Aktionäre nur in beschränktem Ausmaß entschädigt werden, die Aufsichtsräte der verstaatlichten Unternehmen zur Mehrheit aus gewählten Arbeitervertretern bestehen; die Arbeiter und Angestellten sollen die Kontrolle über Arbeitsbedingungen, Entlassungen und Akkordsätze haben, die Gewerkschaften ein Vetorecht bei bestimmten Entscheidungen der Betriebsführung — nimmt man dies alles zusammen, dann muß man zugeben, daß es sich diesmal um ein wahrhaft revolutionäres Programm handelt.

Abgesehen von diesen Hauptzielen gibt es noch eine Reihe von Punkten, die sich wesentlich von den früheren Programmen der Linken unterscheiden. Es sei notwendig, heißt es hier, die ganze Logik der industriellen Entwicklung in Frage zu stellen, die Unterschiede zwischen den Gehältern zu reduzieren, eine Ämterrotation einzuführen. Man will Kontrolle über die Bodennutzung gewinnen, indem man ein Vorkaufsrecht für die Gemeinden fordert. Man scheut nicht mehr davor zurück, das heilige Eigentum der Bauern anzutasten, und tritt für kollektive Bodennutzung ein. Das Programm sieht die Dezentralisierung der Staatsmacht und die Schaffung von Regionen mit gewählten Volksvertretungen und Ausführungsorganen vor.

Diese Ideen sind nicht alle ganz neu. Als 1966 die FDGS (Föderation der demokratischen und sozialistischen Linken) und die KPF ihre gemeinsame Erklärung veröffentlichten, wurden diese Ideen von der „neuen Linken“ und vor allem von der PSU (Unabhängigen Sozialistischen Partei) vertreten. Es hat fünf Jahre gedauert, bis diese Ideen dort eingedrungen sind, wo man ihnen ablehnend gegenüberstand: in die beiden großen Parteien, die nach wie vor die Linke dominieren. Das ist zweifellos das Ergebnis von Agitation und Propaganda der Neuen Linken und der PSU, vor allem aber die Folge des Mai 1968, der alle Gegebenheiten der französischen Politik verändert hat.

Diese Veränderungen sind offensichtlich in der Sozialistischen Partei, der KPF, der CFDT (dem früheren christlichen Gewerkschaftsbund), der CGT (dem kommunistisch beeinflußten Gewerkschaftsverband). Aber auch bei der Regierungsmehrheit gab es nicht minder wichtige echte Veränderungen. De Gaulle überlebte seinen Pyrrhussieg vom Juni 1968 um einige Monate, dann zeigten sich neue Orientierungen. Nicht zufällig nahm sich Pompidou nach seinem Wahlsieg Chaban-Delmas zum Premierminister, dieser nach sich Simon Nora und Roger Delors als Berater. Napoléon III. begünstigte den industriellen Wagemut ehemaliger Sozialisten (l.P. die Saint-Simonisten Pèreore, Enfantin, Dumont, Talabot); ähnlich läßt Pompidou freie Hand gewissen Ex-Marxisten, Ex-Sozialisten, Ex-Mendèsisten; nicht zufrieden mit hohen Verwaltungsposten, dringen diese bereits in die wichtigsten Hochburgen des Privatkapitals ein.

Der Mai 1968 hat die konservative Mehrheit gezwungen, eine Politik zu machen, die sich als sozial, modernistisch, reformistisch versteht. Zu den bonapartistischen Zügen seines Begründers und den louis-philippischen Zügen seines Nachfolgers fügte das System heute etwas, was aussieht wie Sozialradikalismus oder, wenn man will, Sozialtechnokratismus.

Man kann und muß die Fähigkeit des Regimes anzweifeln, auf dem Weg der Reformen sehr weit zu gehen. Doch das liegt mehr an der Trägheit der Strukturen und der Herrschaft der Interessen (der „Monopole“, aber auch der kleinen Unternehmer), und nicht so sehr am Willen der führenden Männer. Jede andere politische Koalition, die Kapitalismus und Marktwirtschaft akzeptiert, würde auf die gleichen Hindernisse stoßen. Darum gibt es keine zentristische oder „reformistische“ Alternative zum Neogaullismus, sondern nur Nuancen zwischen streitenden Cliquen. Jean-Jacques Servant-Schreiber mag über seine alten Freunde Nora, Chevrillon und Michel Albert herfallen, weil sie seinem Wochenblatt mit einem eigenen Konkurrenz machen. Aber er verdankt eben diesen Männern die meisten Punkte seines Programms.

Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Entweder verzichtet man auf eine Alternative zum herrschenden System, oder man stellt ihm eine sozialistische Alternative entgegen. Das ist die Logik, der die Unterzeichner des gemeinsamen Regierungsprogramms der Linken gefolgt sind.

Die Rechten sagen: „Das richtet sich nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern gegen die ganze französische Wirtschaft, die einen solchen Schlag nicht aushalten würde. Die Sparer würden ruiniert, ausländische Investitionen abgeschreckt, das Geld entwertet, die verstaatlichte Industrie unrentabel.“

Die extremen Linken erklären: „Wir trauen den sozialistischen und kommunistischen Führern nicht zu, ein solches Programm zu verwirklichen. Außerdem leidet es unter vielen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen. Nur die Aktion der Massen kann der Herrschaft des Kapitals ein Ende setzen.“

Rechte wie Linke setzen hinzu: „Übrigens ist es unwahrscheinlich, daß die Linksparteien für solche Ziele eine Mehrheit gewinnen. Das ist kein ernsthaftes Programm.“

Es wäre müßig, zu bestreiten: die Inbesitznahme der wirtschaftlichen Kommandohöhen würde vielfältige Störungen mit sich bringen, allein schon wegen des Widerstands jener, die von der Nationalisierung betroffen wären. Aber das Hauptproblem ist ein internationales. Die meisten für Sozialisierung vorgesehenen Unternehmen sind mit dem Weltmarkt verbunden. Sie haben internationale Beteiligungen (z.B. ITT, Bull, Jeumond-Schneider) oder sie haben große Tochterbetriebe im Ausland (J. B. Rhône-Poulenc, Saint-Gobain). Die Durchführung des Programms der Linken hätte also Auswirkungen jenseits der Grenzen, namentlich in Europa. Diese Auswirkungen würden jedoch keine einseitigen sein. Es gäbe gewiß feindselige Reaktionen, aber auch Effekte des Mitgerissenwerdens und wahrscheinlich in einigen Ländern die Chance — andere würden sagen, die „Gefahr“ — einer Ansteckung. Viel würde davon abhängen, ob der neue nationalisierte Sektor funktioniert.

Denn die Nationalisierung als solche schreckt in Wirklichkeit nur die Großaktionäre und die Manager der alten Schule. Die modernen Technokraten sind bereit, im Rahmen eines öffentlichen Unternehmens ebenso gut zu arbeiten wie im Rahmen eines privaten — unter einer Bedingung: Respektierung der von ihnen als die wirksamsten angesehenen kapitalistischen Mechanismen. In diesem Geist werden z.B. die großen verstaatlichten Banken geführt. Sie konkurrieren mit den privaten Instituten wie untereinander; sie versuchen die ertragreichsten Anlagen zu tätigen (auch durch Teilnahme an der Bodenspekulation).

Sollen auch die zukünftigen nationalisierten Unternehmen in diesem Geiste geführt werden? Die Autoren des gemeinsamen Programms antworten: es muß eine neue Logik der Entwicklung gefunden werden. Aber sie sagen darüber nichts Konkretes. Die Herausarbeitung dieser anderen Logik ist nur in geringem Maß von ihrem guten oder bösen Willen abhängig. Was geschieht, wenn die Massen der Lohnabhängigen, trotz den Maßnahmen zu ihren Gunsten, nicht wirklich an der Verwaltung teilnehmen? (Nicht bloß an der Leitung der Betriebe, sondern auch auf den verschiedenen Ebenen der Planung.) Dann wird die Verwaltung zwangsläufig von technokratischen Imperativen beherrscht sein. Dies ist das von der extremen Linken aufgeworfene Problem.

Für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung. Die Teilnahme der Massen ist stets nur relativ, umfaßt nicht alle und ist vielfachen Schwankungen unterworfen. Das Ziel der Selbstverwaltung kann nur das Ergebnis eines langen Kampfes sein; in diesem gibt es widersprüchliche Interessen und Bestrebungen. Aufschlußreich ist hier das jugoslawische Experiment wie auch die Betrachtung der jüngsten sozialen Kämpfe in Frankreich und Italien (ich meine die wirklichen Kämpfe, nicht die Romane, die man darüber geschrieben hat).

Man kann dieser Entwicklung optimistisch oder pessimistisch gegenüberstehen, eines ist sicher: die Teilnahme der Massen kann nicht künstlich abgetrennt werden von den verschiedenen Formen politischer Aktion (einschließlich der Wahlformen). Ohne ausreichenden Druck der Volksmassen wird das gemeinsame Programm nie durchgesetzt. Das Programm soll die Mobilisierung der Volksmassen unterstützen, z.B. dadurch, daß in jedem Betrieb schon jetzt die Formen der künftigen Sozialisierung vorbereitet werden. Jedenfalls brauchen die Massen eine glaubwürdige politische Lösung, ohne die ihr Kampf in eine Sackgasse führt, wie im Mai 1968.

Wäre ein Sieg der sozialistisch-kommunistischen Koalition eine glaubwürdige Lösung? Seltsamerweise zweifelt man daran auf der Linken mehr als auf der Rechten. Die großen Parteien denken oft nur an die unmittelbaren Wahlergebnisse, in den kleinen Parteien hingegen denkt man allzusehr in Begriffen des „langen Marsches“. In Wirklichkeit ist das System viel zerbrechlicher, als es scheint. Zwar ist die politische Gruppe, auf der es beruht, viel homogener als ihre Vorläuferinnen, aber sie ist weit weniger empfindlich für die Reaktionen der Bevölkerung: diese Reaktionen lassen sich einigermaßen durch das parlamentarische System herausfinden; aber der Gaullismus hat noch keinen Ersatz für das parlamentarische System gefunden, sondern bloß dessen Niedergang beschleunigt. Die Kurzsichtigkeit des Neogaullismus wurde beim jüngsten Referendum offenkundig.

In der französischen Bevölkerung kommt es zu bedeutenden Veränderungen. Ihre Auswirkungen sind schwer vorhersehbar. Es wäre absurd, von „Radikalisierung der Massen“ oder „allgemeiner Verschärfung der Kämpfe“ zu sprechen. Aber man kommt wahrscheinlich der Wirklichkeit sehr nahe, wenn man von Unbehagen, starker Unsicherheit und unbestreitbarem Wunsch nach Veränderung spricht. Das alles kann lange Zeit in Schwebe bleiben. Aber bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten könnte es sich auch plötzlich auswirken und in eine große politische Krise münden.

Zu einer solchen Krise liefert das gemeinsame sozialistisch-kommunistische Programm ein neues Element: von nun an gibt es zwei politische Konzeptionen, zwei Wahlmöglichkeiten, zwei Systeme. Man kann zu diesem Programm eine kritische Haltung einnehmen, man kann es verbessern, modifizieren, vervollständigen, übertreffen. Aber es ist zu spät — oder zu früh —, ihm ein anderes Programm entgegenzusetzen. Die Massen interessieren sich für Programme nur insoweit, als sie eine Chance der Verwirklichung zu haben scheinen.

In diesem Rahmen und in dieser Richtung muß man arbeiten, wenn man in Frankreich und Europa etwas verändern will.

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